Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 I 249



90 I 249

37. Auszug aus dem Urteil vom 28. Oktober 1964 i.S. X. gegen Obergericht
des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 88 OG.

    Aktuelles Interesse an der Beschwerdeführung. Verwirkung des
Beschwerderechts durch vorbehaltlose Erfüllung des angefochtenen
Entscheides.

Sachverhalt

    Das Obergericht des Kantons Aargau hat Fürsprecher X. in einem
gegen den von ihm verteidigten Angeklagten Y. ergangenen Urteil vom
26. Mai 1964 eine Ordnungsbusse von Fr. 80.- auferlegt. Das schriftlich
begründete Urteil, das sich in den Erwägungen auch über die Ordnungsbusse
ausspricht, wurde Fürsprecher X. am 9. Juli 1964 zugestellt. Dem Urteil
lag ein Einzahlungsschein der Obergerichtskasse bei mit der Aufforderung,
die Ordnungsbusse innert zehn Tagen einzuzahlen. Fürsprecher X. zahlte
den Betrag am 14. Juli 1964 ein, ohne einen Vorbehalt anzubringen.

    Fürsprecher X. hat am 5. August 1964 gegen die Auferlegung der
Ordnungsbusse staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
und Art. 5 Üb. Best. BV erhoben. Das Bundesgericht ist nach Einholung der
Vernehmlassung des Obergerichts und einer Replik des Beschwerdeführers
auf die Beschwerde nicht eingetreten.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Laut Art. 88 OG kommt das Recht zur Beschwerdeführung Bürgern und
Korporationen "bezüglich solcher Rechtsverletzungen zu, die sie durch
allgemein verbindliche oder sie persönlich treffende Erlasse oder
Verfügungen erlitten haben". Abgesehen von hier nicht zutreffenden
Ausnahmen (vgl. BGE 87 I 245 mit Verweisungen) setzt diese Bestimmung
voraus, dass die Rechtsverletzung zur Zeit der Beschwerdeerhebung
noch andauere (Aktualität der Verletzung) und dass ein praktisches
Interesse an der Beschwerdeführung bestehe. Das aktuelle Interesse
fehlt nach der Rechtsprechung insbesondere, wenn der angefochtene
Hoheitsakt bereits vollstreckt ist (nicht veröffentlichtes Urteil
vom 29. März 1962 i.S. Ring, Erw. 4), oder wenn der Beschwerdeführer
die angefochtene Entscheidung anerkannt hat. Eine Anerkennung liegt
namentlich in der vorbehaltlosen Erfüllung des angefochtenen Urteils,
sofern der Beschwerdeführer dabei nicht unter Zwang oder in entschuldbarem
Irrtum handelt (nicht veröffentlichtes Urteil vom 20. Dezember 1961
i.S. Kistler und Zahner, Erw. 2; BIRCHMEIER, Handbuch, S. 376 Ziff. 4 b
mit Verweisungen).

    Der Beschwerdeführer zahlte die ihm auferlegte Ordnungsbusse in
Kenntnis der Begründung am 14. Juli 1964 vorbehaltlos. Er stand dabei
im Gegensatz zu dem in BGE 53 I 354 beurteilten Fall nicht unter
Zwang. Die Obergerichtskasse hatte ihn "ersucht", den Betrag innert
zehn Tagen einzuzahlen. Falls der Beschwerdeführer die Ordnungsbusse
für ungerechtfertigt hielt und er sie mit staatsrechtlicher Beschwerde
anzufechten gedachte, so konnte er diese Zahlungsaufforderung unbeachtet
lassen, ohne Rechtsnachteile befürchten zu müssen. Es konnte vom
rechtskundigen Beschwerdeführer erwartet und verlangt werden, dass er
die Ordnungsbusse nur unter einem entsprechenden Vorbehalt leiste,
wenn er verhüten wollte, dass die Zahlung als Anerkennung der Busse
aufgefasst werde. Wohl bemerkt der Beschwerdeführer in der Replik, die
Zahlung unter Vorbehalt wäre ihm als "Queruliererei" ausgelegt worden,
weil es sich um einen (kantonal) endgültigen Bussenentscheid gehandelt
habe. Da dieser Einwand in der Beschwerdeschrift nicht erhoben worden
ist und die nach Ablauf der Beschwerdefrist erstattete Replik keine neuen
Vorbringen enthalten darf (BGE 36 I 533, 66 I 15, 81 I 102, 85 I 44 Erw. 1
a.E.), kann er nicht gehört werden. Abgesehen davon geht er fehl, stellt
doch der Hinweis auf die beabsichtigte Erhebung einer staatsrechtlichen
Beschwerde eine von jedermann hinzunehmende Begründung für die Anbringung
eines Vorbehaltes dar.

    In BGE 53 I 354 wurde das Bestehen eines aktuellen Interesses an
der Beschwerdeführung trotz Leistung der Busse damit begründet, dass
die rechtlichen Wirkungen des Strafurteils mit dem Vollzug des Straf-
und Kostendispositivs nicht abgeschlossen sind, sondern insofern
weiterdauern, als die Bestrafung den Leumund beeinflusst und sie im
Rückfalle strafschärfend ins Gewicht fällt. Das Bundesgericht hat diese
Auswirkungen indessen nur berücksichtigen können, weil die Zahlung der
Busse unter Zwang erfolgt war und sie darum keine Anerkennung des Urteils
in sich schloss. Diese Voraussetzung trifft hier nach dem Gesagten
nicht zu. Zwar kann auch eine Ordnungsbusse, wenn sie in weiteren Kreisen
bekannt wird, dem Ruf eines Anwaltes abträglich sein und ihn bei späteren
Disziplinarmassnahmen belasten. Diese Folge hat der Beschwerdeführer
jedoch durch die weder unter Zwang noch unter Vorbehalt erfolgte Zahlung
der Busse in Kauf genommen. Dass er die Busse aus einem entschuldbaren
Irrtum entrichtet habe, behauptet er nicht. Gemäss der Rechtsprechung
fehlt ihm mithin die Befugnis zur Erhebung der Beschwerde, weshalb nicht
darauf einzutreten ist.