Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 I 1



90 I 1

1. Urteil vom 19. Februar 1964 i.S. Erben Berchtold gegen Gemeinderat
von Strengelbach und Regierungsrat des Kantons Aargau. Regeste

    Art. 4 BV.

    Verbot eines Kiosks an Strassenkreuzung. Begriff des Störers im
Verkehrspolizeirecht (Erw. 1a). Inwiefern dürfen verkehrspolizeiliche
Anordnungen in tatsächlicher Hinsicht auf Erfahrungssätze gestützt werden?
(Erw. 1b).

Sachverhalt

    A.- Am Kreuzplatz in Strengelbach münden die Ortsverbindungsstrasse
OV 143 (Schleipfenstrasse) von Rothrist-Wissberg her von Westen und die
Ortsverbindungsstrasse von Brittnau her von Osten in die Landstrasse Tz,
die von Zofingen nach Vordemwald-Langenthal führt und der als Entlastung
der Zürich-Bern-Strasse eine steigende Bedeutung zukommt. Nördlich
der Kreuzung befindet sich zwischen der Landstrasse Tz und der
Schleipfenstrasse das Wohn- und Geschäftshaus der Erben Berchtold, das von
beiden Strassen einen gewissen Abstand einhält. Die Erben beabsichtigen,
an der Südwand des Hauses auf dem Vorplatz gegen die Landstrasse einen
4 m tiefen und 3,5 m breiten Kioskanbau zu erstellen.

    B.- Auf Grund einer Einsprache der Baudirektion des Kantons Aargau
lehnte der Gemeinderat von Strengelbach das Baugesuch der Erben Berchtold
ab. Die Gesuchsteller erhoben dagegen Beschwerde. Der Regierungsrat hat
diese am 6. September 1963 abgewiesen. Er hat dazu ausgeführt:

    Der Kiosk würde in rund 6,5 m Abstand von der Landstrasse an
die Strassenkreuzung zu stehen kommen. Es sei damit zu rechnen, dass
zahlreiche Fahrzeugführer Kunden des Kiosks würden. Erfahrungsgemäss
würden viele von ihnen am Rande der Landstrasse anhalten, also kaum 10
m vor der Kreuzung, was den Verkehr in nicht zu unterschätzendem Masse
gefährden würde. Wohl beabsichtigten die Gesuchsteller, auf dem Hofraum
ihres Hauses der Kundschaft Abstellraum zur Verfügung zu stellen, doch
nehme sich der Fahrzeugführer, der in einem Kiosk rasch etwas kaufen
wolle, im allgemeinen nicht die Mühe, einen Parkplatz aufzusuchen. Diese
Erfahrung lasse sich nicht mit dem Hinweis auf das Verbot entkräften, ein
Motorfahrzeug in unmittelbarer Nähe einer Strassenkreuzung anzuhalten;
denn es zeige sich immer wieder, wie leicht solche Verbote übertreten
würden, wenn ein besonderer Anreiz hierzu bestehe. Abgesehen davon würde
auch die Benutzung der Parkplätze auf dem Grundstück der Gesuchsteller
den Verkehr gefährden, weil die von Zofingen her kommenden Kunden in
den meisten Fällen wieder in die Landstrasse ausfahren würden, und zwar
unmittelbar in die Kreuzung hinein. Wohl könnten die Lenker durch eine
Abschrankung verhalten werden, weiter westlich über die Schleipfenstrasse
auszufahren. Eine solche Vorkehrung hätte aber nur zur Folge, dass die
motorisierte Kundschaft wegen des ihr aufgezwungenen Umwegs noch weniger
geneigt wäre, die Parkplätze zu benutzen.

    Der Ansicht, um die befürchtete Verkehrsgefährdung abzuwenden, habe die
Polizei sich an den fehlbaren Fahrer und nicht an den Eigentümer des Kiosks
zu halten, könne nicht beigetreten werden. Wenn die Bauherrschaft in der
Nähe der vielbefahrenen Landstrasse einen Kiosk aufstelle und betreibe,
so nehme sie es mindestens in Kauf, dass ein Teil der Kunden sich aus
Bequemlichkeit nicht an die bestehenden Abstellbeschränkungen halten
werde; sie überschreite damit die Schranken, welche die Sicherheit des
öffentlichen Verkehrs der freien Verfügung über das Eigentum und der freien
Handelstätigkeit setze. § 60 des aargauischen Gesetzes über den Strassen-,
Wasser- und Hochbau (BG) vom 23. März 1859 sei daher auch dort anwendbar,
wo bei lückenloser Befolgung anderer verkehrspolizeilicher Vorschriften
nicht mit einer Gefährdung des öffentlichen Verkehrs zu rechnen wäre.

    Der Entscheid des Gemeinderates verstosse nicht gegen die
Rechtsgleichheit. Es sei zwar richtig, dass das benachbarte Postgebäude
näher an der Landstrasse liege als das beim Kiosk der Fall sein würde,
doch stehe dieser näher bei der Kreuzung als die Post. Der Hinweis auf
verschiedene Kioske in anderen Gemeinden gehe schon darum fehl, weil
deren Errichtung nicht vom Gemeinderat Strengelbach bewilligt worden sei;
auch lägen die Verkehrsverhältnisse in jenen Fällen teilweise wesentlich
anders als hier.

    C.- Die Erben Berchtold führen staatsrechtliche Beschwerde wegen
Verletzung des Art. 4 BV mit dem Antrag, es sei der Entscheid des
Regierungsrates aufzuheben und der Gemeinderat von Strengelbach anzuweisen,
die nachgesuchte Baubewilligung zu erteilen.

    D.- Der Regierungsrat schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Der
Gemeinderat von Strengelbach hat sich nicht vernehmen lassen.

    E.- Eine Instruktionskommission des Bundesgerichts hat in Strengelbach
einen Augenschein vorgenommen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- § 60 BG untersagt alle Vorrichtungen, die "den Verkehr und die
Sicherheit auf öffentlichen Strassen" gefährden. Die Beschwerdeführer
bestreiten mit Recht nicht, dass diese Vorschrift als solche
verfassungsmässig ist; sie erblicken vielmehr Willkür darin, dass der
Regierungsrat die Bestimmung unter Missachtung des Grundsatzes, wonach
die Polizei sich an den Störer zu halten hat, auf den vorliegenden Fall
angewendet habe und dass er seinen Entscheid in tatbeständlicher Hinsicht
auf blosse Vermutungen statt auf Beweise stütze.

    a) Der Kioskanbau, den die Beschwerdeführer erstellen möchten,
wahrt einen Abstand von über 6 m vom Strassenrand. Er würde weder die
Sicht behindern noch sonstwie als Bauwerk die Sicherheit des öffentlichen
Verkehrs gefährden. Die kantonalen Behörden rechnen jedoch damit, dass der
Betrieb des Kiosks Störungen des öffentlichen Verkehrs nach sich ziehen
könnte. Die Sicherheit des Verkehrs wird ihrer Ansicht nach durch das
Bauvorhaben auf diese mittelbare Weise gefährdet. § 60 BG richtet sich,
wie ohne Willkür angenommen werden kann, auch gegen derartige mittelbare
Störungen des öffentlichen Verkehrs (vgl. ZBl 1961 S. 378 Erw. 1a). Die
Bestimmung ist deshalb geeignet, die gesetzliche Grundlage für ein Verbot
abzugeben, das wegen der Einwirkungen des Betriebes der Vorrichtung auf
den öffentlichen Verkehr ausgesprochen wird.

    Es fragt sich hingegen, ob die Anwendung des § 60 auf den vorliegenden
Fall nicht gegen den allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsatz verstosse,
wonach die Polizei sich an den Störer zu halten hat. Das Bundesgericht
hat sich in anderem Zusammenhang mit dieser Frage befasst und mit Urteil
vom 24. Mai 1961 i.S. Roos gegen Regierungsrat des Kantons Aargau
erkannt: "Stellt ein Unternehmer an einer öffentlichen Strasse einen
Zigarettenautomaten auf, dann zählt er darauf, dass der Automat auch
von Motorfahrzeugführern benutzt wird; er rechnet damit oder nimmt es
mindestens bewusst in Kauf, dass sich ein Teil der Kunden aus Gründen der
Bequemlichkeit nicht an die bestehenden Abstellbeschränkungen halten wird.
Auf diese Weise überschreitet er die Schranken, welche die Sicherheit
des öffentlichen Verkehrs... der freien Verfügung über das Eigentum und
der freien Handelstätigkeit setzt; er befindet sich ... nicht mehr in der
'gesetzmässigen Ausübung eines Rechtes', sondern wird selber zum Mitstörer"
(BGE 87 I 114 = ZBl 1961 S. 411).

    Diese Erwägungen treffen grundsätzlich auch auf den vorliegenden
Fall zu. Wohl ist der Kiosk nicht im selben Ausmass wie der
Zigarettenautomat, von dem das angeführte Urteil handelt, auf den Zuspruch
von Motorfahrzeugführern ausgerichtet; der Hauptteil der Kunden würde
vielmehr aus Fussgängern bestehen, doch rechnen die Beschwerdeführer -
nach den örtlichen Verhältnissen mit Grund - auch mit einer motorisierten
Kundschaft. Dieser Umstand allein lässt die Beschwerdeführer indes noch
nicht als Mitstörer im polizeirechtlichen Sinne erscheinen. Es müssen
vielmehr genügende Anhaltspunkte dafür vorhanden sein, dass die Benutzung
des Kiosks durch Fahrzeugführer tatsächlich zu einer Gefährdung des
öffentlichen Verkehrs führen würde. Ob das Vorliegen dieser Voraussetzung
hier ohne Willkür bejaht werden konnte, wird im Folgenden zu untersuchen
sein.

    b) Die Beschwerdeführer bestreiten nicht, dass Fahrzeuge, die auf
der Höhe des geplanten Kiosks, also im Bereich der Kreuzung, auf der
Landstrasse abgestellt werden, den Verkehr behindern. Sie betrachten es
jedoch als willkürlich, dass der Regierungsrat sich nicht an die Tatsache
halte, dass ein solches Vorgehen verboten sei, sondern sich von der als
Erfahrung ausgegebenen Vermutung leiten lasse, zahlreiche Kunden würden
die betreffende Vorschrift missachten, was umso unwahrscheinlicher sei,
als auf dem Gebäudevorplatz genügend Raum vorhanden sei, um die Wagen
der Kunden aufzunehmen.

    Diese Einwendung schlägt nicht durch. Es liegt im Wesen der Sache,
dass die Behörden sich bei der Anordnung baulicher und polizeilicher
Massnahmen zur Verhütung von Verkehrsgefahren in weitem Masse auf
Erfahrungssätze stützen müssen (vgl. ZBl 1961 S. 379 b). Sofern das mit
der nötigen Zurückhaltung geschieht, wird dem Untersuchungsgrundsatz,
der das Verwaltungsverfahren beherrscht, dadurch nicht Eintrag
getan. In den Erfahrungssätzen haben andernorts ermittelte Tatsachen
ihren Niederschlag gefunden, aus denen auf feststellungsbedürftige
Tatsachen des zu beurteilenden Falles geschlossen wird. Diese Art
der Sachaufklärung ist namentlich dann zulässig, ja geboten, wenn die
festzustellenden Tatsachen nicht unmittelbar durch eigene Wahrnehmungen
der Behörde, durch Urkunden oder Auskünfte Dritter (Zeugen, Gewährsleute,
Sachverständige) ermittelt werden können. Das gilt auch für die Abklärung
von Verkehrsgefahren. Unmittelbare Feststellungen hierüber lassen sich
in der Regel erst treffen, wenn die Gefahrenlage zu einer Störung des
öffentlichen Verkehrs geführt hat; die Behörde aber muss schon vorher
einschreiten.

    Ungeachtet dessen darf nicht leichthin angenommen werden, gewisse
Beobachtungen hätten sich zu Erfahrungssätzen verdichtet. Ob das der Fall
sei und ob diese auf die örtlichen Verhältnisse anwendbar seien, bleibt
indes eine Sache des Ermessens. Die kantonalen Behörden, die als Fachorgane
wirken, stehen den örtlichen Gegebenheiten näher als das Bundesgericht,
das als Verfassungsgericht amtet. Es kommt ihm daher nicht zu, sein
Ermessen an die Stelle desjenigen der kantonalen Instanzen zu setzen,
welche die Verantwortung für die Sicherheit des Strassenverkehrs tragen
(vgl. BGE 83 I 150 Erw. 5). Das Bundesgericht greift vielmehr nur ein,
wenn die kantonalen Behörden den Rahmen ihres Ermessens offensichtlich
überschritten haben (ZBl 1961 S. 379 b).

    Der Regierungsrat des Kantons Aargau berief sich schon im Falle
Roos darauf, dass eine grosse Zahl von Fahrern die Vorschriften über
das Abstellen und Anhalten von Motorfahrzeugen übertreten, wenn ein
besonderer Anreiz hierzu besteht. Das Bundesgericht hat die Richtigkeit
dieser Erfahrung anerkannt (ZBl 1961 S. 410, in der Amtlichen Sammlung
nicht veröffentlichte Erw. b). Die kantonalen Instanzen konnten ohne
Willkür davon ausgehen, dass ein Klosk den Fahrer in ähnlicher Weise wie
ein Zigarettenautomat zu vorschriftswidrigem Anhalten verleiten könne. Wie
der Warenbezug am Automaten nimmt der Kauf am Kiosk wenig Zeit in Anspruch;
im einen wie im anderen Fall kann der Automobilist, der ausgestiegen ist,
sein Fahrzeug und die Verkehrslage fast ununterbrochen im Auge behalten;
er glaubt, notfalls rasch wieder am Steuer zu sein und Schwierigkeiten
vermeiden zu können. Die Möglichkeit, dass manche Fahrer es unter diesen
Umständen mit der Einhaltung der Parkierungsvorschriften weniger genau
nehmen, ist deshalb nicht von vornherein von der Hand zu weisen (vgl. BGE
89 IV 213 ff.). Viel wird dabei allerdings von den örtlichen Verhältnissen
abhängen. Befinden sich in der Nähe Abstellplätze, die ohne Zeitverlust
benutzt werden können, so ist die Versuchung zu vorschriftswidrigem
Anhalten kleiner; erscheint die Lage dem Fahrzeugführer als gefährlich,
dann wird er mehr an sich halten als auf einer offensichtlich gefahrlosen
Strecke.

    Im vorliegenden Fall mag der gegenwärtig noch schlechte Ausbau
der Kreuzung den (objektiv unrichtigen) Eindruck aufkommen lassen,
die einmündenden Ortsverkehrsstrassen wiesen lediglich einen geringen
Verkehr auf, weshalb von diesen Seiten her keine Gefahr drohe. Das
mag die Bereitschaft, Fahrzeuge im Bereiche der Kreuzung abzustellen,
erhöhen. Dass die Beschwerdeführer den Kunden des Kiosks auf ihrem Land
Parkplätze zur Verfügung stellen wollen, wird daran kaum Wesentliches
ändern. Würde die Ausfahrt der Parkplätze so angelegt, dass der Verkehr
auf der Kreuzung nicht beeinträchtigt würde, so müssten die Kunden einen
Umweg in Kauf nehmen, den manche von ihnen scheuen würden.

    Die einzelnen Erwägungen, auf die der Regierungsrat sich stützt,
erscheinen dergestalt als sachgemäss und daher nicht willkürlich. Werden
sie gesamthaft gewürdigt, so bleiben zwar Zweifel, ob der Betrieb des
Kiosks wirklich eine ernst zu nehmende Gefährdung des öffentlichen Verkehrs
nach sich zöge; widerlegt ist dieser Schluss indes nicht und es lässt sich
nicht sagen, dass der Regierungsrat damit die weit gezogenen Grenzen seines
Ermessens überschritten habe. Der Vorwurf der Willkür geht darum fehl.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer beklagen sich ferner über eine Verletzung
der Rechtsgleichheit. Von einer rechtsungleichen Behandlung kann nach
der Rechtsprechung nur dann die Rede sein, wenn ein und dieselbe Behörde
eine Frage ohne sachlichen Grund das eine Mal so und das andere Mal
anders beantwortet (BGE 80 I 322 Erw. 2, 88 I 4 oben, 89 I 20 Nr. 3). Die
Beschwerdeführer verweisen zum Vergleich auf mehrere bestehende Kioske;
sie zeigen aber nicht auf, dass der Regierungsrat die Bewilligung
zur Erstellung dieser Bauten erteilt oder bestätigt habe. Die Rüge der
rechtsungleichen Behandlung entbehrt insofern einer den Anforderungen des
Art. 90 Abs. 1 lit. b OG genügenden Begründung. Sie kann deshalb nicht
gehört werden.

Entscheid:

                    Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.