Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 66



90 IV 66

15. Urteil des Kassationshofes vom 15. April 1964 i.S. Staatsanwaltschaft
des Kantons Basel-Stadt gegen Nowak, Sawicki und Jotov. Regeste

    Art. 69 StGB; Anrechnung der Untersuchungshaft.

    1.  Verlängerung der Untersuchungshaft durch Fluchtversuche,
Beseitigung von Beweismitteln, Beeinflussung von Zeugen, Leugnen,
Verweigerung der Auskunft und dergleichen.

    Für die Ablehnung der Anrechnung genügt, dass die Haft mit dem
Verhalten des Beschuldigten nach der Tat ursächlich zusammenhängt (Erw. 1).
(Bestätigung der Rechtsprechung.)

    2.  Die Nichtanrechmmg der Untersuchungshaft hat nicht den Sinn
einer Strafe.

    Ob der Angeschuldigte ein Geständnis ablegt oder seine Täterschaft
sonst schon feststeht, ist für die Anrechnung nicht entscheidend, sondern
ob er durch irgendein Verhalten nach der Tat die Haft herbeiführt oder
verlängert.

    Bloss die Abschätzung der Dauer, um die die Haft durch das Verhalten
des Beschuldigten verlängert wird, ist Ermessensfrage, nicht auch,
welches die Ursachen dieser Verlängerung seien (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Nowak, Sawicki und Jotov drangen in der Nacht vom 7.  auf den
8. April 1960, mit Einbrecherwerkzeugen versehen, in Basel in die
Räumlichkeiten der Firma Durand & Huguenin AG ein. Im Lohnbüro schweissten
sie den Kassenschrank auf und entnahmen ihm Fr. 636'308.85 Bargeld, 100
Reisemarken und eine Banknotenmappe. Dann begaben sie sich mit Hilfe von
Schmitt nach Frankfurt, wo sie die Beute unter sich verteilten.

    Nowak, Sawicki und Jotov wurden im Juni 1960 in der Deutschen
Bundesrepublik festgenommen und in Haft gesetzt. Im November 1960 wurden
sie an die Schweiz ausgeliefert und von der Staatsanwaltschaft des Kantons
Basel-Stadt wegen Flucht- und Kollusionsgefahr in Untersuchungs- und
Sicherheitshaft genommen, in der sie deswegen bis zur erstinstanzlichen
Aburteilung verblieben. Dann kamen sie in Strafhaft.

    In der Nacht vom 13. Dezember 1960 versuchte Jotov aus seiner Zelle
auszubrechen, wobei er Sachschaden anrichtete.

    B.- Am 6. Februar 1963 sprach das Strafgericht Basel-Stadt Nowak,
Sawicki und Jotov des qualifizierten Diebstahls, Jotov überdies der
Sachbeschädigung, schuldig und verurteilte Nowak zu fünf, Sawicki und Jotov
zu je acht Jahren Zuchthaus. Zudem verwies es ersteren für fünfzehn Jahre,
die beiden letzteren auf Lebenszeit des Landes.

    Nowak rechnete es die seit 11. Dezember 1961, Sawicki und Jotov die
seit 1. Januar 1962 erlittene Haft auf die Strafe an, d.h. soviel Zeit,
als das Untersuchungsverfahren bei einsichtigem Verhalten der Angeklagten
gedauert hätte. Eine weitergehende Anrechnung lehnte es mit der Begründung
ab, Nowak habe vorerst das Verfahren in jeder Hinsicht erschwert. Er
habe nicht nur zu kolludieren, ein Aktenstück zu entfernen und einen
Zeugen einzuschüchtern versucht, sondern sich lange Zeit geweigert,
zur Einvernahme Hand zu bieten und ein Protokoll zu unterschreiben. Ein
Teilgeständnis vom 30. November 1960, das den Behörden übrigens nicht
weiterhalf, habe er widerrufen. Erst am 11. Dezember 1961, als er so
gut wie überführt gewesen sei, habe er ein protokollarisches Geständnis
abgelegt. Sawicki habe das Ermittlungsverfahren ebenfalls erschwert. Auch
er habe zu kolludieren und Mitteilungen aus dem Untersuchungsgefängnis
zu schmuggeln versucht. Zudem habe er wiederholt auszubrechen versucht,
was ihm einmal auch gelungen sei. Ein Teilgeständnis vom 7. Juli 1961 habe
er sofort widerrufen und seine Tat erst am 20. September 1962, als die
Anklage bereits angekündigt und weiteres Leugnen offensichtlich sinnlos
geworden sei, zugegeben. Jotov sodann habe seine unmittelbare Mitwirkung am
Einbruch bis zuletzt bestritten. Überdies habe auch er aus dem Gefängnis
auszubrechen versucht, mit den Mitangeklagten heimlich verkehrt, Briefe
aus der Haft geschmuggelt und sich auch sonst, im Ermittlungsverfahren
wie vor Gericht, uneinsichtig gezeigt.

    Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt änderte dieses
Urteil am 29. November 1963 dahin ab, dass es Nowak zu vier, Sawicki und
Jotov zu je sechs Jahren Zuchthaus verurteilte. Ferner rechnete es allen
Verurteilten die seit 1. Dezember 1960 ausgestandene Untersuchungs- und
Sicherheitshaft auf die Strafe an. Die weitgehende Anrechnung der Haft
begründete es damit, dass die Täterschaft für die Untersuchungsbehörden
schon am 22. Juli 1960 festgestanden sei. Dazu komme, dass Nowak am
30. November 1960 ein erstes, wenn auch nicht unterschriebenes Geständnis
abgelegt habe; damit hätten die Untersuchungsorgane auch von seiten der
Angeklagten den Beweis der Täterschaft erhalten. Die in der Folge sich
lange hinziehende Untersuchung habe der Abklärung vieler Einzelheiten
gedient, welche für die Überführung der Täter nicht mehr notwendig
gewesen seien.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt führt
Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des Appellationsgerichts
mit Bezug auf die Anrechnung der Untersuchungshaft aufzuheben und die
Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Nowak, Sawicki und Jotov beantragen, die Beschwerde abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

    Nach Art. 69 StGB ist die Untersuchungshaft dem Verurteilten auf die
Freiheitsstrafe anzurechnen, soweit er die Haft nicht durch sein Verhalten
nach der Tat herbeigeführt oder verlängert hat. Als Untersuchungshaft
gilt jede in einem Strafverfahren verhängte Haft, Untersuchungs- und
Sicherheitshaft (Art. 110 Ziff. 7 StGB).

Erwägung 1

    1.- Ein Verhalten, das die Anrechnung der Haft ausschliesst, kann nach
der Rechtsprechung darin liegen, dass der Täter einen Haftgrund setzt,
so wenn er Anstalten zur Flucht trifft, Beweismittel zu beseitigen oder
Zeugen zu beeinflussen sucht und dergleichen (BGE 70 IV 57). Es kann
aber auch in einem Benehmen bestehen, das für sich allein noch keinen
Haftgrund nach kantonalem Prozessrecht darstellt. Das trifft z.B. zu,
wenn der Täter die Auskunft verweigert, sich aufs Leugnen verlegt oder
die Untersuchungsorgane durch falsche Angaben irreführt. Der Kassationshof
hat denn auch schon wiederholt entschieden, dass Verweigerung der Auskunft
oder Leugnen Grund dafür sein können, dem Verurteilten die Anrechnung der
ausgestandenen Untersuchungshaft ganz oder teilweise zu versagen; denn
durch ein solches Verhalten wird nicht nur die Strafverfolgung erschwert,
sondern zwangsläufig auch die Untersuchungshaft verlängert (BGE 70 IV
184, 73 IV 91 ff.). Das gleiche gilt für die Sicherheitshaft, wenn der
Verurteilte mutwillig oder trölerisch ein Rechtsmittel ergreift oder ein
als offensichtlich aussichtslos erkanntes Rechtsmittel aufrechterhält
(BGE 81 IV 23 f., 86 IV 9 f.). Dass solche Verhaltensweisen die Dauer
der Haft nur mittelbar, nämlich durch Verzögerung des Verfahrens oder des
Strafvollzuges, beeinflussen und für sich allein nicht genügen, um einen
Täter in Haft zu setzen oder in Haft zu behalten, ist gleichgültig. Für
die Ablehnung, die Haft ganz oder teilweise anzurechnen, kommt auch nichts
darauf an, ob die Verzögerung eine schuldhafte gewesen und auf welche
Beweggründe sie zurückzuführen sei (BGE 76 IV 23 f.). Hiefür genügt
vielmehr, dass die Haft mit dem Verhalten des Beschuldigten ursächlich
zusammenhange, d.h. dass dieser sie durch ein anderes Benehmen hätte
abwenden oder verkürzen können (BGE 73 IV 95, 81 IV 23).

    Ist dieser Zusammenhang gegeben, so fragt sich weiter, in welchem
Ausmasse eine Anrechnung der Haft noch gerechtfertigt erscheint. Dies
aber hängt davon ab, ob die Haft lediglich wegen des Benehmens des
Beschuldigten nach der Tat angeordnet oder verlängert werden musste oder ob
sie unabhängig davon verhängt wurde und fortdauerte. Demgemäss schliesst
das Verhalten des Verurteilten die Anrechnung der Untersuchungshaft nur
insoweit aus, als es diese tatsächlich herbeigeführt oder verlängert hat
(vgl. BGE 73 IV 92).

Erwägung 2

    2.- An dieser Rechtsprechung ist auch im vorliegenden Falle
festzuhalten.

    a) Das Appellationsgericht führt aus, der Untersuchungshaft sei
der pönale Charakter nicht abzusprechen; anders hätte die Vorschrift des
Art. 69 StGB, welche die obligatorische Anrechnung der Haft vorsehe, keinen
Sinn. Die Bestimmung hat indes ihren guten Sinn ohne Rücksicht darauf,
ob sie jedem zu einer Freiheitsstrafe Verurteilten zugute kommt oder
nicht. Die Untersuchungshaft wird aus ganz andern Gründen angeordnet als
der Strafvollzug und kann folglich nicht zum vorneherein Strafe sein. Die
rechtliche Wirkung einer Strafvollstreckung kommt ihr gegenteils nur
insoweit zu, als sie gemäss Art. 69 StGB auf die Strafe angerechnet werden
kann. Darf die Untersuchungshaft aber im übrigen nicht einer verbüssten
Strafe gleichgesetzt werden, so hat auch ihre Nichtanrechnung auf die
Freiheitsstrafe nicht den Sinn einer Strafe (BGE 76 IV 23, 84 IV 9). Die
an der angeführten Rechtsprechung geübte Kritik (vgl. DUBS in ZStR 76 192)
hilft darüber nicht hinweg. Die Untersuchungshaft und ihre Nichtanrechnung
werden dadurch, dass sie für den Betroffenen "eine pönale Wirkung" haben,
sowenig zur Strafe im Rechtssinne wie der Strafregistereintrag, der Entzug
des Führerausweises oder ähnliche Massnahmen, die von den Verurteilten
ebenfalls als Übel empfunden werden.

    Die vorinstanzliche Auslegung von Art. 69 StGB lässt sich auch
nicht auf BGE 86 IV 9 stützen. Die Anrechnung der Haft ist eine
Billigkeitsmassnahme, aber nur für den Fall, dass die Haft unabhängig vom
Verhalten des Beschuldigten nach der Tat verhängt wird oder fortdauert. Wie
der Kassationshof schon im Urteil BGE 76 IV 24 ausgeführt hat, bestehen
dagegen keine Billigkeitsgründe, wenn das Benehmen des Täters dafür
entscheidend ist, dass die Behörde ihn in Haft setzt oder in Haft
behält. In diesem Falle hat es der Beschuldigte in der Hand, die Haft
durch ein anderes Verhalten abzuwenden oder zu verkürzen. Kann er sich
dazu nicht entschliessen, so ist es durchaus nicht unbillig, ihn die
Folgen seines Verhaltens tragen zu lassen. Die gegenteilige Auffassung
hätte die stossende Folge, dass der einsichtslose Angeschuldigte, der die
Untersuchung womöglich erschwert, gegenüber dem einsichtigen bevorzugt
würde. Das kann nicht der Sinn des Art. 69 StGB sein.

    b) Das Appellationsgericht führt in einer Vernehmlassung zur Beschwerde
aus, dass die Behörden gemäss § 17 Abs. 2 StPO die für die Beurteilung
bedeutsamen Umstände von Amtes wegen, also unabhängig von einem Geständnis
des Angeschuldigten, feststellen müssten. Daraus folge aber, dass gerade in
umständlichen Fällen, wie dem vorliegenden, dem einlässlichen Geständnis
des Angeschuldigten keine entscheidende Bedeutung zukomme. Mit diesem
Einwand entzieht die Vorinstanz dem angefochtenen Urteil selbst den Boden,
begründet sie die Anrechnung der Haft doch damit, dass die Voraussetzungen
hiefür jedenfalls dann gegeben seien, wenn ein Geständnis in irgendeiner
Form vorliege. In der Tat ist für die Anrechnung nicht entscheidend, ob
der Angeschuldigte ein Geständnis ablegt, sondern ob er durch irgendein
Verhalten nach der Tat die Haft herbeiführt oder verlängert. Das kann
er trotz Geständnisses tun, namentlich wenn er es mit falschen Angaben
verquickt oder es als erfunden widerruft. Die Beschwerdeführerin macht
denn auch geltend, dass Nowak am 30. November 1960 lediglich zugab,
am Diebstahl beteiligt gewesen zu sein, die Mittäterschaft von Sawicki,
Jotov und Schmitt aber bestritt, dass er zudem das Geständnis zwei Tage
später als aus der Luft gegriffen widerrief und noch am 15. August
1961 erklärte, er habe gar kein Interesse, den Behörden die Aufgabe
zu erleichtern. Ob diese Behauptungen zutreffen, sind indes Tatfragen,
die nicht der Kassationshof, sondern die Vorinstanz zu entscheiden hat.

    Das Appellationsgericht stellt fest, dass die Täter den Behörden schon
am 22. Juni 1960 bekannt gewesen seien. Das ist jedoch wiederum nicht
entscheidend. Die Vorinstanz ist übrigens selbst nicht anderer Meinung, hat
sie den Verurteilten die Haft doch nicht von diesem Tage an angerechnet.
Ebensowenig ist mit der weiteren Feststellung auszukommen, dass die
nach dem Geständnis Nowaks vom 30. November 1960 sich lange hinziehende
Untersuchung viele Einzelheiten betraf, die für die Überführung der
Täter nicht mehr notwendig gewesen seien. Die Strafverfolgungsbehörden
dürfen sich nicht mit der Überführung des Täters begnügen. Sie haben den
Sachverhalt vielmehr in objektiver und subjektiver Hinsicht zu erforschen,
bei mehreren Tätern nicht nur Zurechnungsfähigkeit, Rechtfertigungsgründe,
Beweggründe, Vorleben, persönliche Verhältnisse usw., sondern namentlich
auch Schuld und Tatanteil eines jeden einzelnen Beteiligten soweit
abzuklären, dass im Falle der Anklageerhebung für die Hauptverhandlung ein
ungehinderter Fortgang gesichert ist (vgl. § 17 Abs. 2 und 3, § 102 der
baselstädt. StPO). Die Feststellung, dass die Strafbehörden spätestens
am 30. November 1960 von der Täterschaft der Angeschuldigten überzeugt
waren, taugt deshalb für die Bemessung der anrechenbaren Haftzeit sowenig
wie diejenige, dass Nowak an diesem Tage ein Geständnis ablegte, ganz
abgesehen davon, dass er dieses zwei Tage später widerrief.

    Daran ändert auch der Hinweis auf BGE 73 IV 93 nichts. Bloss
die Abschätzung der Dauer, um die die Haft durch das Verhalten der
Angeschuldigten verlängert wurde, ist eine Ermessensfrage, nicht
auch, ob und allenfalls welche Verhaltensweisen der Verurteilten
(Fluchtversuche, Beseitigung von Beweismitteln, Beeinflussung von Zeugen,
Leugnen, Verweigerung der Auskunft usw.) Ursache oder Mitursache dieser
Verlängerung waren.

    c) Die tatsächlichen Anbringen der Beschwerdeführerin über das
Verhalten der Beschuldigten während des Untersuchungsverfahrens decken
sich weitgehend mit den Feststellungen des Strafgerichtes, welche das
Appellationsgericht stillschweigend übergeht. Sie sprechen dafür, dass
die Untersuchung bedeutend weniger Zeit in Anspruch genommen und damit
auch die Haft weniger lange gedauert hätte, wenn sich die Behörden schon
zu Beginn des Verfahrens im wesentlichen auf die Überprüfung der Angaben
der sogleich geständigen und auskunftswilligen Beschuldigten hätten
beschränken können, als wenn vorerst umfangsreiches Beweismaterial im
In- und Ausland gesammelt werden musste, bis auch nur einer der Täter
zu glaubwürdigen Angaben bewogen werden konnte. Ob das zutrifft und
das Appellationsgericht folglich Art. 69 StGB verletzt hat, wie mit der
Beschwerde geltend gemacht wird, kann mangels tatsächlicher Feststellungen
der Vorinstanz nicht geprüft werden. Das angefochtene Urteil ist deshalb
aufzuheben und die Sache zu ergänzender Feststellung des Sachverhaltes
und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 29. November 1963 mit
Bezug auf die Anrechnung der Untersuchungshaft aufgehoben und die Sache
zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.