Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 32



90 IV 32

8. Urteil des Kassationshofes vom 21. Februar 1964 i.S. Statthalteramt
Uster gegen Michel. Regeste

    Art. 32 Abs. 1 SVG. Pflicht zur Beobachtung der Fahrbahn.

    Überblickbar im Sinne der Sichtweite, auf die der Führer anhalten
können muss, ist eine Strecke nur soweit, als auch die Strassenfläche
selber beobachtet werden kann.

    Ist auf diese Entfernung ein Hindernis bei pflichtgemässer
Aufmerksamkeit rechtzeitig wahrnehmbar, so kann der Führer sich nicht
darauf berufen, dass damit nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht zu
rechnen sei.

Sachverhalt

    A.- Michel fuhr am 22. Juli 1963 gegen 23 Uhr 30 am Steuer seines
Personenwagens Ford-Consul auf der Hauptstrasse von Mönchaltorf gegen
Oetwil. Ausgangs des Dorfes Esslingen, wo die Strasse 6,3 m breit ist und
eine langgezogene Linksbiegung beschreibt, hielt er eine Geschwindigkeit
von 75 km/Std. inne. Im letzten Drittel der Biegung floss von rechts aus
einem Kieslager Wasser über die Strasse. Michel überfuhr den 7 bis 8 m
breiten Wasserstreifen, ohne die Fahrt zu mässigen. Nach etwa 20 m geriet
er mit den rechten Rädern über den Strassenrand hinaus. Er versuchte, den
Wagen auf die Strasse zurückzulenken, verlor dabei aber die Herrschaft über
das Fahrzeug, das die Strasse nach 56 m links wieder verliess und durch
eine Wiese gegen ein Quartiersträsschen fuhr, wo es seitwärts umkippte
und an einem Gartenzaun stark beschädigt zum Stillstand kam. Die drei
Insassen wurden nicht verletzt.

    B.- Mit Verfügung vom 27. September 1963 verfällte das Statthalteramt
Uster Michel in Anwendung der Art. 31 Abs. 1, 32 Abs. 1 und 90 Abs. 1
SVG in eine Busse von Fr. 40.-.

    Auf das Begehren um gerichtliche Beurteilung sprach der Einzelrichter
in Strafsachen des Bezirrksgerichtes Uster den Gebüssten am 3. Dezember
1963 frei, weil die Fahrgeschwindigkeit noch als zulässig betrachtet
werden könne und Michel mit dem über die Strasse fliessenden Wasser,
das Ursache des Unfalls gewesen sei, nicht habe rechnen müssen.

    C.- Das Statthalteramt führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Einzelrichters aufzuheben und die Sache zur Bestrafung
Michels wegen Übertretung des SVG an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets den
Umständen, namentlich den Strassen-, Verkehrs- und Sichtverhältnissen
anzupassen. Diese Regel war teils wörtlich, teils sinngemäss schon in
Art. 25 Abs. 1 MFG enthalten. Wie das Bundesgericht ständig entschieden
hat, verpflichtet sie den Führer, die Geschwindigkeit jederzeit so zu
bemessen, dass er innerhalb der als frei erkannten Strecke anhalten
kann. Frei ist diejenige Strecke, auf der weder ein Hindernis sichtbar
ist, noch mit dem Auftreten eines Hindernisses gerechnet werden muss,
das sich zwar noch nicht auf der überblickbaren Fahrbahn befindet,
aber im letzten Augenblick darauf erscheinen kann (BGE 89 IV 25 und dort
angeführte Urteile). Gefahren dieser Art hat der Fahrer bei der Bemessung
der Geschwindigkeit jedoch nur Rechnung zu tragen, wenn die Möglichkeit,
dass plötzlich ein Hindernis in die Fahrbahn treten könnte, aus besondern
Umständen, seien es Signale, Schulhäuser, Spielplätze oder dergleichen,
dringlich hervorgeht (vgl. BGE 80 IV 133).

    Anders verhält es sich, wenn ein Hindernis, das die Durchfahrt von
Fahrzeugen gefährden kann, sich bereits auf der Strasse befindet. Eine
Strecke ist nicht schon dann überblickbar, wenn sich dem Führer die Sicht
in der Strassenrichtung z.B. bis auf Augenhöhe öffnet, ihm der Blick auf
die Fahrbahn aber noch versperrt bleibt. In einem solchen Fall kann er
wohl feststellen, ob sich ein Fahrzeug auf der Strecke befinde, dagegen
kann er ein allfälliges Hindernis, das sich von der Strassenfläche nur
wenig oder nicht abhebt, noch nicht sehen. Dies kann z.B. Gestein, ein
Ast, verlorenes Transportgut, ein Verunfallter, eine vereiste Stelle,
eine Öllache oder, wie hier, ein Wasserlauf zufolge eines Gewitterregens
sein. Auch mit solchen Hindernissen und Gefahren muss gerechnet werden,
selbst wenn sie verhältnismässig selten sind. Das gilt namentlich für
Strassenbiegungen, in denen die Sicht auf die Fahrbahn durch kleine
Bodenerhebungen, Anpflanzungen oder ähnliche Verhältnisse zunächst
noch verdeckt bleibt. Überblickbar im Sinne der Sichtweite, auf die
der Führer anhalten können muss, ist daher eine Strecke nur soweit,
als auch die Strassenfläche selber beobachtet werden kann. Ist auf diese
Entfernung ein Hindernis bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit rechtzeitig
wahrnehmbar, so kann der Führer sich nicht darauf berufen, dass damit
nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge nicht zu rechnen sei. Er hat eben
die Fahrbahn vor sich zu beobachten und muss die Fahrt verlangsamen
und nötigenfalls sogar anhalten, wenn er darauf ein Hindernis erblickt,
mag es auch ein noch so fremdartiges sein. Tut er das nicht oder nimmt
er das Hindernis infolge Unaufmerksamkeit zu spät wahr, so handelt er
pflichtwidrig und ist folglich strafbar (vgl. nicht veröffentlichtes
Urteil des Kassationshofes vom 12. Mai 1961 i.S. Ritter Erw. 2).

Erwägung 2

    2.- Ob Michel diese Pflicht verletzt und, wenn ja, die Herrschaft über
sein Fahrzeug schuldhafterweise verloren habe, wie in der Beschwerde
geltend gemacht wird, kann mangels genügender Feststellungen des
Einzelrichters nicht nachgeprüft werden. Das angefochtene Urteil ist
deshalb gestützt auf Art. 277 BStP aufzuheben und die Sache zur weitern
Abklärung des Sachverhaltes an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ergibt sich,
dass die Fahrgeschwindigkeit von 75 km/Std. dem Beschwerdegegner nicht
erlaubte, innerhalb der zuverlässig überblickbaren Strecke anzuhalten,
so ist er schon deshalb wegen Übertretung von Art. 32 Abs. 1 SVG zu
bestrafen. Wird dagegen festgestellt, dass die Sichtstrecke an sich lang
genug war, so stellt sich die weitere Frage, ob der Beschwerdegegner
den Wasserlauf innerhalb dieser Strecke bei gehöriger Aufmerksamkeit
rechtzeitig wahrnehmen konnte, um ihn mit entsprechend verminderter
Geschwindigkeit zu überqueren.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen gutgeheissen,
das Urteil des Einzelrichters in Strafsachen des Bezirksgerichtes Uster
vom 3. Dezember 1963 aufgehoben und die Sache zur Neubeurteilung an die
Vorinstanz zurückgewiesen.