Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 28



90 IV 28

7. Urteil des Kassationshofes vom 21. Februar 1964 i.S. Kneubühler gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 32 Abs. 1 SVG, Art. 4 Abs. 5 VRV.

    1.  Der Führer, der bei grünem Licht so langsam in die Kreuzung
einfährt, dass er sich nach dem Wechsel von Gelb auf Rot noch darauf
befindet, passt seine Geschwindigkeit nicht den Verkehrsverhältnissen an
(Erw. 1 und 2).

    2.  Zum Verhältnis von Art. 32 Abs. 1 zu Art. 27 Abs. 1 SVG (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Vom Hauptausgang des Luzerner Bahnhofgebäudes führt ein acht Meter
breiter Fussgängerstreifen über eine Einbahnstrasse. Eine automatische
Signalanlage regelt dort den Verkehr abwechslungsweise so, dass sie den
Fussgängern die Überquerung auf dem Streifen durch grünes Licht freigibt,
während sie die Durchfahrt Richtung Kunsthaus durch rotes Licht sperrt,
und umgekehrt. Auf das grüne Licht folgt als Zwischensignal für zwei
Sekunden ein gelbes.

    Am 11. August 1963 gegen 10.45 Uhr führte Kneubühler seinen
Personenwagen von der Seebrücke her über den Bahnhofplatz Richtung
Kunsthaus. Dabei fuhr er bei grünem Licht so langsam auf den Streifen
zu, dass er sich noch darauf befand, als etwa zehn Fussgänger, die den
Wechsel des Lichtsignals abgewartet hatten, bereits im Begriffe waren,
die Strasse zu überqueren.

    B.- Am 20. September 1963 verfällte der Amtsstatthalter von
Luzern-Stadt Kneubühler wegen Übertretung von Art. 27 Abs. 1 SVG in eine
Busse von Fr. 30.-.

    Das Amtsgericht Luzern-Stadt bestätigte am 15. November 1963 diesen
Entscheid mit der Ausnahme, dass es Kneubühler auch der Übertretung
von Art. 32 Abs. 1 SVG schuldig fand.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das
Urteil des Amtsgerichtes aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern beantragt, die Beschwerde
gutzuheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 32 Abs. 1 SVG ist die Geschwindigkeit stets
den Umständen, namentlich den Strassen- und Verkehrsverhältnissen
anzupassen. Das heisst, dass der Fahrzeugführer nicht zu schnell, unter
Umständen aber auch, dass er ohne zwingende Gründe nicht so langsam fahren
darf, dass sein Fahrzeug einen gleichmässigen Verkehrsfluss hindert (Art. 4
Abs. 5 VRV) oder sonst irgendwie Anlass zu Verkehrsstörung, Belästigung
des Publikums oder Unfällen bieten könnte. Dies gilt insbesondere
für Kreuzungen, die mit automatischen Lichtsignalanlagen versehen
sind. Lichtsignalanlagen sollen verhindern, dass Verkehrsteilnehmer,
deren Bahnen und Wege sich überschneiden, gleichzeitig in der Kreuzung
eintreffen und dort einander behindern oder gefährden. Aus diesem Grunde
geben sie, wie hier, eine Strasse z.B. dem Durchgangsverkehr durch grünes
Licht frei, während sie den Querverkehr durch rotes Licht sperren. Die
Dauer des gelben Zwischenlichtes, das jeweils unmittelbar vor der Sperre
kurz aufleuchtet, hängt vom Ausmass und der Bedeutung der Kreuzung ab. Es
soll Verkehrsteilnehmern, die sich bereits in der Kreuzung befinden,
oder Fahrzeugen, die ihr beim Wechsel von Grün auf Gelb so nahe sind,
dass sie nicht mehr davor anhalten können, ohne jemanden zu gefährden,
noch die gefahrlose Überquerung ermöglichen (BGE 85 IV 157).

    Diese Überquerung darf indes nicht mit beliebig herabgesetzter
Geschwindigkeit unternommen oder ausgeführt werden. Sowenig ein
Fahrzeugführer so schnell auf eine Kreuzung zufahren darf, dass er bei
Aufleuchten des roten Lichtes nicht mehr davor anhalten kann (BGE 85
IV 158), sowenig darf er bei grünem Licht so langsam in die Kreuzung
einfahren, dass er sich nach dem Wechsel von Gelb auf Rot und damit
nach dem Wiedereinsetzen des Querverkehrs noch darauf befindet. Sollen
Signalanlagen ihren Zweck erfüllen und die unfallfreie Abwicklung des
Verkehrs gewährleisten, so muss er sich nicht nur an die Lichtsignale
halten, sondern seine Geschwindigkeit auch so bemessen, dass er die
Kreuzung spätestens bis zum Erlöschen des nur für wenige Sekunden
erscheinenden gelben Zwischensignals vollständig überqueren kann.

Erwägung 2

    2.- Dieser Pflicht hat der Beschwerdeführer nicht genügt. Er ist
nach der verbindlichen Feststellung der Vorinstanz sehr langsam auf
den Fussgängerstreifen zugefahren und hat diesen nach seinen eigenen
Angaben im Schrittempo, also mit etwa 5 km/Std. überquert. Dass ihn ein
anderes Fahrzeug daran gehindert habe, schneller zu fahren, behauptet der
Beschwerdeführer nicht. Laut Zeugenaussagen war seine langsame Fahrweise
einzig darauf zurückzuführen, dass er vor dem Bahnhof einen Parkplatz
suchte und deshalb umherschaute. Von zwingenden Gründen kann nicht die
Rede sein, denn die Sicherheit des Verkehrs geht der Bequemlichkeit und
anderen Interessen des Einzelnen vor (BGE 81 IV 179).

    Da die Signalanlage für die Durchfahrt Richtung Kunsthaus schon
grünes Licht zeigte, als Kneubühler sich über den Bahnhofplatz dem
Streifen näherte, musste er jederzeit mit dem Aufleuchten des gelben
Lichtes rechnen. Zudem hätte der Beschwerdeführer sich sagen müssen,
dass er, wenn er im Schrittempo weiterfahre, den acht Meter breiten
Fussgängerstreifen nicht mehr rechtzeitig werde freigeben können, brauchte
er doch allein zu dessen Überquerung drei bis vier Sekunden, also doppelt
soviel Zeit, als nach dem gelben Zwischenlicht hiefür vorgesehen ist. Dazu
kommt, dass er den bevorstehenden Wechsel von Grün auf Gelb nicht bis
unmittelbar vor den Fussgängerübergang beobachten konnte, da die Lampen der
Signalanlage seitlich abgeschirmt sind. Dieser Umstand hätte ihn ebenfalls
bewegen sollen, die Fahrt zu beschleunigen. Hiezu hätte er umsomehr
Anlass gehabt, als ihm angesichts der Örtlichkeit und der wartenden
Fussgänger nicht entgehen konnte, dass er sich einer stark begangenen
Stelle näherte. Indem er trotzdem im Schrittempo über den Streifen fuhr,
hat er seine Geschwindigkeit nicht den Verkehrsverhältnissen, wie sie
sich aus einer Signalanlage ergeben, angepasst, folglich Art. 32 Abs. 1
SVG verletzt. In diesem Sinne hat der Kassationshof schon Art. 25 Abs. 1
MFG ausgelegt (BGE 81 IV 51 Erw. 3 b).

Erwägung 3

    3.- Dagegen hat der Beschwerdeführer Art. 27 Abs. 1 SVG nicht
übertreten. Eine solche Übertretung läge nur vor, wenn Kneubühler auf
den Streifen gefahren wäre, obwohl er zuvor noch hätte sehen können,
dass das grüne Licht bereits auf Gelb oder gar auf Rot wechselte. Dass
dies der Fall war, stellt die Vorinstanz nicht fest. Das verkehrswidrige
Verhalten des Beschwerdeführers erschöpfte sich somit darin, dass er
sich nicht an die Mindestgeschwindigkeit hielt, die dem Wechsel von Grün
auf Rot mit dem gelben Zwischensignal zugrunde liegt. Diese Übertretung
fällt ausschliesslich unter Art. 32 Abs. 1 SVG. Aufgehoben zu werden
braucht das angefochtene Urteil deswegen aber nicht. Der Vorwurf, der
Beschwerde führer habe der Signalanlage zuwenig Aufmerksamkeit geschenkt,
indem er seine Geschwindigkeit der sog. "grünen Welle" nicht anpasste,
bleibt auch bei blosser Anwendung des Art. 32 Abs. 1 SVG aufrecht. Er
deckt sich zudem mit seinem Verschulden. Das Amtsgericht hat die vom
Amtsstatthalter ausgefällte Busse denn auch nicht erhöht, obschon dieser
nur eine, es aber beide Bestimmungen für anwendbar hielt.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.