Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 210



90 IV 210

43. Urteil des Kassationshofes vom 27. November 1964 i.S. Gees gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Graubünden. Regeste

    Art. 30 Abs. 1 SVG, Art. 61 Abs. 1 und 3 VRV, Art. 117 StGB.

    1.  Pflichtwidriges Verhalten eines Lastwagenführers, der einen
Arbeiter auf unbefestigter Ladung mitfahren lässt (Erw. 1).

    2.  Adäquater Kausalzusammenhang zwischen diesem Verhalten und dem
Unfall des Arbeiters (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Gees hatte am 14. Oktober 1963 in Chur einen Unimog mit
Tiefganganhänger von einem Lager auf eine Arbeitsstelle zu führen. Es
fuhren drei Arbeiter mit, von denen einer (Locher) neben ihm in der
Führerkabine, ein anderer (Hemmi) auf dem Sitzbock des Anhängers und der
dritte, Just, auf der Platte einer hölzernen Werkbank, die unbefestigt
auf der Ladebrücke des Unimog stand, Platz nahm. Hemmi forderte Just
umsonst auf, sich zu ihm zu setzen. Dieser sass, in Richtung der Fahrt
gesehen, auf der linken Seite der Werkbank und stützte die Füsse auf
eine Querlatte. Mit der einen Hand hielt er sich an der Bank und mit der
andern an einer stehenden Isolierplatte. Gees sah beim Abfahren nicht, dass
Just auf der Werkbank Platz genommen hatte; er bekümmerte sich überhaupt
nicht um ihn, weil Just sich angeblich stets dort hinzusetzen pflegte,
wo es ihm gerade passte. Als Gees mit einer Geschwindigkeit von höchstens
21 km/Std. von der Ringstrasse nach links in die Felsenaustrasse abbog,
kippte die Werkbank gegen die rechte Strassenseite. Just fiel rücklings
Kopf voran auf die Strasse und wurde von der nachstürzenden Werkbank
getroffen. Er erlitt schwere Verletzungen, die zu seinem Tode führten.

    B.- Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden verurteilte Gees
am 28. April 1964 wegen Übertretung von Art. 30 Abs. 1 SVG und wegen
fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) zu einer bedingt vorzeitig löschbaren
Busse von Fr. 100.--.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf
Freisprechung.

    D.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Kantonsgerichtsausschuss wirft Gees vor, er sei vom Lager
weggefahren, ohne sich zu vergewissern, ob alle drei Arbeiter auf den
besonders vorgesehenen Sitzplätzen oder doch zumindest an einem sichern
Ort Platz genommen hatten. Dieser Vorwurf verstösst nach der Auffassung
des Beschwerdeführers gegen Bundesrecht, weil die Vorinstanz lediglich
die allgemeine Bestimmung des Art. 30 Abs. 1 SVG, nicht aber die für das
Mitfahren auf Lastwagen und dergleichen massgebenden Vorschriften des
Art. 61 Abs. 1 und 3 VRV für anwendbar halte.

    Art. 30 Abs. 1 SVG lautet: "Personen dürfen auf Motorfahrzeugen
und Fahrrädern nur auf den dafür eingerichteten Plätzen mitgeführt
werden. Der Bundesrat kann Ausnahmen vorsehen; er erlässt Vorschriften
über die Personenbeförderungen mit Anhängern." Solche Ausnahmevorschriften
finden sich in Art. 61 VRV. Nach dieser Bestimmung darf auf Ladebrücken von
Motorwagen nur das Personal zum Auf- und Abladen und zur Überwachung der
Ladung mitgeführt werden, auf Fahrten zwischen Betrieb und Arbeitsstelle
auch weiteres Arbeitspersonal. Mitfahrende müssen auf eingerichteten Sitz-
und Stehplätzen oder geschützter Ladebrücke Platz nehmen (Abs. 1). Auf
und in Anhängern darf nur das Personal zum Lenken, Bremsen oder Überwachen
der Ladung mitgeführt werden. Es sind eingerichtete Sitz- oder Stehplätze
zu benützen, ausser vom Personal zur Überwachung der Ladung (Abs. 3).

    Die zuletzt angeführte Vorschrift fällt im vorliegenden Fall
von vorneherein ausser Betracht, da sie sich auf das Mitfahren auf
Anhängern bezieht, der Verunfallte aber auf dem Motorwagen mitfuhr. Auf
Art. 61 Abs. 1 VRV sodann könnte der Beschwerdeführer sich nur berufen,
wenn Just auf "geschützter Ladebrücke" Platz genommen hätte. Das war
offensichtlich nicht der Fall. Nach den tatsächlichen Feststellungen der
Vorinstanz sass der Verunfallte nicht auf der Ladebrücke oder auf einem
darauf eingerichteten Sitzplatz, sondern auf der Ladung. Es kann daher
dahingestellt bleiben, ob die Ladebrücke schon deswegen als "geschützt"
zu gelten hatte, weil sie nach den Angaben des Beschwerdeführers mit 30
cm hohen Seitenwänden versehen war, oder ob das mit der Staatsanwaltschaft
erst dann anzunehmen wäre, wenn die Brücke zusätzliche Schutzvorrichtungen,
insbesondere ein Verdeck oder Aufsteckläden, aufgewiesen hätte. Es braucht
auch nicht untersucht zu werden, ob Just die Aufgabe hatte, die Ladung zu
überwachen, und ob er als Hilfsperson zum Abladen zu bezeichnen war oder
zum andern Arbeitspersonal gehörte. Weder im einen noch im andern Fall
hätte der Beschwerdeführer ihm gemäss Art. 61 Abs. 1 VRV erlauben dürfen,
auf der Ladung Platz zu nehmen, ganz abgesehen davon, dass diese nicht
befestigt war.

    Die Vorschrift, auf eingerichteten Sitz- und Stehplätzen oder
geschützter Ladebrücke Platz zu nehmen (Art. 61 Abs. 1 Satz 2 VRV),
stellt übrigens nicht bloss eine Weisung an die Mitfahrenden dar, wie
der Beschwerdeführer anzunehmen scheint. Sie richtet sich, wie schon
Art. 30 Abs. 1 SVG, in erster Linie an den Fahrzeugführer, der für die
Sicherheit der Mitfahrenden verantwortlich ist (BGE 78 IV 75 Erw. 2). Als
solcher durfte der Beschwerdeführer aber die Fahrt nicht unternehmen, ohne
sich zuvor zu vergewissern, dass die mitfahrenden Arbeiter auf den dazu
besonders eingerichteten Sitzplätzen oder doch wenigstens auf dem Boden
der Ladebrücke Platz genommen hatten. Indem er dies unterliess, handelte
er pflichtwidrig unvorsichtig, also fahrlässig. Dass die Werkbank schon
seit längerer Zeit mit dem gleichen Fahrzeug von einer Arbeitsstelle zur
andern befördert wurde, ohne dass Just je darauf Platz genommen hätte,
befreit den Beschwerdeführer nicht. Er wusste aus Erfahrung, dass der
Verunfallte sich jeweilen dort hinzusetzen pflegte, wo es ihm gerade
passte. Das entband den Beschwerdeführer nicht von der Pflicht, vor der
Abfahrt Nachschau zu halten, sondern hätte ihn im Gegenteil veranlassen
sollen, gerade auf Just zu achten und diesen notfalls energisch auf einen
andern Platz zu verweisen.

Erwägung 2

    2.- Die mangelnde Sorge des Beschwerdeführers um die mitgeführten
Personen war nach der Erfahrung des Lebens und dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge geeignet, zum tatsächlich eingetretenen Erfolg zu führen. Der
Beschwerdeführer bestreitet denn auch nicht, dass zwischen seinem Verhalten
und dem Tod des Verunfallten ein rechtlich erheblicher Zusammenhang
besteht. Er macht auch nicht geltend, dass dieser Zusammenhang durch
das Selbstverschulden des Just unterbrochen worden sei. Er ist deshalb
zu Recht wegen fahrlässiger Tötung bestraft worden.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.