Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 21



90 IV 21

5. Urteil des Kassationshofes vom 7. Februar 1964 i.S. X. gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 194 Abs. 1 StGB.

    Auch ein Strichjunge kann im Sinne dieser Bestimmung verführt werden.
Verführung ist aber ausgeschlossen, wenn er bei der Begegnung mit dem
Täter die Bereitschaft, sich jedermann hinzugeben, bekundet und betätigt.

Sachverhalt

    A.- H. X., der in Zürich wohnt, wandte sich zwischen dem 19. Oktober
und 2. November 1962 im Niederdorf an M. Y. Er führte den 16 1/4-jährigen
Burschen auf sein Zimmer, reichte ihm dort Vermouth und zeigte ihm
Zeichnungen über die geschlechtliche Liebe zwischen Kindern und
Erwachsenen. Darauf betätigten sie sich homosexuell. Etwa eine Woche
später kam es auf dem Zimmer des H. X. wieder zu solchen Ausschweifungen.

    M. Y. wurde am 10. Januar 1963 vom Jugendgericht des Bezirkes Zürich
wegen wiederholter widernatürlicher Unzucht bestraft, weil er sich im
Juli 1962 in Zürich und Lugano gewerbsmässig an Homosexuelle herangemacht
hatte. Vom 19. bis 31. Oktober 1962 fand er bei einem Homosexuellen
Unterschlupf.

    B.- Das Bezirksgericht Zürich erklärte H. X. am 7. Mai 1963 der
wiederholten widernatürlichen Unzucht mit einem Minderjährigen und der
unzüchtigen Veröffentlichung schuldig. Es verurteilte ihn zu fünf Monaten
Gefängnis, abzüglich fünf Tage Untersuchungshaft.

    C.- H. X. appellierte gegen dieses Urteil an das Obergericht des
Kantons Zürich. Dieses sprach ihn von der Anklage der wiederholten
widernatürlichen Unzucht mit Minderjährigen über 16 Jahren frei, dagegen
verurteilte es ihn wegen unzüchtiger Veröffentlichung im Sinne von Art. 204
StGB. Die Strafe minderte es auf einen Monat Gefängnis, abzüglich fünf
Tage Untersuchungshaft.

    D.- Gegen dieses Urteil führt die Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das angefochtene Urteil sei
hinsichtlich des Freispruchs von der Anklage der widernatürlichen Unzucht
aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit H. X. auch
dieses Vergehens schuldig gesprochen und entsprechend bestraft werde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 194 Abs. 1 StGB wird wegen widernatürlicher Unzucht
bestraft, wer eine unmündige Person des gleichen Geschlechts im Alter von
mehr als 16 Jahren zur Vornahme oder zur Duldung unzüchtiger Handlungen
verführt. Nach ständiger Rechtsprechung ist der Begriff der Verführung
weit auszulegen. Den strafrechtlichen Schutz gemäss Art. 194 Abs. 1 StGB
geniessen daher nicht nur Jugendliche, die dank ihrer Charakterveranlagung
und sittlichen Erziehung einer Verleitung Widerstand leisten, sondern
auch jene Jugendlichen, welche wegen ihrer leichten Beeinflussbarkeit und
Willensschwäche unzüchtigen Zumutungen rasch erliegen, welche m.a.W. ohne
eine eigene Initiative zu ergreifen, ihre letzten Hemmungen auf Anstoss
von aussen verlieren. Schutzbedürftig nach der Rechtsprechung sind
endlich jene Jugendlichen, die sich schon homosexuell betätigt haben,
zu Erlebnissen auf diesem Gebiet neigen und daher Gefahr laufen, ganz zu
verderben, wenn sie schlecht beeinflusst werden. Denn in all diesen Fällen
bleibt trotz der im Opfer vorhandenen Bereitschaft, sich auf homosexuelle
Handlungen einzulassen, immer noch Raum für einen bestimmenden Einfluss
des Täters auf den Willen des Jugendlichen (BGE 88 IV 62, 85 IV 222, 70 IV
30). Entscheidend ist also, ob der Einfluss des Dritten für die Vornahme
oder Duldung unzüchtiger Handlungen bestimmend war, das jugendliche Opfer
mithin der Initiative und Einwirkungen des Täters erlegen ist. Eine solche
massgebliche Einflussnahme auf den Willen des jugendlichen Opfers ist auch
gegenüber einem Strichjungen möglich. Doch kann von einer solchen dann
nicht mehr die Rede sein, wenn der Jugendliche bei der Begegnung mit dem
Täter ohne Beeinflussung durch diesen seine Bereitschaft, sich (meist um
des Erwerbes willen) jedem Beliebigen zur Unzucht hinzugeben, bekundet und
betätigt. Denn für eine bezügliche Willensbeeinflussung, d.h. Verführung
zur Unzucht und damit für eine Bestrafung des Täters gemäss Art. 194
Abs. 1 StGB bleibt dann kein Raum mehr (vgl. den nicht publizierten
Entscheid KH vom 13. Oktober 1961 i.S. Fredy Bührlen c. Zug). Würde der
Begriff der Verführung soweit gespannt, dass auch derartige Fälle unter
Art. 194 Abs. 1 StGB fielen, führte dies zu dem vom Gesetz nicht gewollten
Ergebnis, dass die Unzucht mit einem gleichgeschlechtlichen Jugendlichen
an sich strafbar wäre.

    Im vorliegenden Fall ist daher zu prüfen, ob die homosexuellen
Handlungen des H. X. mit dem Jugendlichen M. Y. auf Beeinflussung durch
jenen zurückzuführen oder aber ohne eine solche verübt worden seien.

Erwägung 2

    2.- Nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz kann kein
Zweifel darüber bestehen, dass es sich bei M. Y. im Tatzeitpunkt um
einen eigentlichen Strichjungen gehandelt und dieser den Angeklagten auf
dem Strichgange angetroffen hat. M. Y. befand sich in einem Gebiete der
Stadt, in dem sich Homosexuelle zu treffen pflegen, auf der Suche nach
einem Abenteuer. Er gab H. X. bei der Begegnung mit Blicken und durch
Zulächeln seine Absicht zu verstehen, sich mit ihm auf ein solches
Abenteuer einzulassen, und war denn auch auf dem Zimmer mit allen
Perversitäten bedenkenlos einverstanden.

    Bei dieser für den Kassationshof verbindlich festgestellten Sachlage
kann mit der Vorinstanz von einer Verführung des M. Y. durch H. X. zu
den zwischen ihnen vorgefallenen unzüchtigen Handlungen nicht mehr die
Rede sein. Denn es bleibt hier schlechthin kein Raum mehr für die nach
Art. 194 Abs. 1 StGB unerlässliche Bestimmung oder doch Mitbestimmung des
Willens des Jugendlichen, sich der Unzucht hinzugeben. Es muss deshalb beim
Freispruch von der Anklage gemäss Art. 194 Abs. 1 StGB durch die Vorinstanz
sein Bewenden haben. Die hiegegen gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde
ist abzuweisen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.