Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 200



90 IV 200

41. Urteil des Kassationshofes vom 30. Oktober 1964 i.S. Meier gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 191 Ziff. 2 StGB.

    Unzüchtiges Reden fällt nicht unter den Begriff der unzüchtigen
Handlung (Erw. 1).

    Es kann aber unter Umständen als Versuch zu einer solchen Handlung
oder als unzüchtige Belästigung im Sinne von Art. 205 StGB strafbar sein
(Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Meier sprach am 5. Februar 1963 in Zürich drei Sekundarschülerinnen
im Alter von 15 Jahren an und lud sie ein, mit ihm in ein Kaffeehaus
zu kommen. Dort äusserte er sich ihnen gegenüber in grob unzüchtiger
Weise über geschlechtliche Dinge und Vorgänge, die er teils mit den
Händen erläuterte. Er redete davon auch noch, als sie sich wieder auf
der Strasse befanden.

    B.- Meier wurde der Unzucht vor Kindern im Sinne von Art. 191 Ziff. 2
Abs. 3 StGB angeklagt.

    Das Bezirksgericht Zürich sprach Meier frei. Auf Berufung der
Staatsanwaltschaft hin erklärte ihn das Obergericht des Kantons Zürich
dagegen am 21. Januar 1964 im Sinne der Anklage schuldig und verurteilte
ihn zu einer bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafe von zwei Monaten.

    C.- Der Verurteilte führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
das Urteil des Obergerichts aufzuheben und die Sache zur Freisprechung
an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Meier bestreitet den unzüchtigen Charakter seiner Äusserungen nicht,
macht jedoch geltend, blosses Reden könne nicht als Handlung im Sinne
von Art. 191 Ziff. 2 StGB gelten.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich beantragt, die Beschwerde
abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Kassationshof hat sich mit der Frage, ob unzüchtiges Reden mit
einem Kinde als unzüchtige Handlung gelten könne, bereits in BGE 89 IV 12
Erw. 2 befasst, allerdings ohne dazu abschliessend Stellung zu nehmen. Wie
dort ausgeführt worden ist, will Art. 191 StGB die geschlechtliche
Unversehrtheit des Kindes in körperlicher wie in seelischer Hinsicht
schützen. In seiner sittlichen Entwicklung gefährdet oder geschädigt werden
kann ein Kind aber nicht nur durch geschlechtliche Handlungen, die mit ihm
oder vor seinen Augen vorgenommen werden; schamlose Redensarten können
ihm ebenso schaden, unter Umständen sogar mehr als gewisse Berührungen,
die nach der Rechtsprechung als unzüchtig zu gelten haben. Wer die
geschlechtliche Neugierde von Schülerinnen zu wecken versucht, indem er
ihnen unflätige Geschichten erzählt, wie der Beschwerdeführer, erscheint
grundsätzlich nicht minder strafwürdig als derjenige, der aus Sinnenlust
einem fünfzehnjährigen Mädchen über den Strümpfen die Beine streichelt
oder ihm über den Kleidern an die Brüste greift (s. nicht veröffentlichte
Urteile des Kassationshofes vom 5. April 1944 i.S. Gnädiger und vom
2. Februar 1951 i.S. Furrer; ferner BGE 70 IV 211, 78 IV 164).

    Es entspräche daher zweifellos nicht nur dem Zweck des Gesetzes,
sondern angesichts der steten Zunahme von Sittlichkeitsdelikten auch
einem kriminalpolitischen Bedürfnis, wenn zumindest grob unzüchtige
Äusserungen gegenüber einem Kinde, wie sie hier vorliegen, geahndet werden
könnten. Der Wortlaut des Art. 191 Ziff. 2 Abs. 3 StGB, der unzüchtige
Handlungen vor einem Kinde unter Strafe stellt, schlösse den Einbezug
solcher Äusserungen nicht notwendig aus. Fragen kann sich nur, ob die
Bestimmung losgelöst von den andern zum Schutze der geschlechtlichen
Freiheit und Ehre erlassenen Normen ausgelegt werden darf und ob sich
das insbesondere mit den vorgesehenen Strafandrohungen verträgt.

    a) Das Gesetz verwendet den Begriff der (unzüchtigen) Handlung in
zahlreichen Bestimmungen des fünften Titels (Art. 187-212). Inbezug auf
Art. 203 wurde gestützt auf die Gesetzesmaterialien bereits entschieden,
dass der Begriff nicht im weitesten Sinne, sondern bloss als Tat im
Gegensatz zum Wort zu verstehen sei (BGE 70 IV 85). Sinn und Wortlaut
der übrigen Bestimmungen sprechen ebenfalls dafür, dass unzüchtiges
Reden nicht unter den Begriff der unzüchtigen Handlung fällt. So können
die Tatbestände, in denen das Opfer durch Drohung oder andere Mittel zur
Vornahme oder Duldung unzüchtiger Handlungen veranlasst wird (Art. 188,
194 Abs. 1 und 2), nur dahin ausgelegt werden, dass der Täter es auf
körperliche Betätigungen, d.h. auf eigentliche Unzuchtshandlungen wie
Berührungen, Entblössungen und dergleichen, abgesehen haben muss. Das
gleiche gilt von den Bestimmungen, welche unzüchtige Handlungen mit dem
Opfer unter Strafe stellen (Art. 189 Abs. 2, 190 Abs. 2, 191 Ziff. 2
Abs. 1, 192 Ziff. 2 Abs. 1, 193 Abs. 2). Die romanischen Gesetzestexte,
die hiefür durchwegs die Wendung "sur une personne", bzw. "sopra una
persona" gebrauchen, lassen keine Zweifel darüber offen, dass diese Normen
körperlichen Kontakt voraussetzen. Bei den Tatbeständen der Verleitung
zu unzüchtigen Handlungen (Art. 191 Ziff. 2 Abs. 2, 192 Ziff. 2 Abs. 2)
können ebenfalls nur Handlungen gemeint sein, die am eigenen oder an
einem fremden Körper vorgenommen werden (BGE 89 IV 12).

    Lässt das Gesetz aber in all den angeführten Bestimmungen insofern
einen einheitlichen Begriff der (unzüchtigen) Handlung erkennen, als
es darunter bloss Taten, nicht aber Worte versteht, so hat sich die
Auslegung auch bei Art. 191 Ziff. 2 Abs. 3 daran zu halten, mündliche
Äusserungen folglich auszunehmen. Diese Folgerung deckt sich sowohl mit
dem allgemeinen Sprachgebrauch wie mit der im Schrifttum vorherrschenden
Auffassung (HAFTER, Bes. Teil I 131 f.; Komm. LOGOZ, Art. 191 N. 3
lit. b; s. ferner Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen,
Bd. 12 S. 42 f. und dort angeführtes deutsches Schrifttum). Soweit man
sich bei den Beratungen des Gesetzes mit der Frage überhaupt befasst
hat, steht sie zudem im Einklang mit dessen Entstehungsgeschichte
(Prot. 2. Exp. Kom. Bd. 3 S. 259, 262 Abs. 1, Voten von Zürcher, Gautier
und Hafter; vgl. ferner ZÜRCHER, Erläuterungen zum VE von 1908 S. 248).

    b) Die gegenteilige Auffassung hätte gemäss Art. 191 Ziff. 2 StGB
zur Folge, dass unzüchtige Äusserungen gegenüber einem Kinde stets
mit Gefängnis (Abs. 4), bei Vorliegen eines besondern Verhältnisses
zwischen Täter und Opfer sogar mit Gefängnis nicht unter drei Monaten
(Abs. 5) bestraft werden müssten. Das wäre aber schwer mit Art. 204
Ziff. 2 StGB zu vereinbaren, wo demjenigen, der einer Person unter
achtzehn Jahren, also auch einem Kinde, unzüchtige Schriften, Bilder,
Filme und dergleichen übergibt oder vorzeigt, bloss Gefängnis oder Busse
angedroht wird. Bildliche Darstellungen sind für die kindliche Phantasie
zweifellos gefährlicher als blosse Redensarten. Ebenso prägt sich die
Lektüre schmutziger Geschichten dem Kinde im allgemeinen tiefer ein
als ihr blosses Anhören. Wer sich einem Kinde gegenüber in unflätigen
Worten äussert, kann daher nicht schlechter gestellt sein als derjenige,
der ihm pornographische Erzeugnisse, insbesondere Bilder zuhält. Die
Unstimmigkeiten in den Strafandrohungen liessen sich entgegen der
Auffassung der Vorinstanz nicht dadurch beheben, dass das Vorzeigen
unzüchtiger Bilder, Schriften usw. an Kinder ebenfalls nach Art. 191
Ziff. 2 Abs. 3 StGB geahndet würde. Abgesehen davon, dass damit der
Begriff der unzüchtigen Handlung in dieser Bestimmung nochmals weiter
ausgelegt würde als in den andern, könnte jedenfalls in der Übergabe
solcher Gegenstände an Kinder keine "unzüchtige Handlung vor einem Kinde"
erblickt werden; diesfalls müsste es so oder anders bei der Anwendung
von Art. 204 Ziff. 2 bleiben. Eine solche unterschiedliche Behandlung von
gleichartigen Fällen nach verschiedenen Bestimmungen wäre jedoch sachlich
nicht gerechtfertigt. Sie entbehrte zudem der gesetzlichen Grundlage,
denn es ist offensichtlich, dass Art. 204 Ziff. 2 auch im Verhältnis zu
Art. 191 eine Sonderbestimmung darstellt, dieser Norm folglich vorgeht.

    Schon diese Folgen zeigen, dass es den dem Gesetz zugrunde liegenden
Wertungen widerspricht, unzüchtiges Reden mit einem Kinde nach Art. 191
Ziff. 2 StGB ahnden zu wollen. Die Mindeststrafen dieser Bestimmung
sind insbesondere im Verhältnis zu derjenigen des Art. 204 Ziff. 2
StGB ein deutlicher Hinweis darauf, dass die Norm nur auf eigentliche
Unzuchtshandlungen Anwendung findet, und dass unzüchtige Äusserungen als
solche, mögen sie noch so derb sein, von ihr nicht erfasst werden. Dies
befriedigt freilich nicht. Eine befriedigende Lösung ist jedoch nur
durch eine Sonderbestimmung zu erreichen, die nicht auf dem Wege freier
richterlicher Rechtsfindung, sondern allein vom Gesetzgeber eingeführt
werden kann.

Erwägung 2

    2.- Das heisst nicht, dass der Beschwerdeführer straflos bleiben müsse.
Unzüchtige Redensarten, die in Verfolgung einer Unzuchtshandlung geführt
werden, können als Versuch hiezu erfassbar sein. Das Obergericht schliesst
diese Möglichkeit nicht aus. Es stellt vielmehr fest, dass der Angeklagte
mit seinen Erzählungen und insbesondere mit seinen Einladungen zur
Besichtigung des "Ateliers" und des "Negerzimmers" offensichtlich darauf
ausgegangen sei, die Mädchen für weitere Unterhaltungen gleicher Art zu
gewinnen oder sie gar zu körperlichen Unzuchtshandlungen vorzubereiten.

    Unzüchtiges Reden kann zudem als unzüchtige Belästigung im
Sinne von Art. 205 StGB strafbar sein. Dass der Beschwerdeführer in
unzüchtiger Absicht gehandelt hat, kann nach dem angefochtenen Urteil
nicht zweifelhaft sein, ebensowenig dass er jemanden, der ihm dazu keinen
Anlass gegeben hat, öffentlich belästigt hat. Öffentlich begangen ist
die Belästigung schon, wenn nach den Umständen, insbesondere nach den
örtlichen Verhältnissen, bloss möglich war, dass anwesende oder zufällig
hinzukommende unbeunbestimmte Dritte sie wahrnehmen (vgl. BGE 78 IV 165
Erw. 4). Das traf hier zu. Nach Zeugenaussagen konnte übrigens zumindest
eine Drittperson das Gespräch mitverfolgen.

    Das Obergericht hat diese Möglichkeiten, den Beschwerdeführer zu
bestrafen, zu prüfen und je nach dem Ergebnis neu zu urteilen, sofern
dies nach dem kantonalen Prozessrecht noch möglich ist; andernfalls hat
es ihn freizusprechen.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird dahin gutgeheissen, dass das Urteil
des Obergerichtes des Obergerichtes des Kantons Zürich vom 21. Januar
1964 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz
zurückgewiesen wird.