Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 149



90 IV 149

33. Urteil des Kassationshofes vom 1. Oktober 1964 i.S. Müller gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau. Regeste

    1.  Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG ist auch bei fahrlässiger Begehung
anwendbar (Erw. 2).

    2.  Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Der Richter ist nicht verpflichtet,
die Strafmilderung eintreten zu lassen, wenn sie nach den Umständen nicht
gerechtfertigt erscheint (Erw. 4).

    3.  Art. 48 Ziff. 2 StGB. Bemessung der Busse nach dem Verschulden
und den finanziellen Verhältnissen des Täters (Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Der 1944 geborene Student Müller fuhr am 31. Mai 1963 gegen 17 Uhr
mit dem Personenauto seines Vaters auf der Surbtalstrasse von Endingen
Richtung Lengnau. Nachdem er bei der Surbbrücke ausserhalb Endingen mit
einer Geschwindigkeit von über 100 km/Std einen andern Personenwagen
überholt hatte, setzte er die Fahrt auf der linken Strassenseite fort,
um auch noch einen vor diesem fahrenden Militärjeep zu überholen, dessen
Führer an der unmittelbar bevorstehenden Abzweigung nach Vogelsang
nach links abbiegen wollte und diese Absicht durch Betätigung des
linken Blinklichtes und dadurch, dass er hart der Leitlinie entlang
fuhr, rechtzeitig angezeigt hatte. Auf der Höhe der Abzweigung kam
es zwischen dem Wagen Müllers und dem in diesem Augenblick nach links
abbiegenden Militärjeep zu einem heftigen Zusammenstoss mit erheblichem
Sachschaden. Der Führer des Militärfahrzeuges, das sich überschlug,
wurde auf die Strasse geschleudert, erlitt aber nur eine leichte
Hirnerschütterung und geringfügige Verletzungen. Dieser hat den gegen
Müller wegen Körperverletzung gestellten Strafantrag wieder zurückgezogen.

    B.- Das Obergericht des Kantons Aargau verurteilte Müller am 23. Juni
1964 in Anwendung von Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG zu 14 Tagen Gefängnis,
bedingt vollziehbar, und zu Fr. 300. - Busse.

    C.- Müller führt gegen dieses Urteil Nichtigkeitsbeschwerde mit dem
Antrag, es sei aufzuheben und die Sache an das Obergericht zurückzuweisen,
damit es in Anwendung von Art. 90 Ziff. 1 SVG und Art. 100 StGB nur auf
Busse erkenne.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer bestreitet mit Recht nicht, dass er durch
regelwidriges Verhalten auf der Strase das Vergehen des Art. 90 Ziff. 2
Abs. 1 SVG objektiv erfüllt hat. Dass er ungeachtet der erkennbaren
Absicht des Jeepführers, nach links abzubiegen, dessen Fahrzeug mit einer
Geschwindigkeit von über 100 km/Std an einer Strassenverzweigung überholte,
stellt in der Tat einen groben Verstoss gegen Art. 35 Abs. 5 SVG dar. Die
Gefahr, die er dadurch für Leib oder Gesundheit anderer hervorrief,
war auch unzweifelhaft eine ernstliche, kam es doch zu einem heftigen
Zusammenstoss mit dem zu überholenden Militärjeep und ist dessen Führer
dabei verletzt worden.

    Dem angefochtenen Urteil lässt sich nicht entnehmen, dass der
Beschwerdeführer die Gefahr vorsätzlich oder doch eventualvorsätzlich
herbeigeführt habe. Seine Darstellung, er habe keine Anzeichen für ein
Linksabbiegen des Jeeps festgestellt, insbesondere das Blinklicht nicht
gesehen und auf der nur wenig über 6 m breiten Surbtalstrasse auch nicht
bemerkt, dass der Jeep gegen die Strassenmitte eingespurt habe, ist vom
Obergericht nicht widerlegt worden. Dieses stellt auch keine Erwägungen
darüber an, dass der Beschwerdeführer im Bewusstsein der möglichen
Gefährdung anderer sich mit einer solchen innerlich abgefunden habe. Es
ist daher davon auszugehen, dass ihm bloss Fahrlässigkeit vorgeworfen
wird, und sein Einwand zu prüfen, dass in diesem Falle Art. 90 Ziff. 1
SVG hätte angewendet werden müssen, nicht Ziff. 2, da diese Bestimmung
bloss bei vorsätzlichem Handeln anwendbar sei.

Erwägung 2

    2.- Nach der allgemeinen Regel des Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 SVG,
die für alle im Strassenverkehrsgesetz umschriebenen Straftatbestände,
auch die Vergehen, Geltung hat, ist neben der vorsätzlichen stets auch
die fahrlässige Begehung strafbar, sofern das Gesetz es nicht ausdrücklich
anders bestimmt. Wo das SVG eine Strafbestimmung nur auf die vorsätzlich
begangene Tat angewendet wissen will, gebraucht es regelmässig die
eindeutige Wendung "wer vorsätzlich ....." (vgl. Art. 91 Abs. 3, 93 Ziff. 1
Abs. 1, 97 Ziff. 1 Abs. 4 und 7, 98 Abs. 1 SVG). Davon ist in Art. 90 SVG
keine Rede, weder in Ziff. 1 noch in Ziff. 2. Zu Zweifel könnte einzig
der in Ziff. 2 Abs. 1 verwendete Ausdruck "oder in Kauf nimmt" Anlass
geben. SCHULTZ (Strafbestimmungen des SVG, S. 169) schliesst denn auch
daraus, dass diese Bestimmung auf den fahrlässig handelnden Täter nicht
anwendbar sei.

    Dieser Auffassung steht aber schon die Entstehungsgeschichte entgegen.
Ziff. 2 des Art. 90 SVG geht auf den Antrag Kistler zurück, der Art. 83
Abs. 1 des bundesrätlichen Entwurfes (heute Art. 90 Ziff. 1 SVG) durch
zwei Absätze dahin erweitern wollte, dass die rücksichtslose Verletzung
von Verkehrsregeln oder die Gefährdung anderer mit Gefängnis bedroht
werde und dass in diesen Fällen Art. 237 StGB keine Anwendung finde
(Prot. Komm. NR S. 368). Die nationalrätliche Kommission stimmte am
13./14. Februar 1957 diesem Antrag grundsätzlich zu und beschloss,
den neu zu schaffenden Vergehenstatbestand wie folgt zu fassen: "Wer
Verkehrsregeln ohne Rücksicht auf die Sicherheit anderer verletzt, wird
mit Gefängnis oder mit Busse bestraft", wobei darauf hingewiesen wurde,
dass auch die fahrlässige Begehung strafbar sei (Prot. Komm. NR S. 383 ff.,
Votum Pfister, S. 385). Dieser Text wurde darauf, um dem Antrag Kistler
besser Rechnung zu tragen. vom Sekretariat nochmals überarbeitet, und in
der folgenden Sitzung vom 13. März 1957 ist die neue, mit dem Wortlaut des
heutigen Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG übereinstimmende Fassung angenommen
worden. Pfister, der vorgängig die redaktionellen Änderungen erläuterte,
erklärte zum Ausdruck "oder in Kauf nimmt", es habe damit die abstrakte
Gefährdung deutlich erfasst werden wollen (Prot. Komm. NR S. 423). Das Wort
"Inkaufnehmen" hat also hier nicht den Sinn, dass der subjektive Tatbestand
(einschränkend) umschrieben werden wollte; vielmehr sollte nur verdeutlicht
werden, dass das objektive Merkmal der Gefährdung nicht erst erfüllt sei,
wenn eine ernstliche Gefahr konkret eingetreten sei (hervorgerufen wurde),
sondern - im Gegensatz zu Art. 237 StGB - schon dann, wenn es der Täter
zur blossen Möglichkeit einer solchen Gefährdung habe kommen lassen. Der
irreführenden Wendung "oder in Kauf nimmt" darf daher keine weitergehende
Bedeutung beigemessen werden, als ihr tatsächlich zukommt. Dass mit ihr
nicht gesagt werden wollte, der Täter müsse die Gefährdung mindestens
mit Eventualdolus bewirkt haben, bestätigen auch die Beratungen im
Nationalrat. Berichterstatter Guinand stellte unter Hinweis auf Art. 100
Ziff. 1 Abs. 1 SVG (damals Art. 93 Ziff. 1) ausdrücklich fest, dass sowohl
die vorsätzliche als auch die fahrlässige Gefährdung unter Art. 90 Ziff. 2
Abs. 1 falle (StenBull NR 1957 S. 268).

    Die Auslegung des Gesetzes führt zum gleichen Ergebnis. Der
Vergehenstatbestand des Art. 90 Ziff. 2 SVG wurde in erster Linie
geschaffen, um in diesen Fällen die Anwendung des Art. 237 StGB
auszuschliessen. Nach Art. 90 Ziff. 2 Abs. 2 SVG umfasst dieser Ausschluss
Art. 237 StGB in seiner Gesamtheit, Ziff. 1 wie Ziff. 2, was nur heissen
kann, dass Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 auch auf die fahrlässige Begehung
anwendbar ist. Wäre es anders, müsste die fahrlässige Gefährdung entweder
wiederum nach Art. 237 Ziff. 2 StGB oder aber auf Grund von Art. 90
Ziff. 1 SVG geahndet werden. Diese Folge wäre unhaltbar, weil die Tat trotz
grober Verletzung von Verkehrsregeln und ernstlicher Gefährdung nur mit
Haft oder Busse bestraft werden könnte, jene wäre widersinnig, weil dann
der objektive Tatbestand bei vorsätzlichem und fahrlässigem Handeln nicht
der gleiche wäre und zudem die unterschiedliche Handhabung des Art. 237
StGB bestehen bliebe, was mit Art. 90 SVG gerade verhindert werden wollte.

    Die Auffassung, der Tatbestand des Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG sei
ein Vorsatzdelikt, lässt sich auch nicht damit begründen, dass bei
grober Verletzung von Verkehrsregeln und Hervorrufung einer ernstlichen
Gefahr praktisch immer auch der Gefährdungsvorsatz, zumindest in der
Eventualform, gegeben sei (SCHULTZ, aaO S. 171). In Fällen, wo der Täter
Verkehrsregeln vorsätzlich grob verletzt, mag diese Annahme weitgehend
zutreffen; Ausnahmen sind indessen auch hier möglich. Vor allem ist
nicht zu übersehen, dass eine grobe Verletzung von Verkehrsregeln,
die zu einer ernstlichen Gefahr für andere führt, auch auf blosser
Fahrlässigkeit beruhen kann und in diesen nicht seltenen Fällen wird der
Nachweis eines Gefährdungsvorsatzes schwerlich zu erbringen sein. Art. 90
Ziff. 2 Abs. 1 muss daher auch bei fahrlässiger Begehung anwendbar sein,
wenn die Bestimmung ihren Zweck erfüllen soll.

Erwägung 3

    3.- Die Frage, ob Art. 90 Ziff. 2 Abs. 1 SVG bei fahrlässigem Handeln
grobe Fahrlässigkeit voraussetze, was davon abhangt, ob der Ausdruck
"grobe Verletzung" sich auch auf den subjektiven Tatbestand beziehe, kann
hier offen bleiben. Das Verschulden des Beschwerdeführers, der in hohem
Masse leichtfertig überholt hat und die Gefährlichkeit seines Unternehmens
hätte erkennen können, ist in jedem Falle schwer. Die Vorinstanz, die
ebenfalls davon ausgegangen ist, hat daher zu Recht Art. 90 Ziff. 2
Abs. 1 angewendet.

Erwägung 4

    4.- Der Beschwerdeführer hat die Tat kurz vor Vollendung des 19.
Altersjahrs verübt, so dass an sich der Strafmilderungsgrund des Art. 100
Ziff. 1 Abs. 1 StGB gegeben ist. Der Richter ist jedoch auch beim Vorliegen
eines Strafmilderungsgrundes nicht verpflichtet, die Strafmilderung gemäss
Art. 65 StGB eintreten zu lassen, sondern er kann die Anwendung dieser
Bestimmung ablehnen und dem Strafmilderungsgrund bloss innerhalb des
angedrohten ordentlichen Strafrahmens Rechnung tragen, wenn er findet,
dass die Umstände des Falles eine Milderung nicht rechtfertigen (BGE
71 IV 80/81, Urteil des Kassationshofes vom 3. Oktober 1948 i.S. Hug,
BGE 83 IV 189 Nr. 53). Das Obergericht hat von diesem Ermessen Gebrauch
gemacht, ohne es zu überschreiten. Es führt aus, dem Verschulden des
Beschwerdeführers sei allein eine Gefängnisstrafe in Verbindung mit Busse
angemessen. Damit wollte es, wie sich aus den vorangegangenen Erwägungen
ergibt, sagen, dass angesichts der Schwere des Verschuldens und der Tat,
die aus blossem Zufall nicht zu einem Unglück mit tödlichem Ausgang
geführt habe, die mildere Strafe (Haft oder Busse), auf die nach Art. 65
heruntergegangen werden müsste, nicht gerechtfertigt sei.

    Im Urteilsdispositiv wird allerdings die Anwendung von Art. 100 StGB
erwähnt. Dieser Hinweis, der nicht zutrifft, da die Strafmilderung
abgelehnt und somit Art. 100 StGB nicht angewendet wurde, beruht
offensichtlich auf einem Versehen und ist zu berichtigen.

Erwägung 5

    5.- a) Die Behauptung des Beschwerdeführers, das Obergericht habe
bei der Strafzumessung zu sehr auf den Erfolg statt auf das Verschulden
abgestellt, trifft nicht zu. Es geht davon aus, dass das Verschulden des
Beschwerdeführers auch dann schwer bleibe, wenn es einem blossen Zufall
zuzuschreiben sei, dass die von ihm schuldhaft herbeigeführte schwere
konkrete Gefährdung nur leichte, nicht schwere Verletzungen oder den Tod
des Jeepführers zur Folge gehabt habe, wie es nach dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge zu erwarten gewesen wäre. Diese Betrachtungsweise ist richtig.

    Eine Verletzung des Art. 63 StGB läge im übrigen nur vor, wenn
die ausgefällte Strafe von 14 Tagen Gefängnis willkürlich hoch, mit
sachlichen Gründen nicht zu vertreten wäre. Dass dies der Fall sei,
behauptet auch der Beschwerdeführer nicht. Insbesondere ist nicht
zu ersehen, dass und welche Umstände, die gemäss Art. 63 neben dem
Verschulden mitzuberücksichtigen sind, ausser acht gelassen worden
wären. Jedenfalls vermag der Beschwerdeführer keinen Grund zu nennen,
der zu einer geringeren Strafe hätte führen müssen, also geeignet wäre,
den Vorwurf willkürlicher Strafzumessung zu begründen.

    b) Eine Verletzung des Art. 48 Ziff. 2 Abs. 1 und 2 StGB sieht der
Beschwerdeführer darin, dass ihm als Student ohne Einkommen eine Busse
von Fr. 300. - auferlegt worden ist. Art. 48 Ziff. 2 StGB schreibt
jedoch nicht vor, dass die Busse ausschliesslich oder vorwiegend nach
den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters zu bemessen sei, sondern
massgebend ist in erster Linie die Schwere des Verschuldens. In dieser
Hinsicht war eine verhältnismässig hohe Busse am Platze. Unter dem
Gesichtspunkt der persönlichen Verhältnisse, auf die bei der Bemessung
der Busse Rücksicht zu nehmen ist, durfte aber auch in Rechnung gestellt
werden, dass der Beschwerdeführer zur Bestreitung seiner Bedürfnisse von
seinen Eltern einen ihren finanziellen Verhältnissen entsprechend hohen
Betrag an Taschengeld erhält. Nach Art. 48 Ziff. 2 kommt es nur auf die
tatsächliche finanzielle Leistungsfähigkeit des Täters an, nicht darauf,
welcher Art ihr Entstehungsgrund ist. Es kann daher nicht gesagt werden,
die Vorinstanz habe den höchstpersönlichen Charakter der Busse missachtet,
ebensowenig, der Bussenbetrag von Fr. 300.-- belaste den Beschwerdeführer
willkürlich hart.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.