Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 IV 1



90 IV 1

1. Urteil des Kassationshofes vom 6. März 1964 i.S. Staatsanwaltschaft des
Kantons Zürich gegen Spiess. Regeste

    Art. 100, 65 StGB, 96 Ziff. 2 SVG; Strafmilderung.

    Art. 100 Ziff. 1 StGB ist auch bei Widerhandlungen gegen das
Strassenverkehrsgesetz anwendbar. Lautet die ordentliche Strafdrohung
auf Busse mit besonders bestimmter Mindesthöhe, so kann im Falle der
Strafmilderung auf Busse ohne besondere untere Grenze erkannt werden.

Sachverhalt

    A.- Forrer nahm am 26. Oktober 1963 zusammen mit Spiess am
eingestellten Personenauto seines Vaters, das keine Kontrollschilder trug
und für das keine Haftpflichtversicherung bestand, Reparaturarbeiten
vor. Um den Motor in Gang zu setzen, schob er mit Hilfe anderer den
Wagen auf der Dorfstrasse in Oberglatt 150 m weit und wieder zurück,
während Spiess am Steuer sass und das Fahrzeug lenkte. Ungefähr 10-20 m
vor dem Ausgangspunkt sprang der Motor an, so dass der Wagen den letzten
Teil der Strecke aus eigener Kraft zurücklegte.

    B.- Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte am 29.  Januar 1964
Spiess wegen Führens eines Motorfahrzeuges ohne Kontrollschilder und
ohne Haftpflichtversicherung in Anwendung von Art. 96 Ziff. 1 und 2 SVG
zu einer Busse von Fr. 50.-. Bei der Bemessung der Busse berücksichtigte
es als Strafmilderungsgrund im Sinne des Art. 100 StGB, dass Spiess im
Zeitpunkt der Tat erst 18 Jahre alt war.

    C.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich führt
Nichtigkeitsbeschwerde. Sie beantragt, das Urteil des Bezirksgerichts
aufzuheben und die Vorinstanz anzuweisen, Spiess mindestens mit einer
Busse in der Höhe einer Jahresprämie der Haftpflichtversicherung, d.h. im
Mindestbetrag von Fr. 393. -, zu bestrafen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wer ein Motorfahrzeug führt, obwohl er wusste oder bei
pflichtgemässer Aufmerksamkeit wissen konnte, dass die vorgeschriebene
Haftpflichtversicherung nicht besteht, wird gemäss Art. 96 Ziff. 2 SVG
mit Gefängnis und mit Busse bestraft. Ferner bestimmt die Vorschrift,
dass die Busse mindestens einer Jahresprämie der Versicherung für das
Fahrzeug gleichkommen müsse.

    Nach Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 StGB kann der Richter die Strafe nach
den Bestimmungen des Art. 65 StGB mildern, wenn der Täter die Tat als
Minderjähriger im Alter zwischen 18 und 20 Jahren begangen hat. Die
Staatsanwaltschaft behauptet mit Recht nicht, dass Art. 100 Ziff. 1 StGB
auf Minderjährige, die sich als Motorfahrzeugführer einer Widerhandlung
im Strassenverkehr schuldig machen, keine Anwendung finde. Eine
solche Auffassung verstiesse gegen Art. 102 Ziff. 1 SVG, der unter dem
Vorbehalt, dass im SVG keine abweichenden Vorschriften aufgestellt sind,
die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches ausdrücklich als
anwendbar erklärt. Tatsächlich enthält das Strassenverkehrsgesetz keine
Vorschrift, welche die Anwendung des Art. 100 Ziff. 1 StGB ausschlösse. Die
Beschwerdeführerin beanstandet auch nicht, dass die Vorinstanz von dem
ihr in Art. 100 Ziff. 1 Abs. 1 StGB eingeräumten Ermessen insoweit einen
unzulässigen Gebrauch gemacht habe, als sie von einer Gefängnisstrafe,
die in Art. 96 Ziff. 2 SVG kumulativ neben Busse angedroht wird, absah und
bloss auf Busse erkannte. Mit der Beschwerde wird dagegen geltend gemacht,
die in Art. 96 Ziff. 2 SVG vorgeschriebene Mindesthöhe der Busse hätte
nicht unterschritten werden dürfen, da Art. 65 StGB für diesen Fall keine
Strafmilderung vorsehe.

Erwägung 2

    2.- In Art. 65 StGB werden für alle im besondern Teil vorgesehenen
Zuchthaus- und Gefängnisstrafen ausserordentliche Strafrahmen festgesetzt,
die es dem Richter, der die Strafe mildern will, ermöglichen, unter die
ordentlicherweise angedrohte Mindeststrafe hinunterzugehen. Art. 107 StGB,
der Art. 65 ergänzt, ordnet die Strafmilderung bei Haftstrafen dahin,
dass an ihrer Stelle auf Busse zu erkennen ist. Wie die Strafmilderung
vorzunehmen ist, wenn die ordentliche Strafdrohung auf Busse mit besonders
bestimmtem Mindestbetrag lautet, sagt das Gesetz nicht. Das Fehlen
einer Bestimmung, die diesen Fall regelt, ist offensichtlich darauf
zurückzuführen, dass das Strafgesetzbuch überall, wo es Busse vorsieht,
diese schlechthin androht, also nirgends eine besondere Begrenzung nach
unten festlegt, was dem Richter erlaubt, mildernden Umständen stets
innerhalb des ordentlichen Strafrahmens Rechnung zu tragen. Das bedeutet
aber nicht, dass bei Widerhandlungen, die in andern Bundesgesetzen mit
Busse von besonders bestimmter Mindesthöhe bedroht sind (vgl. z.B. Art. 39
ff. des Bundesgesetzes über Jagd und Vogelschutz, Art. 31 des
Bundesgesetzes betr. die Fischerei, Art. 46 des Bundesgesetzes betr. die
Oberaufsicht über die Forstpolizei), eine Strafmilderung ausgeschlossen
sei. Insoweit auf die in andern Bundesgesetzen unter Strafe gestellten
Taten die allgemeinen Bestimmungen des Strafgesetzbuches, insbesondere
jene über die Strafzumessung, anwendbar sind (Art. 333 StGB), müssen auch
dort die allgemeinen Strafmilderungsgründe wie diejenigen des Art. 64,
100 StGB usw. berücksichtigt und die Strafmilderungen zudem im Strafmass
hinreichend zum Ausdruck gebracht werden können. Letzteres ergibt sich aus
Art. 65 und 107 StGB, und dieser Grundsatz gilt seinem Sinne nach nicht
nur für Freiheitsstrafen, sondern für alle Strafarten. Das heisst, dass
auch dann, wenn der Richter beim Vorliegen eines Strafmilderungsgrundes
eine mildere Strafe als die angedrohte Mindestbusse ausfällen will, ein
erweiterter Strafrahmen zur Verfügung stehen muss, der es ihm gestattet,
bis an die untere Grenze der Strafart zu gehen. Weshalb diese bei Zuchthaus
und Gefängnis mit besonders bestimmter Mindestdauer geltende Regel nicht
auch bei Bussen mit besonders bestimmter Mindesthöhe entsprechend Anwendung
finden soll, wäre nicht zu ersehen.

    Es besteht auch kein Grund, bei Widerhandlungen gegen Art. 96 Ziff. 2
SVG die Anwendung des Art. 100 Ziff. 1 StGB deswegen auszuschliessen, weil
der Gesetzgeber Jugendliche im Alter von 18 Jahren für reif genug ansieht,
ein Motorfahrzeug zu führen. Die Art. 100 StGB zugrundeliegende Überlegung,
dass bei Minderjährigen im Alter von 18-20 Jahren die Entwicklung der
Erkenntnis- und Willensfähigkeiten noch nicht abgeschlossen ist und dass
darin strafrechtlich ein Grund liegt, der ihre Schuld mindert, braucht
nicht notwendig mit den Gründen übereinzustimmen, die für die Erteilung
des Führerausweises an 18-Jährige massgebend sind.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.