Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 II 302



90 II 302

35. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 7. Juli 1964 i.S. Bank
X gegen Unlted Commercial Bank Ltd. Regeste

    Akkreditiv.

    Einheitliche Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive,
Art. 10.

    Rechtsverhältnis zwischen den beteiligten Banken. Ansprüche der
remboursfordernden Bank gegenüber der akkreditiveröffnenden Bank, welche
die Aufnahme der Dokumente verweigert, aber sie trotzdem zu Verfügungen
über die Ware benützt. Bedeutung der Auffassung der Akkreditiv-Fachleute
(Erw. 1).

    Art. 66 Abs. 1 OG. Tragweite dieser Bestimmung (Erw. 2 a). Verletzung
der Weisungen des Bundesgerichts durch die Vorinstanz? (Erw. 2 b).

    Art. 8 ZGB. Verletzung durch die Nichtabnahme angebotener
Gegenbeweise? (Erw. 2 c).

Sachverhalt

    A.- Auf Grund eines Kaufvertrages über die Lieferung von Äthylalkohol
zwischen der Firma Hope Prudhomme & Co. Private Ltd in Calcutta als
Verkäuferin und der Firma Williams & Co. in Zürich als Käuferin eröffnete
das Bankgeschäft X. in Zürich im Auftrag der Käuferin zugunsten der
Verkäuferin ein unwiderrufliches Akkreditiv für den Betrag von £ 100
542.17. Die Bank X. ersuchte die United Commercial Bank in Calcutta
(im folgenden: UcoBank) das Akkreditiv der Begünstigten anzuzeigen,
aber nicht zu bestätigen. Gleichzeitig ermächtigte sie die UcoBank,
sich die Zahlung des Akkreditivbetrages zu Lasten der Bank X. durch das
Bankhaus Montagu & Co. in London vergüten zu lassen; die im Akkreditiv
vorgeschriebenen Dokumente waren jedoch an die Bank X. zu senden.

    Die UcoBank übermittelte die ihr von der Verkäuferin übergebenen
Dokumente der Bank X., wobei sie diese im Rimessenbrief darauf aufmerksam
machte, dass die Dokumente nicht in allen Punkten den Vorschriften des
Akkreditivs entsprächen; sie habe deshalb ihre Londoner Filiale angewiesen,
dem Bankhaus Montagu eine Garantieerklärung abzugeben, falls eine solche
verlangt werde.

    Als die UcoBank am 30. Januar 1961 von der Bank Montagu auf Grund
des Akkreditivs die Bezahlung von £ 95 534.3.5 verlangte, verweigerte
diese die Auszahlung unter Berufung auf eine entsprechende Weisung der
Bank X. Diese telegraphierte ihrerseits der UcoBank am 1. Februar 1961,
sie habe erfahren, dass die Dokumente (die damals noch nicht bei ihr
eingetroffen waren), nicht mit den Akkreditivbedingungen übereinstimmten;
die Aufnahme sei aber nur gegen vollständig übereinstimmende Dokumente
erlaubt und eine Aufnahme unter Vorbehalt sei unzulässig.

    Trotz dieser Erklärung benützte dann aber die Bank X. die mittlerweile
(angeblich am 3. Februar 1961) bei ihr eingegangenen Dokumente, um
die Schiffsladung von dem im Akkreditiv vorgeschriebenen englischen
Bestimmungshafen Felixstowe nach Amsterdam umzuleiten und dort einzulagern.
Der UcoBank teilte sie mit Telegramm vom 6. Februar 1961 mit, ihr Klient
habe die Dokumente der Hope Prudhomme & Co. wegen Qualitätsdifferenzen
zurückgewiesen; um jedoch die Interessen der UcoBank zu wahren, habe sie
die Ware nach Amsterdam umgeleitet und dort im eigenen Namen, aber auf
Rechnung der UcoBank eingelagert. Diese erklärte jedoch, sie sei mit
diesem Vorgehen nicht einverstanden und verlangte die Überweisung des
gemäss -Akkreditiv geschuldeten Betrages, was die Bank X. ablehnte.

    B.- Die daraufhin von der UcoBank gegen die Bank X.  erhobene Klage
auf Bezahlung des.Akkreditivbetrages von £ 95 534.3.5. nebst Zinsen wurde
vom Handelsgericht Zürich mit Urteil vom 8. März 1962 abgewiesen. In
der Begründung dieses Entscheides führte das Handelsgericht aus, die
von der Klägerin der Beklagten präsentierten Dokumente hätten nicht
den im Akkreditiv umschriebenen Bedingungen entsprochen. Die Beklagte
sei daher befugt gewesen die Aufnahme der Dokumente zu verweigern, wie
sie dies mit den Telegrammen vom 1. und 6. Februar 1961 getan habe. Dass
sie dann die Dokumente gleichwohl zur Umleitung und Einlagerung der Ware
benützte, habe zwar gegen die Vertragsbestandteil bildenden "Einheitlichen
Richtlinien und Gebräuche für Dokumenten-Akkreditive" (Fassung von 1951)
verstossen, da nach Art. 10 Abs. 3 derselben die Akkreditivbank, welche
die Aufnahme der Dokumente verweigere, diese der remboursfordernden Bank
zurücksenden oder sie ihr zur Verfügung halten müsse. Dieser Verstoss
habe aber entgegen der Auffassung der Klägerin nicht die Zahlungspflicht
der Beklagten auslösen, sondern sie höchstens schadenersatzpflichtig
machen können; ein Schadenersatzanspruch sei jedoch von der Klägerin
nicht geltend gemacht worden.

    C.- Auf die von der Klägerin eingereichte, kraft Rechtswahl der
Parteien zugunsten des schweizerischen Rechts zulässige Berufung hin
hob das Bundesgericht den Entscheid des Handelsgerichts mit Urteil vom
18. Dezember 1962 auf und wies den Fall an die Vorinstanz zurück zur
Abnahme des Beweises für die von der Klägerin aufgestellte Behauptung,
bei den Akkreditivfachleuten bestehe allgemein die Auffassung, dass eine
von Art. 10 Abs. 3 der Richtlinien abweichende Verfügung über die Dokumente
einer Aufnahme derselben gleichkomme und automatisch die Zahlungspflicht
der Akkreditivbank auslöse.

    D.- Das Handelsgericht hat zur Erfüllung der ihm im
Rückweisungsentscheid des Bundesgerichts erteilten Weisung die Vorsteher
der Akkreditivabteilungen von drei Grossbanken und drei Mittelbanken auf
dem Platz Zürich als sachverständige Zeugen einvernommen. Auf Grund von
deren Aussagen erachtete es die oben erwähnte Behauptung der Klägerin
als bewiesen und verpflichtete mit Urteil vom 5. September 1963 die
Beklagte zur Auszahlung des Akkreditivbetrages von £ 95 534.3.5 nebst 5%
Zins seit 3. Februar 1961.

    E.- Gegen das Urteil des Handelsgerichts hat die Beklagte - neben einer
erfolglosen Nichtigkeitsbeschwerde an das Kassationsgericht des Kantons
Zürich - die Berufung an das Bundesgericht ergriffen. Sie beantragt, die
Klage abzuweisen, eventuell die Sache zur Abnahme der von ihr angetragenen
Gegenbeweise an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Klägerin beantragt, die Berufung abzuweisen und das angefochtene
Urteil zu bestätigen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gegenstand des Streites der Parteien ist die Frage, welche
rechtlichen Folgen die vertragswidrige Verfügung der Beklagten über die
zurückgewiesenen Dokumente nach sich ziehe. Die Klägerin ist der Ansicht,
das Vorgehen der Beklagten sei rechtlich einer Aufnahme der Dokumente
gleichzuachten und habe darum die Zahlungspflicht aus Akkreditiv ausgelöst.
Die Beklagte nimmt demgegenüber den Standpunkt ein, die von ihr begangene
Vertragsverletzung könne der Klägerin keinen Erfüllungsanspruch, sondern
höchstens einen Schadenersatzanspruch wegen Nichterfüllung verschaffen.

    Welche dieser beiden Auffassungen zutreffe, ist Rechtsfrage. Davon
geht, entgegen den vom Handelsgericht in den Erwägungen seines zweiten
Urteils geäusserten Vermutungen, auch der Rückweisungsentscheid des
Bundesgerichts aus. Gestützt auf seine bisherige Rechtsprechung nahm
das Bundesgericht an, das interne Verhältnis der beiden am Akkreditiv
beteiligten Banken beurteile sich grundsätzlich nach den Auftragsregeln;
dabei seien jedoch die Besonderheiten zu berücksichtigen, die das
Akkreditiv kennzeichnen. Dieses betrifft ein Spezialgebiet, auf dem den
Gepflogenheiten der Praxis und den Anschauungen der Fachleute auch für die
rechtliche Beurteilung grosse Bedeutung beizumessen ist. Aus diesem Grunde
erachtete es das Bundesgericht als erforderlich, durch die Vorinstanz
abklären zu lassen, welche Bewandtnis es mit der Behauptung der Klägerin
habe, bei den Akkreditivfachleuten bestehe allgemein die Auffassung,
dass jedes von Art. 10 Abs. 3 der Richtlinien abweichende Verfügen der
Akkreditivbank über die Dokumente einer Aufnahme derselben gleichkomme. Ob
in den Kreisen der Akkreditivfachleute diese Ansicht allgemein geteilt
werde, gehört dem Bereich des Tatsächlichen an. Die vom Handelsgericht
auf dem Wege der Beweiswürdigung getroffene Feststellung, dass nach den
Aussagen der von ihm befragten Akkreditivspezialisten die Behauptung der
Klägerin tatsächlich zutreffe, bindet daher das Bundesgericht und ist bei
der Rechtsfindung in ähnlicher Weise wie ein eigentlicher Handelsbrauch
auszuwerten. Die von den befragten Akkreditivfachleuten bekundete
einhellige Meinung über die Folgen der vertragswidrigen Benützung der
als ungenügend zurückgewiesenen Dokumente lässt erkennen, dass Wesen und
Zweck des Akkreditivs gebieten, ein solches Vorgehen der Akkreditivbank
der Aufnahme der Dokumente gleichzustellen.

    Die Funktion des Akkreditivs besteht darin, zum Schutze beider
Kaufvertragsparteien die beidseitige ordnungsgemässe Vertragserfüllung
zu sichern. Der Käufer, bezw. die von ihm mit der Akkreditivstellung
beauftragte Bank, soll den Kaufpreis nur gegen Übergabe von Dokumenten
freigeben müssen, die das Vorhandensein sowie die vertragsgemässe
Beschaffenheit der Ware belegen und ihm die Verfügungsgewalt über diese
verschaffen. Der Verkäufer seinerseits soll die Dokumente nur aus der
Hand geben müssen, wenn Gewähr dafür besteht, dass ihm der in Form des
Akkreditivs bereitgestellte Kaufpreis ausbezahlt wird. Daher verpflichten
die "Richtlinien" in Art. 10 Abs. 1 die Akkreditivbank, welche die ihr
eingereichten Dokumente aufnimmt, zur Auszahlung des Akkreditivs an den
Verkäufer, bezw. an die Bank, von der die Dokumente eingereicht worden
sind. Werden diese aus irgendwelchen Gründen von der Akkreditivbank
nicht aufgenommen, so muss der Verkäufer sich darauf verlassen können,
dass sie ihm unverändert und unbeschwert zurückgegeben werden, so dass
ihm die Verfügungsgewalt über die Ware erhalten bleibt; denn nur dann
wird der Sicherungszweck erreicht, den das Akkreditiv zum Schutz des
Verkäufers zu erfüllen hat. Dieser Zweck verlangt deshalb auch, dass jedes
Verhalten der Akkreditivbank, die dem Verkäufer die Verfügungsmacht über
die Ware nimmt, die gleichen Folgen auslösen muss wie die vorbehaltlose
Aufnahme der Dokumente. Es bedeutet einen Widerspruch in sich selbst,
wenn die Akkreditivbank zwar die Dokumente als ungenügend zurückweist,
aber gleichzeitig über sie und damit über die Ware in irgendeiner Weise
verfügt. Eine solche Verfügung nimmt der Zurückweisung ihre rechtliche
Wirksamkeit; sie bedeutet die Genehmigung der Dokumente unter Verzicht auf
die zunächst ausgesprochene Beanstandung (EISEMANN, Recht und Praxis des
Dokumenten-Akkreditivs, S. 79 f.; ebenso die dort in N. 126 angeführte
englische Rechtsprechung). Die gegenteilige Lösung würde das Akkreditiv
für den Handel unbrauchbar machen, da bei ihr der Verkäufer Gefahr liefe,
die Verfügungsmacht über die Ware zu verlieren, ohne den Kaufpreis für
sie zu erhalten.

    Es ist daher auch im vorliegenden Falle anzunehmen, dass
die eigenmächtige Verfügung der Beklagten über die von ihr formell
zurückgewiesenen Dokumente die Pflicht zur Auszahlung der Akkreditivsumme
ausgelöst hat.

Erwägung 2

    2.- Die Vorbringen der Beklagten in der Berufung vermögen an diesem
Ergebnis nichts zu ändern.

    a) Die Beklagte macht geltend, das Akkreditivverhältnis sei damit
zu Ende gegangen, dass die Klägerin nicht in der Lage gewesen sei,
ordnungsgemässe Dokumente einzureichen; von diesem Zeitpunkt an habe es
sich um einen blossen Inkassoauftrag gehandelt. Zur Beurteilung stehe
daher die Frage, wie es zu halten sei, wenn ein als Akkreditivgeschäft
begonnenes Geschäft nachträglich zu einem Inkassoauftrag werde.

    Diese Ausführungen sind unzulässig. Die für den Fall der Rückweisung
in Art. 66 Abs. 1 OG ausgesprochene Bindung der kantonalen Instanz an die
dem Rückweisungsentscheid zugrunde liegende rechtliche Beurteilung gilt
auch für das Bundesgericht selbst. Denn die genannte Bestimmung beruht
auf dem Gedanken, dass die betreffende Rechtsfrage für den konkreten
Streitfall als endgültig entschieden zu gelten habe, wie dies für ein
Endurteil des Bundesgerichtes zuträfe (so auch BGE 85 IV 211 zu der
dem Art. 66 Abs. 1 OG entsprechenden Vorschrift von Art. 277ter Abs. 2
BStP). Dem Bundesgericht ist es daher verwehrt, im Falle erneuter Berufung
sein zweites Urteil auf rechtliche Gesichtspunkte zu stützen, die im
Rückweisungsentscheid abgelehnt oder - wie hier - gar nicht in Erwägung
gezogen worden waren. Infolgedessen konnte die Beklagte weder im neuen
Verfahren vor dem Handelsgericht, noch auch im zweiten Berufungsverfahren
den eingangs dargelegten Standpunkt einnehmen.

    b) Die Beklagte wirft dem Handelsgericht vor, es habe die ihm vom
Bundesgericht im Rückweisungsentscheid erteilten Weisungen nicht beachtet,
indem es nicht eine Expertise angeordnet, sondern statt dessen sechs
sogenannte fachkundige Zeugen einvernommen habe.

    Im Rückweisungsentscheid ist allerdings die Rede von einer Expertise;
wie jedoch aus den betreffenden Ausführungen ersichtlich ist, kam es dem
Bundesgericht lediglich darauf an, die Auffassungen der Akkreditivfachleute
zu kennen und von ihnen zu erfahren, wie sie einen solchen Fall abwickeln
würden. Ob die Vorinstanz befugt war, zur Abklärung dieser Frage ein
eigentliches schriftliches Gutachten einzuholen oder die Fachleute auf eine
andere Weise beizuziehen, ist eine Frage des kantonalen Prozessrechts und
daher vom Bundesgericht nicht überprüfbar. Dem Sinn der bundesgerichtlichen
Weisung hat die Vorinstanz dadurch genügt, dass sie die Vorsteher der
Akkreditivabteilungen mehrerer bedeutender Bankunternehmen anhörte.

    c) Die Beklagte macht geltend, das Handelsgericht habe die
bundesrechtlichen Vorschriften über den Beweis (Art. 8 ZGB) dadurch
verletzt, dass es den von ihr angebotenen Gegenbeweis betreffend die in
den Kreisen der Fachleute herrschenden Auffassungen nicht abgenommen habe.

    Diese Rüge ist unbegründet. Das Handelsgericht kam auf Grund der
Ausführungen der einvernommenen fachkundigen Zeugen zum Schluss, dass die
Behauptungen der Klägerin hinsichtlich der in den Fachkreisen allgemein
herrschenden Ansicht zuträfen. Die von der Beklagten verlangte Einvernahme
weiterer Fachleute bezeichnete es als unnötig, weil es das Beweisthema
durch die Aussagen der bereits angehörten Fachleute als hinlänglich
abgeklärt erachtete. Der Beweisantrag der Beklagten wurde somit auf Grund
vorweggenommener Beweiswürdigung abgelehnt. Dieses Vorgehen war mit Art. 8
ZGB vereinbar; dieser ist nur verletzt, wenn ein Beweisantrag ohne solche
Prüfung und Begründung verworfen wird...

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Handelsgerichts des
Kantons Zürich vom 5. September 1963 bestätigt.