Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 90 III 109



90 III 109

25. Urteil der II. Zivilabteilung vom 3. Dezember 1964 i.S. Konkursmasse
der Montres Mical SA gegen Scherl. Regeste

    Konkursprivileg des Agenten. Zusatz zu Art. 219 SchKG, dritte Klasse.

    Dieses Privileg gilt für die in den letzten zwölf Monaten vor der
Eröffnung des Konkurses über den Auftraggeber entstandenen Forderungen,
nicht für früher entstandene, auch wenn sie erst in jener erwähnten
Zeitspanne fällig geworden sind.

    Für die Entstehung der Provisionsforderung ist Art. 418 g Abs. 3
OR massgebend. Eine abweichende schriftliche Vereinbarung, wie sie das
Gesetz vorbehält, liegt nicht in einer bloss die Abrechnung und Bezahlung
(Art. 418 i und k OR) betreffenden Vertragsklausel.

Sachverhalt

    A.- Der in New York wohnhafte Kläger Joseph Scherl war auf Grund eines
Agenturvertrages vom 23. März 1956 "Vertreter" bezw. "Neben-Vertreter oder
Mitarbeiter" der Montres Mical SA, Biel, bei vier in New York ansässigen
Uhrenfabriken. Nach Ziff. 2 des Vertrages hatte er für alle direkten und
indirekten Aufträge jener vier Firmen eine Provision zu beziehen. Die
Ziffern 3 und 4 des Vertrages (der später bis Ende 1962 verlängert wurde)
lauten:

    "3.) Damit der Neben-Vertreter auf dem Laufenden über die ausgeführten
Aufträge ist, verpflichtet sich die Firma, ihm jeweils Kopien der
Rechnungen für alle Sendungen an die erwähnten Kunden sowie eine Gutschrift
für die ihm zukommende Provision für diese Sendungen zuzustellen.

    4.) Die Abrechnung und Bezahlung der Provision erfolgt am Ende jedes
Quartals auf die Lieferungen, die im Moment der Abrechnung an den Vertreter
voll bezahlt worden sind."

    B.- In dem am 15. November 1961 über die Montres Mical SA eröffneten
Konkurse wurde der Kläger mit einer Forderung von Fr. 40'070.20 in der
fünften Klasse kolloziert. Er erhob Kollokationsklage mit dem Begehren
um Einreihung eines Teilbetrages von Fr. 26'389.15 in der dritten
Klasse. Der Gerichtspräsident I von Biel sprach das Begehren zu. Im
Appellationsverfahren beanspruchte der Kläger das Privileg nur noch für Fr.
22'513.15, und in diesem Umfang hiess auch der Appellationshof des Kantons
Bern die Klage mit Urteil vom 28. Mai 1964 gut.

    C.- Gegen dieses Urteil hat die beklagte Konkursmasse Berufung an das
Bundesgericht eingelegt mit dem erneuten Antrag auf gänzliche Abweisung
der Klage. - Der Antrag des Klägers geht auf Abweisung der Berufung.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der streitige Anspruch auf ein Konkursprivileg der dritten Klasse
stützt sich auf den in Art. 2 der Schlussbestimmungen des Bundesgesetzes
vom 4. Februar 1949 über den Agenturvertrag vorgesehenen Zusatz zu Art. 219
SchKG, lautend:

    "Dritte Klasse

    c) Die Forderungen des Agenten, die in den letzten zwölf Monaten vor
der Konkurseröffnung aus dem Agenturvertrag entstanden sind."

    Über die Entstehung der Provisionsforderung des Agenten bestimmt der
durch das Gesetz über den Agenturvertrag aufgestellte Art. 418 g Abs. 3
OG was folgt:

    "Soweit es nicht anders schriftlich vereinbart ist, entsteht der
Anspruch auf die Provision, sobald das Geschäft mit dem Kunden rechtsgültig
abgeschlossen ist."

    Die Provisionsforderungen, für welche der Kläger das Privileg
der dritten Klasse geltend macht, beziehen sich auf Geschäfte, die
mit den Kunden schon im Jahre 1959 und im Frühling 1960 abgeschlossen
wurden. Dagegen erfolgte die Abrechnung über diese Provisionen erst am
31. Dezember 1960, 30. Juni und 8. Dezember 1961 und 15. Februar 1962,
also erst innerhalb der letzten zwölf Monate vor der Konkurseröffnung
und zum Teil erst nachher. Der erstinstanzliche Richter ist nun der
Auffassung, der in Frage stehende Zusatz zu Art. 219 SchKG sei nicht
wörtlich anzuwenden. Nach den Abmachungen der Beteiligten lägen Entstehung
und Fälligkeit der Provisionsansprüche bisweilen weit auseinander. In einem
solchen Falle müsste der Agent, wenn für das Konkursprivileg der Zeitpunkt
der Entstehung der Forderung massgebend wäre, "untätig zusehen, wie sein
Konkursprivileg entschwindet". Um ihm den Schutz des Privilegs in wirksamer
Weise zu gewähren, müsse man auf die Fälligkeitstermine abstellen. Diese
Abweichung vom deutschen Text jenes Zusatzes zu Art. 219 SchKG erscheine
als sinnvoll. Sie entspreche dem wahren Willen des Gesetzgebers. Es dürfe
umsomehr darauf abgestellt werden, als der französische Text abweichend
vom deutschen nicht von der Entstehung der Forderungen spreche, sondern
einfach laute:

    "c) les créances de l'agent en vertu du contrat d'agence pour les
douze mois qui précèdent l'ouverture de la faillite".

    Da die Fälligkeitstermine, wie sie sich aus Ziff. 4 des vorliegenden
Agenturvertrages ergeben, in das letzte Jahr vor der Konkurseröffnung
fallen, stehe das geltend gemachte Konkursprivileg dem Kläger zu. -
Der Appellationshof tritt dieser von ihm als "gewagt" bezeichneten
Auslegung des Art. 219 SchKG nicht bei. Er hält entsprechend dem
deutschen Gesetzestext den Zeitpunkt der Entstehung der Forderungen
für massgebend. Zu beachten sei dagegen der in Art. 418 g Abs. 3 OR
ausgesprochene Vorbehalt einer abweichenden schriftlichen Vereinbarung. In
diesem Sinne sei Ziff. 4 des vorliegenden Agenturvertrages zu verstehen.
Diese Klausel betreffe nicht nur die Fälligkeit, sondern auch die
Entstehung der Forderungen. "Danach ist Voraussetzung und auslösendes
Moment des Provisionsanspruchs der Eingang der Zahlung des Kunden. Wenn
und solange die Zahlung unterbleibt, entsteht überhaupt kein Anspruch
auf Provision."

    Weder die eine noch die andere Begründung des Konkursprivilegs ist
stichhaltig.

    a) Dem deutschen Text des in Frage stehenden Zusatzes zu Art. 219
SchKG, der das Privileg eindeutig auf die in den letzten zwölf Monaten vor
der Konkurseröffnung "entstandenen" Forderungen beschränkt, widersprechen
der französische und der italienische Text nicht. Sie besagen vielmehr
dasselbe, wenn auch weniger deutlich. In dem die bundesrätliche Botschaft
vom 27. November 1947 begleitenden Entwurf war auch der deutsche Text
noch nicht so bestimmt gefasst; er lautete:

    "c) die Forderungen des Agenten aus dem Agenturvertrag aus aus dem
letzten Jahr vor der Konkurseröffnung."

    Dieser Text hatte aber bereits die Entstehungszeit der Forderungen
im Auge. Er wurde denn auch im Laufe der Gesetzesberatung in diesem
Sinn erläutert. So hiess es in einem Bericht des Eidg. Justiz- und
Polizeidepartements vom 11. Februar 1948 an die nationalrätliche Kommission
im Anschluss an die Begründung der verhältnismässig langen Dauer des
Privilegs: "Zu berücksichtigen sind aber nur Forderungen, die in dieser
Zeit, und zwar in den unmittelbar vorausgehenden zwölf Monaten, entstanden
sind" ("Mais seules rentreront en ligne de compte les créances qui ont pris
naissance dans ce délai, c'est-à-dire dans les douze mois qui précèdent
immédiatement l'ouverture de la faillite"). Zu dieser (freilich nur im
deutschen Gesetzestext gänzlich zum Ausdruck gekommenen) Verdeutlichung
wurde in der nationalrätlichen Kommission am 5. März 1948 bemerkt (Votum
Beck): "Wir präzisieren nach zwei Richtungen. Wir sagen zwölf Monate,
um zu sagen, dass es nicht ein Kalenderjahr sein muss. Ferner sagen wir
'entstanden sind'. Hierher gehört also nicht alles, was in dieser Zeit
noch von früher her geschuldet wurde".

    In dieser Regelung liegt übrigens keine Anomalie. Auch bei den andern
von der Konkurseröffnung zurück zu berechnenden Fristen des Art. 219 SchKG,
insbesondere für die erste Klasse, ist der Zeitpunkt der Entstehung der
Forderung massgebend, obwohl das Gesetz dies nicht ausdrücklich sagt,
sondern sich einer weniger bestimmten Wendung bedient (vgl. JAEGER,
N. 15 am Ende zu Art. 219 SchKG mit Hinweis auf BlZR 7 Nr. 70: "Auf
den Fälligkeitstermin kommt nichts an"; BLUMENSTEIN, Handbuch 683
Mitte: "... da es hier lediglich auf die Entstehungszeit der Forderung
ankommt"). In gleichem Sinne wird die Wendung "die für das letzte Jahr
vor der Eröffnung des Verfahrens oder dem Ableben des Gemeinschuldners
rückständigen Forderungen an Lohn..." in § 61 Ziff. 1 der deutschen
Konkursordnung ausgelegt (Kommentar E. JAEGER, 8. Auflage, Anm. 17: "Der
Lohn ist , für , eine Frist rückständig, wenn innerhalb der Frist die zu
entlohnenden Dienste geleistet worden sind.... Der Anspruch auf Entlohnung
früher geleisteter Dienste bildet auch dann nur eine nichtbevorrechtigte
Konkursforderung, wenn er erst innerhalb der Frist fällig geworden ist").

    b) Ist somit entscheidend, wann die vom Kläger als privilegiert
erachteten Provisionsforderungen entstanden sind, so ist von Art. 418
g Abs. 3 OR auszugehen. Denn es ist kein Zweifel, dass Art. 2 der
Schlussbestimmungen des Gesetzes über den Agenturvertrag betreffend
Privilegierung der in der erwähnten Frist "entstandenen" Forderungen eben
an die durch dasselbe Gesetz geregelte Entstehungszeit anknüpfen will. Mit
Recht hat daher der Appellationshof geprüft, ob die in Frage stehenden
Provisionsforderungen, entsprechend der gesetzlichen Regel, schon im
Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses mit Kunden entstanden seien, so dass
sie nicht mehr in die für das Privileg geltende Schutzfrist fallen würden,
oder ob durch schriftliche Vereinbarung der Beteiligten ein späterer,
nun bei den in Frage stehenden Geschäften in die Schutzfrist fallender
Zeitpunkt der Entstehung der Forderung festgesetzt worden sei.

    Wenn das angefochtene Urteil diese Frage im zweiten Sinne beantwortet,
so ist ihm jedoch nicht beizustimmen. Ziff. 4 des Agenturvertrages
sagt nichts über die Entstehung der Provisionsforderungen, weder dem
Wortlaut noch dem Sinne nach. Diese Klausel betrifft ausschliesslich
die Erfüllung der Leistungspflicht: wann jeweilen über die Provisionen
abzurechnen sei, und wann sie zu zahlen seien. Man kann sich nur fragen,
ob den Vertragschliessenden bewusst gewesen sei, dass neben der Frage
der Abrechnungs- und Zahlungsmodalitäten dem Zeitpunkt der Entstehung
der Forderungen eine selbständige Bedeutung zukomme. Aber wenn sie an
diese Frage gedacht und dennoch nur die Vertragserfüllung, namentlich
den Fälligkeitstermin, vertraglich festgelegt haben, so bleibt es eben
hinsichtlich der Entstehung der Forderungen bei der gesetzlichen Regel
des Art. 418 g Abs. 3 OR. Und gleich verhält es sich, wenn sie ihre
Aufmerksamkeit nur der Fälligkeit und der Abwicklung der Leistungen
zugewendet und sich mit der Frage der Entstehung der Forderungen gar
nicht befasst haben. Im einen wie im andern Falle fehlt es an einer
schriftlichen Vereinbarung betreffend die Entstehung der Forderung, wie
sie in Art. 418 g Abs. 3 OR vorbehalten ist. Es kommt nicht in Frage,
in der vorliegenden Vertragsklausel Ziff. 4 die Worte "Abrechnung und
Bezahlung" in einem andern als dem ihnen zukommenden landläufigen Sinne
zu verstehen. Übrigens hatten nach Ziff. 3 daselbst jeweilen schon
bei Ausführung der Bestellungen Gutschriften zu Gunsten des Klägers
stattzufinden, was damit in Einklang steht, dass ihm bereits vor der
jeweiligen Abrechnung eine Forderung zustand.

Erwägung 2

    2.- Ist aber die in Art. 418 g Abs. 3 OR vorgesehene subsidiäre
Regelung nicht schriftlich wegbedungen worden, so hat es dabei sein
Bewenden. Entgegen einer früher verbreiteten Übung (wozu vgl. GAUTSCHI,
N. 8 b zu den Artikeln 418 g/h/i/k OR) erkennt das Gesetz dem Agenten
bereits beim rechtsgültigen Abschluss des Geschäftes mit dem Kunden einen
grundsätzlich zu Recht bestehenden, wenn auch noch an gewisse auflösende
Bedingungen (Art. 418 h OR) geknüpften Anspruch zu, der sich nur durch
eine abweichende schriftliche Vereinbarung wegbedingen lässt. Daher fällt
- anders als gegenüber den gesetzlichen Bestimmungen über die Fälligkeit,
Art. 418 i OR - weder eine abweichende bisherige Übung noch eine formlose
Vereinbarung in Betracht. Das Gesetz unterscheidet in Art. 418 g/h und i/k
klar zwischen der Entstehung der Forderung einerseits und der Fälligkeit
und der Abrechnung anderseits (vgl. dazu GAUTSCHI, N. 6a ff. zu den
Artikeln 418 g/h/i/k OR, und H. U. ZÜRCHER, Der Provisionsanspruch des
Agenten nach dem Bundesgesetz ...., Diss. 1952 S. 50). Es geht daher
keineswegs an, eine nur die Fälligkeit und die Abrechnung betreffende
Vereinbarung zugleich auf die Entstehung des Anspruches zu beziehen. Die
vorliegende Klausel befasst sich, wie dargetan, nicht mit diesem Punkt,
und sie schafft auch nicht etwa einen Widerspruch zur gesetzlichen Regel
über die Entstehung des Provisionsanspruchs. Vielmehr verträgt sich die
vorgesehene Art der Abrechnung und Bezahlung sehr wohl mit der früheren
Entstehung der Provisionsansprüche gemäss der gesetzlichen Regel.

    Diese Regel wirkt sich in erster Linie zu Gunsten des Agenten aus,
indem sie ihm, sobald das Geschäft mit dem Kunden gültig abgeschlossen
ist, einen Anspruch gibt, der grundsätzlich - auch im Konkurs des
Auftraggebers - nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Anderseits
entfällt das Konkursprivileg in einem mehr als ein Jahr nach den
betreffenden Geschäftsabschlüssen eröffneten Konkurse. Hat sich der
Agent auf so ungünstige Zahlungsbedingungen eingelassen, oder hat er
mit der Einforderung fälliger Ansprüche so lange zugewartet, dass er
für diese Ansprüche weder befriedigt wurde noch binnen nützlicher Frist
eme die Geltendmachung des Privilegs ermöglichende Konkurseröffnung
erwirkte, so sind die betreffenden Forderungen ältern Datums in der
fünften Klasse einzureihen. Das Gesetz lässt eben Privilegien zum
Nachteil anderer Gläubiger nur in bestimmten Schranken gelten, wie denn
übrigens die Einführung neuer Privilegien nicht allgemein gebilligt wird
(vgl. K. FEHR, Das neue Bundesgesetz über den Agenturvertrag, ZSR NF 69
S. 1 ff., insbesondere S. 20). Der Einwand, die zeitliche Begrenzung,
wie sie Art. 219 SchKG für die Forderungen des Agenten festlegt, laufe den
Schutztendenzen des Gesetzes zuwider, kann deshalb nicht beachtet werden.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das Urteil des Appellationshofs des
Kantons Bern - II. Zivilkammer - vom 28. Mai 1964 aufgehoben und die
Klage abgewiesen.