Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 I 71



89 I 71

12. Urteil vom 18. April 1963 i.S. von Bergen gegen Lendemann und
Obergericht des Kantons Thurgau Regeste

    Ka ntonales Zivilprozessrecht, Willkür, rechtsungleiche
Behandlung. Kantonale Bestimmung, wonach die während der Gerichtsferien
ablaufenden Fristen bis zum siebenten Tage nach dem Ende der Ferien
verlängert werden. Wann endigen die in den ersten Tagen nach den
Gerichtsferien ablaufenden Fristen?

Auszug aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die thurg. ZPO setzt die sömmerlichen Gerichtsferien auf die Zeit
vom 15. Juli bis 31. August fest und bestimmt in § 85 Abs. 1 (Fassung
vom 30. Juni 1961):

    "Fällt der Ablauf einer gesetzlichen oder durch den Richter gesetzten
Frist in die Gerichtsferien, so gilt sie bis zum siebenten Tag nach deren
Ende als verlängert".

    Diese Bestimmung gilt auch für die Verwirkungsfrist von 10 Tagen,
innert welcher nach § 283 Abs. 1 ZPO die Berufungserklärung abzugeben ist.

Erwägung 2

    2.- Ernst und Hans von Bergen führten einen Zivilprozess vor
dem Bezirksgericht Weinfelden und waren dabei durch Rechtsanwalt
X. vertreten. Am 25. August 1962 wurde diesem das am 14. Juli gefällte
Urteil zugestellt. Rechtsanwalt X. erklärte am 5. September 1962 die
Berufung an das Obergericht. Als die Gegenpartei einwendete, dass die
Berufungsfrist am 4. September geendet habe und die Berufung daher
verspätet sei, stellte sich Rechtsanwalt X. auf den Standpunkt, die
Berufungsfrist sei nach § 85 Abs. 1 ZPO erst am 7. September zu Ende
gegangen; eventuell ersuchte er um Wiederherstellung der Frist.

    Das Obergericht des Kantons Thurgau beschloss am 12. Februar
1963, auf die Berufung wegen Verspätung nicht einzutreten und das
Wiederherstellungsgesuch abzuweisen. Es nahm an, § 85 Abs. 1 ZPO sei
nicht anwendbar auf Fristen, die erst nach Beendigung der Gerichtsferien
ablaufen. Eine andere Auslegung lasse der klare Wortlaut der Bestimmung
schlechterdings nicht zu, weshalb die Fristversäumnis nicht unverschuldet
im Sinne von § 88 ZPO und das Wiederherstellungsbegehren abzuweisen sei.

Erwägung 3

    3.- Gegen dieses Urteil des Obergerichts führen Ernst und Hans von
Bergen staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV. Sie
machen in erster Linie geltend, die vom Obergericht vertretene Auslegung
von § 85 Abs. 1 ZPO sei zwar mit dem Wortlaut vereinbar, verstosse
aber in eindeutiger und krasser Weise gegen den allein möglichen Sinn
und sei daher willkürlich. Eventuell sei die Vorschrift selber mit
Art. 4 BV unvereinbar, da sie eine mit vernünftigen Gründen nicht zu
rechtfertigende Unterscheidung treffe. Subeventuell wird die Abweisung
des Wiederherstellungsgesuchs als willkürlich gerügt.

Erwägung 4

    4.- Die beanstandete Auslegung von § 85 Abs. 1 ZPO ist nicht nur,
wie die Beschwerdeführer anerkennen, mit dem Wortlaut der Bestimmung
vereinbar, sondern entspricht diesem. Die dem Wortlaut gemässe Auslegung
einer Vorschrift kann aber, wie das Bundesgericht von jeher entschieden
hat, nicht als willkürlich bezeichnet werden, es sei denn, sie widerspreche
offensichtlich deren Sinn und Zweck und führe zu einem vom Gesetzgeber
unmöglich gewollten Ergebnis (BGE 88 I 205 mit Verweisungen auf frühere
Urteile). Dass die wörtliche Auslegung von § 85 Abs. 1 ZPO derart
unvernünftig sei, ist jedoch nicht dargetan. Sie führt freilich dazu, dass
die 10-tägige Frist für die Erklärung der Berufung (§ 283 Abs. 1 ZPO) dann,
wenn sie am 22. August beginnt, erst am 7. September endigt, dagegen dann,
wenn sie wie hier am 26. August beginnt, schon am 4. September abläuft. Das
mag nicht ganz folgerichtig sein, ist aber keinesfalls so abwegig, dass es
der Gesetzgeber nicht gewollt haben kann. Nach der ursprünglichen Fassung
von § 85 Abs. 1 ZPO endigten die während der Gerichtsferien ablaufenden
Fristen am dritten Werktag nach denselben. Diese Nachfrist erwies sich,
wie in der Botschaft des Regierungsrates an das Thurgauervolk zur Revision
der ZPO von 1961 (S. 20) ausgeführt wurde, als zu kurz, indem ein Anwalt,
der von zahlreichen derart ablaufenden Fristen betroffen wurde, genötigt
war, mindestens eine Woche vor Ende der Gerichtsferien in sein Büro
zurückzukehren. Die Verlängerung der Nachfrist auf 7 Tage erfolgte somit,
um dem Anwalt die Wiederaufnahme der Arbeit nach den Gerichtsferien zu
erleichtern. Diesen Zweck erfüllt die Nachfrist auch dann, wenn sie bloss
für die während der Gerichtsferien, nicht auch für die nachher ablaufenden
Fristen gilt. Der gegen das Ende der Gerichtsferien die Arbeit wieder
aufnehmende Anwalt muss sich mit den Angelegenheiten, bei denen die Frist
erst nach dem Ende der Gerichtsferien abläuft, zwar sofort befassen,
während ihm für diejenigen, bei denen die Frist schon abgelaufen ist,
noch 7 Tage zur Verfügung stehen.

Erwägung 5

    5.- Eine derartige Ordnung verstösst auch nicht etwa als solche
gegen Art. 4 BV, wie die Beschwerdeführer weiter geltend machen. Dem
Gesetzgeber muss bei der Regelung des Einflusses der Gerichtsferien auf
den Fristenlauf eine grosse Freiheit gelassen werden. Dieser Einfluss ist
denn auch in den schweizerischen Zivilprozessordnungen sehr verschieden
geordnet worden (GULDENER, Schweiz. Zivilprozessrecht, 2. Aufl. S. 214/15
unter Ziff. 3). Während die Gerichtsferien nach einigen Gesetzen keinen
Einfluss auf den Fristenlauf haben, lassen andere Gesetze die Fristen
während der Gerichtsferien stille stehen und wieder andere (insgesamt 10
Kantone) bestimmen, dass Fristen, deren Ende in die Gerichtsferien fällt,
bis und mit dem ersten, dritten, siebenten oder zehnten Tage nach Ablauf
der Ferien erstreckt werden (GULDENER aaO Anm. 10-13). Wenn der Gesetzgeber
diese Vergünstigung auf die während der Gerichtsferien ablaufenden Fristen
beschränkt und die später ablaufenden Fristen von ihr ausnimmt, so stellt
dies, wie sich aus den Ausführungen in Erw. 4 ergibt, keine sinn- und
zwecklose Regelung dar. Die während und nach den Gerichtsferien ablaufenden
Fristen inbezug auf die Nachfrist verschieden zu behandeln, lässt sich
sachlich rechtfertigen und verstösst daher nicht gegen Art. 4 BV.

Erwägung 6

    6.- Schliesslich ist auch die Abweisung des von den Beschwerdeführern
gestellten Wiederherstellungsbegehrens unter dem beschränkten
Gesichtswinkel von Art. 4 BV nicht zu beanstanden. Angesichts des klaren
Wortlauts von § 85 Abs. 1 ZPO kann zum mindesten ohne Willkür angenommen
werden, dass die Fristversäumnis (verspätete Einreichung der Berufung)
nicht unverschuldet im Sinne von § 88 ZPO gewesen sei.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.