Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 I 353



89 I 353

51. Urteil vom 30. Oktober 1963 i.S. X. gegen Regierungsrat des Kantons
Schaffhausen. Regeste

    Art. 4 BV; rechtliches Gehör in Verwaltungssachen.

    Willkürliche Missachtung der im kantonalen Wirtschaftsgesetz
enthaltenen Vorschrift, dass die auf die Ausschreibung des Patentgesuchs
hin eingegangenen Einsprachen dem Patentbewerber zur Kenntnis zu bringen
sind und dieser das Recht hat, sich dazu vernehmen zu lassen. Aufhebung
des die Patenterteilung verweigernden Entscheids ohne Rücksicht darauf,
ob Aussicht besteht, dass die Vernehmlassung des Patentbewerbers zu einem
andern Entscheid führen wird.

Sachverhalt

    A.- Nach dem schaffhausischen Wirtschaftsgesetz vom 29.  Oktober 1934
(WG) werden die Wirtschaftspatente nach vorgängiger Begutachtung durch den
Gemeinderat auf Antrag der Polizeidirektion vom Regierungsrat bewilligt
(Art.11). Die Patentgesuche sind von den Gemeinderäten zur öffentlichen
Kenntnis zu bringen mit Ansetzung einer Frist von 10 Tagen zur Einreichung
von Einsprachen (Art. 12).

    Die vom Regierungsrat am 5. November 1935 erlassene
Vollziehungsverordnung (VV) zum Wirtschaftsgesetz bestimmt in

    "§ 10. Dem Patentbewerber sind die eingegangenen Einsprachen ihrem
ganzen Inhalte nach, unter Weglassung der Unterschrift, zur Kenntnis
zu bringen.

    Dieser hat das Recht, sich innerhalb von 10 Tagen hiezu vernehmen
zu lassen."

    B.- Die Beschwerdeführerin Fräulein X. bestand am 6.  März 1963 die
kantonale Wirteprüfung und stellte hierauf beim Gemeinderat Neuhausen das
Gesuch um Erteilung des Patentes zur Führung einer alkoholfreien Wirtschaft
im Hause Zollstrasse 86 in Neuhausen. Auf die Ausschreibung dieses Gesuchs
hin wurden zwei Einsprachen eingereicht, die der Gemeinderat am 30. Mai
1963 mit dem Gesuch an die kantonale Polizeidirektion weiterleitete.

    In der Folge erhielt der Anwalt der Beschwerdeführerin vom
Polizeisekretär davon Kenntnis, dass Bedenken gegen die Patenterteilung
bestünden, konnte jedoch nicht erfahren, aus welchen Gründen. Mit Eingabe
vom 29. Juni 1963 ersuchte er deshalb den Regierungsrat, ihm vor dem
Entscheid über das Patentgesuch Einsicht in die Akten zu gewähren oder ihn
auf andere geeignete Weise von den gegen die Patenterteilung sprechenden
Umständen in Kenntnis zu setzen und ihm Gelegenheit zur Stellungnahme
einzuräumen.

    Mit Entscheid vom 3. Juli 1963 wies der Regierungsrat das Gesuch
um Erteilung des Patentes ab. Die Gründe hiefür sind in den Erwägungen
eingehend dargelegt. Zum Gesuch der Beschwerdeführerin, vor dem Entscheid
zu allfälligen gegen die Patenterteilung sprechenden Umständen Stellung
zu nehmen, erklärt der Regierungsrat, er könne "auf dieses ungewöhnliche
Ersuchen nicht eintreten, umsoweniger als der Tatbestand, auf den er sich
bei der Beurteilung stützte, einwandfrei erwiesen ist."

    B.- Gegen den Entscheid des Regierungsrates führt Fräulein
X. staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV. Sie wirft
dem Regierungsrat Verletzung des rechtsstaatlichen Prinzips des rechtlichen
Gehörs und insbesondere der strikten Vorschrift in § 10 der VV zum WG
vor, weil er ihr weder Kenntnis von den beiden gegen ihr Patentgesuch
erhobenen Einsprachen noch Gelegenheit, sich dazu vernehmen zu lassen,
gegeben habe. Ferner macht sie geltend und führt näher aus, dass und
weshalb die Abweisung des Patentgesuches willkürlich sei.

    D.- Der Regierungsrat des Kantons Schaffhausen beantragt die Abweisung
der Beschwerde. Er bestreitet eine Gehörsverweigerung inbezug auf die
Einsprachen aus folgenden Gründen: Die eine Einsprache bilde überhaupt
keinen Ablehnungsgrund, da damit gewerbepolitische Gründe geltend gemacht
würden. Die andere Einsprache aber könne nicht als solche bezeichnet
werden, da sie anonym erfolgt sei und den Charakter einer Anzeige gehabt
habe, die die Behörden zu näheren Untersuchungen veranlasst habe. Es
sei nicht erforderlich, dass die Behörde, welche Erhebungen über einen
Patentbewerber zu machen habe, diesem eventuelle Hindernisgründe eröffne.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nachdem die Beschwerdeführerin erfahren hatte, dass Bedenken
gegen die Erteilung des von ihr verlangten Wirtschaftspatentes bestünden,
ersuchte sie den Regierungsrat um Einsicht in die Akten oder doch um
Bekanntgabe der gegen die Patenterteilung sprechenden Umstände, worin
sinngemäss das Begehren um Mitteilung allfällig eingegangener Einsprachen
enthalten war. Dass dem in erster Linie gestellten Begehren um allgemeine
Akteneinsicht nicht entsprochen wurde, wird in der staatsrechtlichen
Beschwerde - mit Recht - nicht beanstandet (vgl. BGE 89 I 15/16 und dort
zitierte frühere Urteile). Als Verweigerung des rechtlichen Gehörs wird
ausschliesslich gerügt, dass der Regierungsrat in Missachtung von § 10 VV
zum WG der Beschwerdeführerin keine Kenntnis von den auf die Ausschreibung
hin eingegangenen Einsprachen und keine Gelegenheit zur Stellungnahme zu
diesen Einsprachen gegeben habe.

Erwägung 2

    2.- Mit dem Vorwurf der Verletzung eines "allgemein gültigen
rechtsstaatlichen Prinzips" will sich die Beschwerdeführerin offenbar
auf den unmittelbar aus Art. 4 BV folgenden Anspruch auf rechtliches
Gehör berufen. Ob und inwieweit ein solcher Anspruch in einem
Verwaltungsverfahren wie dem vorliegenden besteht, kann indes dahingestellt
bleiben, da der Umfang des Anspruchs auf rechtliches Gehör zunächst
grundsätzlich durch die kantonalen Verfahrensvorschriften bestimmt wird
(BGE 87 I 339 Erw. 4 a mit Verweisungen) und die Beschwerdeführerin die
Verletzung einer solchen Vorschrift, des § 10 VV zum WG, geltend macht. Das
Bundesgericht kann die Auslegung und Anwendung dieser Vorschrift freilich
nur unter dem beschränkten Gesichtswinkel der Willkür und rechtsungleichen
Behandlung überprüfen (BGE 85 I 207 Erw. 1, 87 I 106 Erw. 4). Die Annahme
des Regierungsrates, dass § 10 VV vorliegend nicht zu beachten gewesen
sei, ist aber willkürlich, da sie gegen den klaren Wortlaut und Sinn der
Vorschrift verstösst.

    § 10 V-V bestimmt eindeutig und vorbehaltlos, dass die eingegangenen
Einsprachen ihrem ganzen Inhalte nach dem Patentbewerber zur Kenntnis zu
bringen sind (Abs. 1) und dass dieser das Recht hat, sich innerhalb von
10 Tagen dazu vernehmen zu lassen (Abs. 2). Dass es sich dabei nicht um
eine blosse Ordnungsvorschrift handelt, ergibt sich unmissverständlich
daraus, dass Abs. 2 ausdrücklich von einem Recht des Patentbewerbers auf
Vernehmlassung zu den Einsprachen spricht. Die in der Beschwerdeantwort
vertretene Auffassung des Regierungsrates, § 10 VV sei vorliegend nicht
anwendbar, weil es sich nicht um eigentliche Einsprachen handle, ist
unhaltbar. Wenn auch nur die eine der beiden Einsprachen ausdrücklich als
solche bezeichnet ist, kann doch auch die zweite ihrem Inhalte nach nicht
anders denn als Einsprache verstanden werden. Die beiden Eingaben sind denn
auch nicht nur vom Gemeinderat, sondern, wie der angefochtene Entscheid
(Ziff. I) zeigt, auch vom Regierungsrat selber als Einsprachen betrachtet
und bezeichnet worden. Dass die eine möglicherweise mit einem falschen
Namen unterzeichnet und insofern anonym ist, erscheint als unerheblich,
während der Umstand, dass diese Eingabe, wie in der Beschwerdeantwort
ausgeführt wird, den Behörden Anlass zu näheren Untersuchungen gab,
nicht gegen, sondern vielmehr für die Anwendung von § 10 VV spricht,
da die Einsprache offenbar als erheblich betrachtet wurde und die
Beschwerdeführerin daher erst recht ein Interesse hat, sich dazu zu
äussern. Der Regierungsrat hat somit eine wesentliche Verfahrensvorschrift
offensichtlich verletzt und sich damit der Willkür schuldig gemacht.

    Sofern der Regierungsrat mit der im angefochtenen Entscheid enthaltenen
Bemerkung, dass der Tatbestand einwandfrei erwiesen sei, sagen wollte, eine
Vernehmlassung der Beschwerdeführerin zu den beiden Einsprachen könnte an
seinem Entscheid nichts ändern, so käme hierauf nichts an. In einigen nicht
veröffentlichten Urteilen hat das Bundesgericht zwar erklärt, dass nur der
unmittelbar aus Art. 4 BV folgende Anspruch auf rechtliches Gehör formeller
Natur sei, während die Verletzung kantonaler Verfahrensvorschriften über
das rechtliche Gehör nur dann die Aufhebung des angefochtenen Entscheids
zur Folge haben könne, wenn dem Beschwerdeführer ein Nachteil aus dem
Verfahrensmangel erwachsen sei (nicht veröffentlichtes Urteil vom 21. Juni
1950 i.S. Grands Moulins de Cossonay SA und dort angeführte frühere
Urteile). Ob diese Unterscheidung, die in andern, auch neuern Urteilen
nicht gemacht wurde (BGE 82 I 71 Erw. 2, nicht veröffentlichte Urteile
vom 6. Juli 1960 i.S. Glatt und vom 19. September 1962 i.S. Reymondin),
sich rechtfertigt, mag fraglich erscheinen, kann aber dahingestellt
bleiben. In den erwähnten früheren Urteilen wurde ein dem Beschwerdeführer
erwachsener Nachteil jeweils verneint, weil der Beschwerdeführer zwar nicht
in der vorgeschriebenen Form, aber doch auf andere Weise hinreichend zu
Worte gekommen war, sei es mündlich statt wie vorgeschrieben schriftlich,
sei es erst vor der zweiten kantonalen Instanz statt schon vor der
ersten (erwähntes Urteil i.S. Grands Moulins de Cossonay SA sowie
Urteile vom 26. Februar 1945 i.S. Unger-Hirt Erw. 3, vom 1. April 1946
i.S. Ineichen Erw. 4 und vom 10. Oktober 1946 i.S. Schütz Erw. 1). Im
vorliegenden Falle dagegen hatte die Beschwerdeführerin überhaupt keine
Gelegenheit, sich zu den eingegangenen Einsprachen vernehmen zu lassen,
obwohl ihr das Recht dazu in § 10 VV ausdrücklich eingeräumt wird. In
der offensichtlichen Verletzung dieser wesentlichen Verfahrensvorschrift
liegt eine Benachteiligung der Beschwerdeführerin, die es rechtfertigt,
den angefochtenen Entscheid aufzuheben ohne Rücksicht darauf, ob Aussicht
besteht, dass der Regierungsrat, nachdem er der Beschwerdeführerin
Gelegenheit zur Vernehmlassung gegeben hat, zu einer Änderung seines
Entscheids gelangt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird dahin gutgeheissen, dass der Beschluss des
Regierungsrates des Kantons Schaffhausen vom 3. Juli 1963 aufgehoben wird.