Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 I 158



89 I 158

25. Auszug aus dem Urteil vom 12. Juni 1963 i.S. X. gegen
Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. Regeste

    Armenrecht. Art. 4 BV.

    Voraussetzungen des bundesrechtlichen Armenrechtsanspruchs (Erw. 2).
Aussichtslosigkeit eines Verantwortlichkeitsprozesses gegen einen Anwalt,
der es im Vaterschaftsprozess als Vertreter von Mutter und Kind unterlassen
hat, einen Antrag auf Durchführung einer anthropologisch-erbbiologischen
Begutachtung zu stellen? (Erw. 3).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Die österreichische Staatsangehörige X. gebar am 6.  Juni 1956
ausserehelich das Kind C. X. Als dessen Vater bezeichnete sie Y. in
St. Gallen. Das Jugendamt der Stadt Graz/Österreich beauftragte
Rechtsanwalt Dr. Z., für die Mutter und das Kind vor dem Bezirksgericht
St. Gallen den Vaterschaftsprozess gegen Y. durchzuführen. Da die
Klage auf Zusprechung des Kindes mit Standesfolge ging, beteiligte
sich die Standeskommission von Appenzell I.Rh., vertreten durch die
Amtsvormundschaft Appenzell, als Nebenintervenientin auf der Seite
des Beklagten am Prozess (Art. 312 Abs. 2 ZGB). Der Beklagte und die
Standeskommission bestritten die Klage. Y. gab zwar zu, während der
kritischen Zeit der Mutter des Kindes wiederholt beigewohnt zu haben,
erhob aber die Einrede des Mehrverkehrs mit einem gewissen U. Die
Nebenintervenientin, unterstützt vom Beklagten, beantragte unter anderem
auch die Blutuntersuchung und eine anthropologisch-erbbiologische
Expertise zum Nachweise der Unmöglichkeit der Vaterschaft des Y. Die
Blutuntersuchung verlief negativ; die anthropologisch-erbbiologische
Untersuchung wurde nicht durchgeführt. Mit Urteil vom 20. Januar 1959
wies das Bezirksgericht St. Gallen die Vaterschaftsklage gestützt auf
Art. 314 Abs. 2 ZGB wegen Mehrverkehrs der Mutter während der kritischen
Zeit ab. Das Urteilsdispositiv wurde an der Hauptverhandlung vom 20. Januar
1959, an welcher Rechtsanwalt Dr. Z. für die Klägerinnen teilnahm, mündlich
eröffnet; das schriftliche Urteil mit Begründung wurde dem Vertreter der
Klägerinnen am 13. April 1959 zugestellt. Da kein Rechtsmittel eingelegt
wurde, erwuchs der Entscheid in Rechtskraft.

    Rechtsanwalt Dr. Z. gab dem Jugendamt Graz weder vom Urteilsdispositiv
noch von der schriftlichen Urteilsbegründung Kenntnis. Anfragen dieses
Amtes über den Stand der Angelegenheit liess er unbeantwortet, so dass es
erst am 11. Januar 1960, als das Urteil längst rechtskräftig geworden war,
auf Grund einer Anfrage beim Kantonsgericht St. Gallen davon Kenntnis
erhielt.

    B.- Gestützt auf diesen Sachverhalt will das Jugendamt Graz namens
des Kindes C.X. vor den Gerichten des Kantons Appenzell I.Rh. gegen
Rechtsanwalt Dr. Z. einen Verantwortlichkeitsprozess durchführen. Es
verlangt die Bezahlung von Fr. 9244.40, was der kapitalisierten
Unterhaltsrente gemäss Rechtsbegehren im Vaterschaftsprozess entspricht,
nebst 5% Zins seit 21. September 1962.

    Rechtsanwalt Dr. R. Zollikofer in Zürich, der die Klägerin im
Verantwortlichkeitsprozess vertritt, stellte, gestützt auf Art. 101
der Zivilprozessordnung des Kantons Appenzell I.Rh. (ZPO) bei der
Polizeidirektion das Gesuch um Bewilligung der einfachen unentgeltlichen
Prozessführung, das heisst um Befreiung von der Leistung allfälliger
gerichtlicher Gebühren und Vorschüsse. Nachdem die Polizeidirektion ein
Rechtsgutachten bei Kantonsrichter Dr. Jakob Eugster in St. Gallen über die
Frage der Aussichten der Klage eingeholt hatte, wies die dafür zuständige
Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh. das Armenrechtsgesuch
mit Entscheid vom 11. März 1963 wegen Aussichtslosigkeit der Klage
(Art. 101 Abs. 2 ZPO) ab.

    C.- Am 4. April 1963 teilte die Gerichtskanzlei Appenzell dem Anwalt
der Klägerin im Verantwortlichkeitsprozess mit, dass der Gerichtspräsident
das schriftliche Vorverfahren angeordnet habe in der Annahme, dass
"in absehbarer Zeit noch eine Bescheinigung über die unentgeltliche
Rechtspflege beigebracht oder die Einschreibgebühr von Fr. 20.- an
die Landesbuchhaltung Appenzell einbezahlt" werde. Hierauf reichte der
Vertreter der C. X. am 10. April 1963 eine staatsrechtliche Beschwerde
gegen den Entscheid der Standeskommission vom 11. März 1963 ein mit dem
Antrag, diesen wegen Verletzung von Art. 4 BV aufzuheben und der Klägerin
die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen.

    D.- Die Standeskommission des Kantons Appenzell I.Rh.  beantragt,
es sei die Beschwerde in vollem Umfange abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführerin rügt ausschliesslich eine Verletzung des
unmittelbar aus Art. 4 BV fliessenden Armenrechtsanspruches. Darnach
hat eine bedürftige Partei in einem für sie nicht aussichtslosen
Zivilprozess einen Anspruch darauf, dass der Richter für sie ohne
vorgehende Hinterlegung oder Sicherstellung von Kosten tätig werde und
dass ihr ein unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben werde, wenn sie
eines solchen zur gehörigen Wahrung ihrer Rechte bedarf (BGE 78 I 195
Erw. 2, 85 I 3 Erw. 2). Mit der Beschwerde wird nicht die Beigabe eines
unentgeltlichen Rechtsbeistandes, sondern nur die Befreiung von amtlichen
Kosten und Gebühren und von der Vorschuss- und Sicherstellungspflicht
gemäss Art. 99 Abs. 1 ZPO angestrebt.

    Dass die Beschwerdeführerin bedürftig ist, ist nicht
bestritten. Streitig ist lediglich, ob der von ihr eingeleitete
Verantwortlichkeitsprozess aussichtslos sei. Diese Frage prüft das
Bundesgericht dann, wenn es sich wie hier um die bundesrechtliche
Befreiung von der Vorschusspflicht handelt, grundsätzlich frei (BGE 78
I 195 Erw. 3). Als aussichtslos gelten Prozessbegehren, bei denen die
Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und
nicht mehr als ernsthaft bezeichnet werden können. Halten dagegen die
Gewinnaussichten den Verlustgefahren ungefähr die Waage, oder erscheinen
sie nur wenig geringer als diese, so gilt das Prozessbegehren nicht als
aussichtslos (BGE 78 I 196 und die dort genannten Entscheide).

Erwägung 3

    3.- Mit Recht erblickt der angefochtene Entscheid eine Nachlässigkeit
des Anwaltes darin, dass dieser dem Jugendamt Graz keine Kenntnis vom
Urteil des Bezirksgerichtes St. Gallen gegeben und Anfragen jener Behörde
über den Stand des Vaterschaftsprozesses nicht beantwortet hat. Da
Dr. Z. auch keine Berufung gegen das für die von ihm vertretene Partei
ungünstige Urteil des Bezirksgerichtes erklärte, brachte sein Verhalten
das Jugendamt Graz um die Möglichkeit, für das Kind ein Rechtsmittel
zu ergreifen und zu versuchen, von den oberen Instanzen ein günstigeres
Urteil zu erlangen. Die Standeskommission hält diese Nachlässigkeit des
Anwaltes für unerheblich, mit der Begründung, die Berufung wäre ohnehin
aussichtslos gewesen, da U. als Dritter gegen seinen Willen weder in die
Blutuntersuchung noch in eine anthropologisch-erbbiologische Begutachtung
hätte einbezogen werden können und das letztere Beweismittel zur Zeit
des Vaterschaftsprozesses noch nicht als schlüssig für den positiven
Nachweis der Vaterschaft des Beklagten anerkannt gewesen sei. Dem
Anwalt könne daher keine Verletzung der Sorgfaltspflicht vorgeworfen
werden, weil er weder im erstinstanzlichen Verfahren die Abnahme dieser
Beweise verlangt, noch die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil
erklärt habe. Die Standeskommission vertritt somit die Auffassung, die
Verantwortlichkeitsklage sei aussichtlos, weil zwischen dem Verhalten des
Anwaltes und dem ungünstigen Ausgang des Prozesses kein Kausalzusammenhang
bestehe.

    Die Beschwerdeführerin ficht die Annahme im angefochtenen Entscheid,
dass nach der Zivilprozessordnung des Kantons St. Gallen U. nicht hätte
gezwungen werden können, sich einer Blutuntersuchung zu unterziehen, und
dass er sich auch nicht freiwillig zur Verfügung gestellt hätte, nicht
als willkürlich an (vgl. dazu BGE 82 I 237 ff.). Dagegen wird Rechtsanwalt
Dr. Z. vorgeworfen, dass er im Verfahren vor Bezirksgericht keinen Antrag
auf Durchführung einer anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung
gestellt und dadurch, dass er der Vormundschaftsbehörde Graz vom Urteil
des Bezirksgerichtes St. Gallen keine Kenntnis gab, den Klägerinnen des
Vaterschaftsprozesses die Möglichkeit genommen habe, jene Unterlassung
im Berufungsverfahren nachzuholen. Dem wird im angefochtenen Entscheid zu
Unrecht entgegengehalten, dass U. auch nicht hätte gezwungen werden können,
sich dieser Begutachtung zu unterziehen. Wie bereits in BGE 84 I 220
Erw. 3 entschieden wurde, kann bei einer anthropologisch-erbbiologischen
Begutachtung - im Unterschied zur Blutuntersuchung - von einem Eingriff
in die körperliche Unversehrtheit nicht die Rede sein. Es handelt sich
lediglich darum, sich vom Experten besichtigen und fotographieren zu
lassen, was nicht wesentlich über das persönliche Erscheinen hinaus
geht, zu dem der Zeuge bei einer Zeugeneinvernahme verhalten werden kann
(Art. 242 ZPO des Kantons St. Gallen).

    Die Frage, ob und allenfalls unter welchen Voraussetzungen die Parteien
im Vaterschaftsprozess einen bundesrechtlichen Anspruch auf Anordnung
einer anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung haben, hat die II.
Zivilabteilung des Bundesgerichtes ausdrücklich offen gelassen (BGE 82
II 266/267, 87 II 74 Erw. 6, 87 II 287 lit. b, 88 II 398/399). In BGE
87 II 288 wurde lediglich entschieden, dass der Vaterschaftsbeklagte
jedenfalls dann keinen bundesrechtlichen Anspruch auf Anordnung einer
solchen Begutachtung habe, wenn keine bestimmten Anhaltspunkte für einen
Mehrverkehr der Mutter in der kritischen Zeit bestehen. Dieses Urteil
präjudiziert indessen die im vorliegenden Falle zu beurteilende Frage,
ob die Beschwerdeführerin einen Anspruch auf die Durchführung einer
anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung gehabt hätte, nicht, denn
hier steht der Mehrverkehr fest und geht es um den Beweisanspruch des
Klägers, nicht des Beklagten (vgl. BGE 88 I 145). Es ist auch nicht
richtig, dass in BGE 82 II 266 jener Beweis davon abhängig gemacht
wurde, ob sich die beweisführende Partei auf auffallende, zu ihren
Gunsten sprechende Merkmale berufen könne. Diese Frage wurde damals
zwar gestellt, aber ebenfalls offen gelassen. Abgesehen davon ist für
den Ausgang des Verantwortlichkeitsprozesses nicht entscheidend, ob im
Vaterschaftsprozess von solchen auffallenden, besonderen Merkmalen, die
das Kind mit dem Beklagten gemeinsam habe, "nirgends die Rede gewesen
sei", sondern ob solche Merkmale tatsächlich bestehen und der Anwalt der
Klägerinnen es pflichtwidrig unterlassen habe, sie im Rahmen des Antrages
auf Durchführung der Expertise geltend zu machen.

    Rechtsanwalt Dr. Z. hatte demnach keinen hinreichenden
Grund zur Annahme, dass der Antrag auf Durchführung einer
anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung bundesrechtlich von vornherein
aussichtslos und daher überflüssig sei. Ein solcher Beweisantrag war aber
auch nach dem massgebenden kantonalen Prozessrecht nicht ausgeschlossen und
hätte noch im Berufungsverfahren gestellt werden können (Art. 418 Abs. 2
ZPO des Kantons St. Gallen). Wie sich aus BGE 87 II 66 lit. B ergibt, hat
denn auch das Bezirksgericht St. Gallen am 24. August 1956, also um die
Zeit der Einleitung des jetzt in Frage stehenden Vaterschaftsprozesses beim
Vermittleramt, in einem andern Vaterschaftsprozess eine derartige Expertise
angeordnet. Auch das Kantonsgericht St. Gallen war in diesem Prozesse
der Auffassung, dass den Klägerinnen unter den obwaltenden Umständen
die Beweisführung durch eine anthropologisch-erbbiologische Expertise zu
gestatten sei (vgl. BGE 87 II 67 lit. C). Dass Rechtsanwalt Dr. Z. davon
keine Kenntnis hatte und ob das Kantonsgericht St. Gallen in einem andern,
nicht näher bezeichneten Appellationsfall ein solches Gutachten abgelehnt
hatte, wie in der Beschwerdeantwort der Standeskommission ausgeführt wird,
ist nicht entscheidend. Wesentlich ist, dass Dr. Z. keinen Grund zur
Annahme hatte, dass dieses Beweismittel von vorneherein nicht in Frage
komme. Es ist daher keineswegs gewiss, ob der Antrag auf Durchführung
einer anthropologisch-erbbiologischen Begutachtung, wenn ihn Rechtsanwalt
Dr. Z. gestellt hätte, abgelehnt worden wäre; noch viel weniger steht jetzt
schon fest, zu welchem Ergebnis eine solche Expertise geführt hätte. Die
staatsrechtliche Kammer hat bereits im BGE 88 I 145 und den dort genannten,
nicht veröffentlichten Urteilen erklärt, die Frage, ob eine Partei Anspruch
auf Anordnung einer solchen Begutachtung habe, erscheine als diskutabel
und so heikel, dass der Entscheid darüber dem Sachrichter vorbehalten
werden müsse und nicht vom Richter vorweggenommen werden dürfe, der
auf Grund einer nur summarischen Prüfung der Erfolgsaussichten über das
Armenrecht zu befinden hat. Dies muss erst recht gelten, wenn wie hier
keine richterliche, sondern eine Verwaltungsbehörde das Armenrechtsgesuch
zu beurteilen hat. Nicht anders verhält es sich, wenn es sich zwar
nicht um den Vaterschaftsprozess selber handelt, aber im Rahmen eines
Verantwortlichkeitsprozesses "praktisch der ganze Vaterschaftsprozess
durchgeführt werden" muss, wie sich der angefochtene Entscheid ausdrückt.
Noch weniger steht es dem Armenrechtsrichter zu, jetzt schon darüber
zu befinden, ob bei Durchführung einer anthropologisch-erbbiologischen
Begutachtung im Vaterschaftsprozess das Beweisergebnis eher günstig oder
eher ungünstig für die Beschwerdeführerin ausgefallen wäre. Auch diese
heikle Frage muss dem Sachrichter vorbehalten werden.

    Unter diesen Umständen lässt sich nicht sagen, dass die
Verantwortlichkeitsklage heute schon als aussichtslos im Sinne der weiter
oben umschriebenen Rechtsprechung des Bundesgerichtes erscheint. Die
Standeskommission hat der Beschwerdeführerin daher die nachgesuchte
unentgeltliche Rechtspflege zu Unrecht wegen Aussichtslosigkeit der Klage
verweigert, so dass die Beschwerde, soweit darauf eingetreten werden kann,
zu schützen und der angefochtene Entscheid aufzuheben ist.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist,
und der Entscheid der Standeskommission von Appenzell I.Rh. vom 11. März
1963 wird aufgehoben.