Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 I 125



89 I 125

19. Urteil der I. Zivilabteilung als Staatsgerichtshofs vom 2. Februar
1963 i.S. M. gegen H. und Obergericht des Kantons Luzern Regeste

    Staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV;
Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs (Art. 86 Abs. 2 und Art. 87
OG). Urteile der Kammern des Obergerichts des Kantons Luzern können wegen
willkürlicher Beweiswürdigung, Aktenwidrigkeitoder Willkür in der Anwendung
oder Auslegung kantonaler Prozessvorschriften mit staatsrechtlicher
Beschwerde erst angefochten werden, nachdem beim Gesamtobergericht
Kassationsbeschwerde geführt worden ist.

Sachverhalt

    Mit Urteil vom 27. September 1962 verpflichtete das Obergericht
des Kantons Luzern (I. Kammer) den Rechtsanwalt M., seinem frühern
Klienten H. als Schadenersatz Fr. 16'608. - nebst Zins zu bezahlen,
weil er es pflichtwidrig unterlassen habe, H. über die Zweckmässigkeit
einer Klage auf Anfechtung der Ehelichkeit des von Frau H. während des
Scheidungsprozesses geborenen Kindes und über die für eine solche Klage
geltende Frist aufzuklären. Dieses Urteil hat M. mit Berufung an das
Bundesgericht und mit der vorliegenden staatsrechtlichen Beschwerde wegen
Verletzung von Art. 4 BV (Willkür) angefochten.

    Das Bundegericht tritt auf diese Beschwerde nicht ein.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Die staatsrechtliche Beschwerde wegen Verletzung von Art. 4 BV
ist erst zulässig, nachdem von den kantonalen Rechtsmitteln Gebrauch
gemacht worden ist (Art. 86 Abs. 2 und Art. 87 OG). Dazu gehört nach
feststehender Rechtsprechung auch die Ergreifung der ausserordentlichen
kantonalen Rechtsmittel, mit denen die gerügte Verfassungsverletzung
geltend gemacht werden kann (BGE 72 I 94, 81 I 147 Erw. 2, 84 I 234).

    Die Urteile der Kammern des luzernischen Obergerichts können gemäss §
8 des luzernischen Gerichtsorganisationsgesetzes und §§ 258 Abs. 2 und
265 der luzernischen ZPO aus den in § 259 ZPO angeführten Gründen mit dem
ausserordentlichen Rechtsmittel der Kassations- oder Nichtigkeitsbeschwerde
an das Gesamtobergericht angefochten werden, "sofern und soweit sie nicht
auf dem Berufungswege an das Bundesgericht weitergezogen werden können"
(§ 258 Abs. 2 ZPO). Diese letzte Bestimmung wird von der luzernischen
Rechtsprechung dahin ausgelegt, dass auch Urteile, die der Berufung an
das Bundesgericht unterliegen, mit der kantonalen Kassationsbeschwerde
angefochten werden können, wenn als Kassationsgrund eine Verletzung
kantonaler Prozessvorschriften geltend gemacht wird (Maximen VII Nr. 235,
VIII Nr. 394, IX Nr. 38).

    Das Urteil der I. Kammer des Obergerichts, gegen das die vorliegende
staatsrechtliche Beschwerde sich richtet, war nicht Gegenstand einer
kantonalen Kassationsbeschwerde. Die staatsrechtliche Beschwerde ist
daher mangels Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs unzulässig, soweit
die darin enthaltenen Rügen mit der Kassationsbeschwerde hätten erhoben
werden können.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht in seiner staatsrechtlichen Beschwerde
in erster Linie geltend, das Obergericht habe das Tatsachen- und
Beweismaterial willkürlich gewürdigt; seine tatsächlichen Feststellungen
seien mit den Akten schlechterdings unvereinbar; auch habe es Art. 8
ZGB verletzt.

    Die zuletzt genannte Rüge kann nach Art. 84 Abs. 2 OG nicht zur
Begründung der staatsrechtlichen Beschwerde dienen, da sie mit der Berufung
an das Bundesgericht erhoben werden konnte.

    Die behauptete Willkür bei der Ermittlung des Tatbestandes hätte mit
der Kassationsbeschwerde an das Gesamtobergericht gerügt werden können,
da in solcher Willkür eine Verletzung klaren Rechts im Sinne von § 259
Ziff. 5 ZPO läge. Die behaupteten Aktenwidrigkeiten hätten unter Berufung
auf § 259 Ziff. 4 ZPO, wonach die Kassationsbeschwerde zulässig ist,
"wenn in einem Urteil ein offenbarer Irrtum hinsichtlich entscheidender
Tatsachen erscheint", mit diesem kantonalen Rechtsmittel geltend gemacht
werden können (Maximen X Nr. 667). Auf die kantonale Rechtsprechung,
welche die erwähnten Bestimmungen der kantonalen ZPO in diesem Sinne
auslegt, wäre nur dann nicht abzustellen, wenn diese Auslegung als abwegig
erschiene. Hievon kann keine Rede sein.

    Soweit der Beschwerdeführer die Rügen der willkürlichen Beweiswürdigung
und der Aktenwidrigkeit erhebt, ist also auf die staatsrechtliche
Beschwerde nicht einzutreten, weil der kantonale Instanzenzug nicht
erschöpft wurde (vgl. die nicht veröffentlichten Urteile vom 30. Mai 1961
i.S. Boog gegen Solana, vom 14. Juni 1961 i.S. Erni gegen Lüthi und vom
28. Februar 1962 i.S. am Rhyn gegen am Rhyn).

Erwägung 3

    3.- Entsprechend verhält es sich mit der Rüge, das Obergericht habe §
101 lit. a der luzernischen ZPO in willkürlicher Weise verletzt, indem
es im Gegensatz zum Amtsgericht annahm, der Beschwerdegegner habe seine
Klage schon in der Klageschrift genügend substantiiert. Auch diese Rüge
hätte nach der luzernischen Rechtsprechung mit der Kassationsbeschwerde an
das Gesamtobergericht erhoben werden können, da die willkürliche Anwendung
und Auslegung einer Prozessvorschrift den Tatbestand der Verletzung klaren
Rechts im Sinne von § 259 Ziff. 5 ZPO erfüllt (Maximen IX Nr. 592).