Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 IV 98



89 IV 98

20. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 13. März 1963 i.S. Bernet
gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 25 Abs. 1 MFG. Pflichten des Vortrittsberechtigten gegenüber
Fahrzeugen, die von links kommen.

    Der Vortrittsberechtigte ist nicht verpflichtet, seine Geschwindigkeit
zum vorneherein zugunsten Nichtberechtigter herabzusetzen, mag für ihn die
Sicht nach links auch völlig verdeckt sein. Darauf Rücksicht zu nehmen,
ist Sache des von links kommenden, vortrittsbelasteten Führers.

Sachverhalt

    A.- Bernet fuhr am 14. September 1959, um 17.25 Uhr,
am Steuer seines Personenwagens Hillmann auf der 5,2 m breiten
Tiefenackerstrasse in Altstätten von Osten her gegen die Kreuzung mit
der Elsenackerstrasse. Diese ist etwa 6 m breit und mit Fussgängersteigen
versehen, wird aber eher weniger befahren als die Querstrasse. Die Sicht
in die linke Einmündung der Elsenackerstrasse war für Bernet durch einen
hohen Lattenzaun, der das anliegende Grundstück gegen beide Strassen
abgrenzt, sowie durch eine Reihe Laubbäume und Tannen verdeckt. Nach
rechts war die Sicht namentlich durch einen Hag von ungefähr 1 m Höhe
und durch Gartensträucher beeinträchtigt. Als Bernet die Kreuzung mit
mindestens 35 km/Std. überquerte, prallte der Mopedfahrer Stieger, der
die Kreuzung auf der Elsenackerstrasse durchfahren wollte, von links
her gegen die Mitte seines Wagens. Stieger erlitt schwere Verletzungen,
die zu seinem Tode führten. Bernet bremste erst nach dem Zusammenstoss.

    B.- Das Bezirksgericht Oberrheintal verurteilte Bernet am 25. April
1961 wegen fahrlässiger Tötung (Art. 117 StGB) zu einer bedingt löschbaren
Busse von Fr. 200.-- und setzte ihm zwei Jahre Probezeit.

    Das Kantonsgericht St. Gallen wies am 20. November 1962 die auf
Freisprechung abzielende Berufung Bernets ab. Es führte insbesondere aus,
der Angeklagte sei gegenüber dem von links kommenden Mopedfahrer zwar
vortrittsberechtigt gewesen, was ihn aber nicht der Pflicht enthoben
habe, auch nach links zu beobachten. Dies sei erst unmittelbar vor der
Einfahrt in die Kreuzung möglich gewesen. Da Bernet die Kreuzung aus
einer Entfernung von etwa 40 m erkannt habe, hätte er sich wegen der
mangelnden Sicht nach links gleichsam in sie hineintasten müssen. Es
sei ein grober Fehler gewesen, darauf abzustellen, dass einige Sicht
nach rechts bestand und dass von dort her sich kein Fahrzeug näherte,
die Einmündung von links aber ausser acht zu lassen. Der Angeklagte habe
deshalb Art. 25 Abs. 1 MFG verletzt.

    C.- Bernet führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, das Urteil des
Kantonsgerichtes sei aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an
die Vorinstanz zurückzuweisen. Er bestreitet, Art. 25 Abs. 1 MFG verletzt
zu haben.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen beantragt Abweisung
der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 25 Abs. 1 MFG und ständiger Rechtsprechung (BGE 84 IV
58 Erw. 2 und dort angeführte Urteile) darf der Vortrittsberechtigte
nicht in blindem Vertrauen auf den Vortritt beliebig schnell in die
Strassengabelung oder -kreuzung einfahren. Auch er hat aufmerksam zu sein
und die Geschwindigkeit den gegebenen Strassen- und Verkehrsverhältnissen
anzupassen. Nähert er sich einer Kreuzung, so ist er seinerseits gehalten,
einem gleichzeitig von rechts kommenden Fahrzeug den Vortritt zu lassen
(Art. 27 Abs. 1 MFG). Damit er dieser Pflicht nachkommen kann, hat er
seine Aufmerksamkeit, ausser seiner Fahrbahn, vor allem dem für ihn von
rechts kommenden Verkehr zuzuwenden und namentlich die Geschwindigkeit
den diesbezüglichen Sichtverhältnissen anzupassen. Dieser erhöhten
Sorgfaltspflicht nach rechts entspricht eine erheblich geringere nach
links. Letzterer genügt der Vortrittsberechtigte im allgemeinen, wenn
er sich durch einen raschen Blick nach links vergewissert, ob er nicht
durch besondere Verkehrsverhältnisse an der Ausübung des Vortrittes
gehindert werde. Das ist z.B. anzunehmen, wenn ein von links kommendes
Fahrzeug mit solcher Geschwindigkeit fährt, dass es dem Berechtigten
den Vortritt nicht mehr gewähren kann. In einem solchen Falle hat auch
der Vortrittsberechtigte nach den Vorschriften des Art. 25 Abs. 1 MFG
alles vorzukehren, was zur Abwendung der von einem andern geschaffenen
Gefahr geeignet und zumutbar ist. Dagegen braucht er, wie in BGE 84 IV
59/60 hervorgehoben wurde, seine Geschwindigkeit nicht schon zuvor auf
diese Möglichkeit einzustellen; er hat sie nur so zu mässigen, dass er in
jedem Falle einem von rechts kommenden Fahrzeug den Vortritt lassen und
einem von links kommenden ermöglichen kann, auf seine Fahrweise richtig
zu reagieren, um ihm, dem Berechtigten, den Vortritt zu gewähren.

    Das Kantonsgericht vertritt die Auffassung, die Anforderung an den
Vortrittsberechtigten, einen raschen Blick nach links zu werfen, habe nur
einen Sinn, wenn dieser Führer so langsam fahre, dass er in jedem Falle
in der Lage sei, zweckmässig zu reagieren; daraus folge aber, dass bei
schlechten Sichtverhältnissen nach links auch der Vortrittsberechtigte,
gerade wegen dieser Verhältnisse, seine Geschwindigkeit herabsetzen
müsse, selbst wenn dies die Sicht nach rechts nicht verlange. Diese
Pflicht kann dem Vortrittsberechtigten indes gerade nach dem Urteil
in BGE 84 IV 58 ff., auf das sich das Kantonsgericht beruft, nicht
auferlegt werden. Die Auffassung der Vorinstanz hätte zur Folge, dass der
Vortrittsberechtigte in Fällen wie dem vorliegenden im Schrittempo fahren
müsste. Damit aber würde der Rechtsvortritt als elementare Verkehrsregel
entwertet, ja illusorisch. Diese Folge zeigt, dass der Berechtigte nicht
verpflichtet werden kann, seine Geschwindigkeit zum vorneherein zugunsten
Nichtberechtigter herabzusetzen, mag für ihn die Sicht nach links auch
völlig verdeckt sein. Darauf Rücksicht zu nehmen, ist Sache des von
links kommenden, vortrittsbelasteten Führers. Dieser hat nötigenfalls im
Schritttempo zu fahren und sich in die Kreuzung hineinzutasten (BGE 84 IV
112). Das Erfordernis, einen raschen Blick nach links zu werfen, ist auch
dann nicht sinnlos, wenn der Vortrittsberechtigte seine Geschwindigkeit,
besondere Umstände vorbehalten, nicht im Hinblick auf Gefahren, die
von dieser Seite auftauchen könnten, zu mässigen hat. Nähert sich von
links ein Fahrzeug zu schnell, um ihm den Vortritt lassen zu können,
so hat auch der Berechtigte alles zu unternehmen, was zur Vermeidung
eines Zusammenstosses geeignet und zumutbar ist. Kommt es trotzdem zum
Zusammenstoss, trifft den Vortrittsbelasteten die ganze Verantwortung.

    Indem Bernet mit 35 km/Std. in die Kreuzung einfuhr, ermöglichte
er Stieger, ihm den Vortritt zu lassen. Die Geschwindigkeit des
Beschwerdeführers war daher insofern nicht übersetzt.

Erwägung 2

    2.- Das Kantonsgericht ist allerdings der Ansicht, der Beschwerdeführer
sei selbst dann zu schnell gefahren, wenn von der Kreuzung abgesehen
werde. Die Tiefenackerstrasse sei ein enges Quartiersträsschen, welches
von privaten Liegenschaften mit Gartenausgängen und Garageausfahrten
gesäumt werde und keine Fussgängersteige aufweise. Ein Fahrzeug müsse
deshalb, namentlich wenn es von einem Ortsunkundigen geführt werde, auf
dieser Strasse innert 10 m anhalten können, dürfe also höchstens mit 25
km/Std. fahren.

    Welche Geschwindigkeit nach Art. 25 Abs. 1 MFG den Strassen-
und Verkehrsverhältnissen angepasst sei, ist eine Rechtsfrage,
die der Kassationshof frei überprüfen kann. Die Beantwortung der
Frage hängt allerdings wesentlich von der Würdigung der örtlichen
Verhältnisse ab, die der kantonale Richter im allgemeinen aus eìgener
Wahrnehmung kennt. Der Kassationshof weicht deshalb von der Ansicht
der kantonalen Instanzen über die zulässige Geschwindigkeit nur ab,
wenn es sich aufdrängt. Davon kann hier nicht die Rede sein. Mag eine
Geschwindigkeit von 25 km/Std. unter Verhältnissen wie den vorliegenden
auch niedrig erscheinen, zumal nichts in den Akten darauf hindeutet, dass
die Tiefenackerstrasse zur Zeit des Unfalls unter Verkehr gestanden habe,
so hat der Kassationshof doch keinen Anlass, eine höhere Geschwindigkeit
als zulässig zu erklären als das Kantonsgericht, das einen Augenschein
vorgenommen hat. Bernets Geschwindigkeit von 35 km/Std. war somit nicht
den gegebenen Strassenverhältnissen angepasst.

    Bei diesem Ergebnis kann dahingestellt bleiben, ob es dem
Beschwerdeführer auch noch bei einer Geschwindigkeit von 40 km/Std. möglich
gewesen wäre, einem gleichzeitig von rechts kommenden Fahrzeug den Vortritt
zu gewähren, wie in der Beschwerde gestützt auf ein privates Gutachten
behauptet wird.

Erwägung 3

    3.- Ein Fehler war es auch, dass der Beschwerdeführer bei der Einfahrt
in die Kreuzung keinen Blick nach links warf, um sich zu vergewissern,
ob von dort her ein Fahrzeug in die Kreuzung einzufahren im Begriffe sei,
mit dem es zum Zusammenstoss kommen könnte. Das hätte er tun müssen,
als er freie Sicht nach links hatte, und auch tun können, da er nicht
behauptet, dass ihn von rechts kommender Verkehr daran gehindert hätte.