Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 IV 213



89 IV 213

43. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 25. Oktober 1963
i.S. Willimann gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    1.  Art. 18 Abs. 2 lit. b VRV. Begriff des Engpasses (Erw.  4).

    2.  Art. 18 Abs. 2 lit. d VRV. Die Strassenverzweigung erstreckt sich
auch auf anstossende trichterförmige Ausweitungen (Erw. 6).

    3.  Art. 19 Abs. 1 VRV. Begriff des Parkierens (Erw. 7).

    4.  Art. 19 Abs. 2 lit. e VRV. Das Parkieren ist auf beiden Seiten
des Bahnüberganges, ohne Rücksicht auf die Fahrrichtung des Fahrzeuges,
verboten (Erw. 8).

Sachverhalt

    A.- Willimann fuhr am 16. Januar 1963 nach 19 Uhr mit einem
Personenwagen durch die Haldenstrasse in Luzern stadtauswärts
bis zur Stelle, wo diese Strasse auf die Linie der Gotthardbahn
stösst. Dort befindet sich ein Bahnübergang, auf dessen Nordseite
trichterförmig drei Strassen zusammentreffen, nämlich von Nordwesten die
Felsentalstrasse, von Nordosten die Bellerivestrasse und von Südosten
die Kreuzbuchstrasse. Willimann bog nach Überquerung der Bahn in die
Kreuzbuchstrasse, hielt in dieser 9,2 m vom Bahnübergang und 1 m vom
südlichen Strassenrand entfernt an und begab sich zu Fuss zum Kiosk,
der im Winkel zwischen der Felsentalstrasse und der Bahnlinie steht,
um Zigaretten zu kaufen.

    Unterdessen fuhr Imhof mit einem anderen Personenwagen über den
Bahnübergang in die Kreuzbuchstrasse, deren Fahrbahn wegen des an den
Rändern aufgehäuften Schnees nur in einer Breite von 5,2 m benützt werden
konnte. Als Imhof links am Wagen Willimanns vorbeifahren wollte, kam ihm
ein von Wiederkehr geführter Lieferungswagen entgegen, der mit 35-40 km/Std
durch die Kreuzbuchstrasse gegen den Bahnübergang fuhr. Beim Versuch, einen
Zusammenstoss zu vermeiden, begann der Lieferungswagen auf dem Schneebelag
zu gleiten. Er stiess von vorn auf die Vorderseite des Personenwagens
des Imhof, der ungefähr neben dem Wagen Willimanns angehalten hatte.

    B.- Das Amtsgericht Luzern-Stadt sprach am 14. Juni 1963 Wiederkehr
von der Anklage der Verletzung von Verkehrsregeln frei, verurteilte dagegen
Willimann wegen Übertretung von Art. 18 Abs. 2 lit. a bis d und 19 Abs. 2
lit. e VRV zu Fr. 60.- und Imhof wegen Widerhandlung gegen Art. 35 Abs. 2
SVG zu Fr. 40.- Busse.

    C.- Willimann führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt, das Urteil
des Amtsgerichts aufzuheben und die Sache zu seiner Freisprechung an die
Vorinstanz zurückzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 4

    4.- Gemäss Art. 18 Abs. 2 lit. b VRV ist das freiwillige Halten in
Engpässen und neben Hindernissen in der Fahrbahn untersagt.

    Das Amtsgericht wirft dem Beschwerdeführer vor, er habe seinen
Personenwagen "im Bereiche einer durch Schneehaufen verengten Strasse"
angehalten.

    Damit hat er die erwähnte Bestimmung nicht übertreten. Von einem
Engpass könnte nur die Rede sein, wenn die Kreuzbuchstrasse an der Stelle,
an welcher der Beschwerdeführer anhielt, im Verhältnis zu ihrer normalen
Breite wesentlich enger gewesen wäre. Art. 18 Abs. 2 lit. b will nur
verhüten, dass dort angehalten werde, wo die Strasse aus irgendeinem
Grunde enger ist, damit die ohnehin verkehrshemmende Stelle nicht noch
enger und der Verkehr nicht noch mehr behindert oder gar verunmöglicht
werde. Der an den Rändern der Kreuzbuchstrasse angehäufte Schnee hatte nur
zur Folge, dass die Fahrbahnbreite von rund 6 m, wie sie in schneefreiem
Zustande bestand, sich auf 5,2 m verringerte. Diese Verengung war nicht
so bedeutend, dass der Verkehr in dieser Strasse bereits stark gehemmt
gewesen wäre und ein Engpass bestanden hätte, bevor der Beschwerdeführer
dort anhielt. Art. 18 Abs. 2 lit. b verbietet nicht das Schaffen von
Engpässen, sondern das Halten in Engpässen.

Erwägung 6

    6.- Nach Art. 18 Abs. 2 lit. d VRV darf bei Strassenverzweigungen nicht
näher als 5 m vor und nach der Querfahrbahn freiwillig angehalten werden.

    Der Beschwerdeführer verkennt den Sinn dieser Bestimmung, wenn er
behauptet, er habe 10 m nach der Strassenverzweigung angehalten, weil er
dies 10 m vom Bahnübergang entfernt getan habe. Verzweigungen, worunter
Art. 1 Abs. 8 VRV Kreuzungen, Gabelungen oder Einmündungen von Fahrbahnen
versteht, umfassen nicht nur das Gebiet, das den aufeinandertreffenden
Fahrbahnen bei gedachter Fortführung ihrer Randlinien gemeinsam ist,
sondern auch die Fläche anstossender trichterförmiger Ausweitungen,
die dann entstehen, wenn die Fahrbahnränder in einem Bogen oder in einer
gebrochenen Linie ineinander übergeführt werden (BGE 85 IV 87; Urteil des
Kassationshofes vom 14. Juni 1963 i.S. Jecker). Eine solche trichterförmige
Ausweitung besteht beim Zusammentreffen der Kreuzbuchstrasse mit der
Bellerivestrasse. Der Punkt, an dem sich die Kreuzbuchstrasse auf ihrer
Nordseite gegen die Bellerivestrasse hin auszuweiten beginnt, lag östlich
vom angehaltenen Fahrzeug des Beschwerdeführers. Er befand sich somit
immer noch innerhalb der Strassenverzweigung und hatte diese keinesfalls
5 m hinter sich. Der Tatbestand der Übertretung von Art. 18 Abs. 2 lit. d
VRV ist demnach erfüllt.

Erwägung 7

    7.- Art. 19 Abs. 1 VRV versteht unter Parkieren "das Abstellen des
Fahrzeuges, das nicht bloss dem Ein- und Aussteigenlassen von Personen
oder dem Güterumschlag dient".

    Diese Umschreibung deckt sich nicht mit dem durch die Rechtsprechung
entwickelten Begriff des Aufstellens im Sinne des Art. 49 Abs. 2
MFV. Der Beschwerdeführer, der geltend macht, er habe nicht parkiert,
vermag daher aus BGE 81 IV 300 nichts abzuleiten. Namentlich wird das
Parkieren nicht dadurch widerlegt, dass er sofort nach dem geplanten
Einkauf am nahe gelegenen Kiosk weiterfahren wollte. Ob er diese Absicht
durch das Laufenlassen des Motors - das übrigens verboten war (Art. 22
Abs. 1 VRV) - und durch das Einschalten der Standlichter und des rechten
Blinklichtes bekundet hat, ist daher unerheblich. Massgebend ist einzig,
ob er angehalten hat, um jemanden aus- oder einsteigen zu lassen oder
Güter umzuschlagen.

    Weder das eine noch das andere trifft zu. Der Beschwerdeführer hielt
nicht an, um einem Insassen das Aussteigen oder jemandem, der mitfahren
wollte, das Einsteigen zu ermöglichen. Er hat vielmehr das Fahrzeug
zur Besorgung eines Einkaufes verlassen und sich von ihm entfernt. Der
Beschwerdeführer hat auch nicht Güter umgeschlagen. Darunter ist das
Verladen oder Ausladen von Sachen zu verstehen, die nach Grösse oder
Gewicht die Beförderung durch ein Fahrzeug nötig machen. Ein Päcklein
Zigaretten ist kein solches Gut. Der Beschwerdeführer hat daher sein
Fahrzeug parkiert, wenn auch nur für kurze Zeit.

Erwägung 8

    8.- Der Beschwerdeführer glaubt, Art. 19 Abs. 2 lit. e VRV verbiete
das Parkieren näher als 20 m vom Bahnübergang nur dem, der diesen noch
nicht erreicht, nicht auch dem, der ihn schon hinter sich hat.

    Ein vernünftiger Grund für diese Unterscheidung fehlt. Die Bestimmung
will die Sicht auf die Bahnlinie freihalten und die Behinderung
oder Gefährdung des Verkehrs am Bahnübergang verhüten (Art. 37 Abs. 2
SVG). Unter diesen Gesichtspunkten ist es unerheblich, ob der Bahnübergang
vor oder hinter dem parkierenden Fahrzeug liegt und auf welcher Seite der
Strasse dieses steht. Die Bahn kann sich von der einen wie von der anderen
Richtung nähern, weshalb auf beiden Seiten des Bahnübergangs die Sicht von
der Strasse aus nach beiden Richtungen frei bleiben muss. Desgleichen ist
ein am Bahnübergang parkiertes Fahrzeug ohne Rücksicht darauf, ob es ihn
schon überquert hat oder nicht, ein verkehrshemmendes Hindernis, namentlich
dann, wenn hinter geschlossenen Schranken mehrere Fahrzeuge anhalten,
die bei der Weiterfahrt kreuzen müssen. Der in Art. 19 Abs. 2 lit. e
verwendete Ausdruck "bei Bahnübergängen" kann daher nur den Sinn haben,
dass beidseits des Bahnüberganges nicht näher als 50 bzw. 20 m parkiert
werden darf. Wäre vor Bahnübergängen gemeint, so würde "vor" oder "davor"
gesagt, wie z.B. in Art. 18 Abs. 2 lit. e VRV (Fussgängerstreifen),
Art. 18 Abs. 2 lit. g VRV (Signale), Art. 24 Abs. 1 VRV (Anhalten schwerer
Motorwagen vor Bahnübergängen) oder Art. 31 Abs. 4 VRV (Standlicht beim
Warten vor Bahnübergängen). Es kann denn auch aus den zwei letztgenannten
Bestimmungen, die einen anderen Zweck als Art. 19 Abs. 2 lit. e verfolgen,
nichts zugunsten der Auffassung des Beschwerdeführers abgeleitet werden.