Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 IV 209



89 IV 209

42. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 7. November 1963
i.S. Burri gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz. Regeste

    Art. 45 Abs. 3 MFV; Vortrittsrecht des Fussgängers.

    1.  Der Fussgänger soll die Strasse ungehindert überqueren können,
wenn er die Fahrbahn so frühzeitig betreten hat, dass es dem nahenden
Fahrzeugführer noch möglich ist, ihm den Vortritt zu gewähren, ohne
jemanden zu gefährden.

    2.  Der Fussgänger ist solange vortrittsberechtigt, als er sich auf
dem Streifen befindet; er ist nicht gehalten, in der Strassenmitte einen
Halt einzuschalten.

Sachverhalt

    A.- Stiller fuhr am 17. Januar 1960 am Steuer seines Personenwagens
Opel-Rekord auf der Kantonsstrasse von Pfäffikon nach Rapperswil. Etwa
um 17 Uhr näherte er sich, einen mit 70 km/Std. fahrenden Personenwagen
überholend, ausserorts der spitzwinklig von rechts einmündenden
Hurdenerstrasse. Als er beim Wiedereinschwenken der Einmündung zwischen 120
und 110 m nahe war, betrat der 64-jährige Burri, aus der Hurdenerstrasse
kommend, den von dort quer über die 8 m breite Hauptstrasse führenden
Fussgängerstreifen. Stiller sah den Fussgänger zu spät, um noch vor
dem Streifen anhalten zu können. Er versuchte nach links auszuweichen,
streifte dabei Burri und geriet auf die linke Seite der Fahrbahn, wo er
frontal mit einem Personenwagen zusammenstiess, der, von Werren geführt, in
der Gegenrichtung fuhr. Stiller, Werren, ihre Mitfahrer und Burri erlitten
erhebliche Verletzungen. Ausserdem entstand beträchtlicher Sachschaden.

    B.- Das Bezirksgericht Höfe erklärte Stiller und Burri am 3. Januar
1961 der fahrlässigen Störung des öffentlichen Verkehrs (Art. 237 Ziff. 2
StGB), der fahrlässigen Körperverletzung (Art. 125 StGB) sowie der
fahrlässigen Sachbeschädigung (§ 13 EG zum StGB) schuldig und verurteilte
ersteren zu Fr. 300.--, letzteren zu Fr. 75.- Busse.

    Das Kantonsgericht von Schwyz bestätigte am 25. April 1961 dieses
Urteil mit der Ausnahme, dass es Burri bloss der fahrlässigen Störung
des öffentlichen Verkehrs schuldig fand. Es warf ihm vor, auf den
Strassenverkehr zu wenig Rücksicht genommen zu haben.

    C.- Burri führt Nichtigkeitsbeschwerde. Er beantragt dem Bundesgericht,
das Urteil des Kantonsgerichtes aufzuheben und die Sache zu seiner
Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    D.- Die Staatsanwaltschaft des Kantons Schwyz beantragt, die Beschwerde
gutzuheissen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach Art. 45 Abs. 3 MFV haben die Motorfahrzeugführer vor
Fussgängerstreifen die Geschwindigkeit zu mässigen und nötigenfalls
anzuhalten, um den sich schon darauf befindenden Fussgängern die
ungehinderte Überquerung der Fahrbahn zu ermöglichen. Diese Bestimmung
räumt dem Fussgänger auf dem Streifen den Vortritt ein, den er
gegenüber den Fahrzeugführern allerdings nicht beliebig, sondern nur dann
beanspruchen darf, wenn er die Fahrbahn auf angemessene Entfernung vor den
nahenden Fahrzeugen betreten hat (BGE 86 IV 37 f.). Der Fussgänger hat
trotz seines Vortrittsrechts auf die Strassen- und Verkehrsverhältnisse
Rücksicht zu nehmen und aufmerksam zu sein. Art. 35 Abs. 1 MFG hält ihn
denn auch ausdrücklich an, die Strasse vorsichtig zu überschreiten. Dies
setzt voraus, dass er sich noch vor dem Betreten der Fahrbahn sorgfältig
nach links und rechts vergewissert, ob von dieser oder jener Seite ein
Fahrzeug sich nähere, mit dem es zum Zusammenstoss kommen könnte. Wenn
er sieht oder bei gehöriger Aufmerksamkeit sehen könnte, dass ihm ein
Fahrzeugführer den Vortritt nicht lassen will oder nicht mehr lassen
kann, darf er ihn nicht erzwingen. Er muss bei solcher Lage vor dem
Fussgängerstreifen warten. Hat er aber die Fahrbahn so frühzeitig betreten,
dass es dem nahenden Fahrzeugführer noch möglich ist, ihm den Vortritt zu
gewähren, ohne jemanden zu gefährden, so soll der Fussgänger sein Vorhaben
ungehindert ausführen können. Er darf alsdann damit rechnen, dass der
Fahrzeugführer sich vorschriftsgemäss verhalten und ihm die Ausübung
seines Rechts ermöglichen werde (vgl. BGE 65 I 59 f., 86 IV 37 Erw. 1,
89 II 51 Erw. 1).

Erwägung 2

    2.- Als der Beschwerdeführer die Fahrbahn betrat, war der Personenwagen
Stillers nach den tatsächlichen und gemäss Art. 277bis Abs. 1 BStP
verbindlichen Feststellungen des Kantonsgerichtes noch zwischen 120 und
110 m vom Fussgängerstreifen entfernt. Auf diese Entfernung hätte der
Fahrzeugführer bei pflichtgemässer Aufmerksamkeit Zeit genug gehabt,
die Geschwindigkeit zu mässigen und dem Fussgänger den Vortritt zu
gewähren, und zwar selbst dann, wenn er, wie die Vorinstanz feststellt,
soeben einen andern Wagen mit erheblich mehr als 70 km/Std. überholt
hatte. Das Kantonsgericht schliesst denn auch nicht aus, dass Burri
die Strasse auf angemessene Entfernung vor den aus Richtung Pfäffikon
herkommenden Fahrzeugen zu überschreiten begonnen hat. Traf dies aber zu,
so kann darauf, wie der Beschwerdeführer die Geschwindigkeit Stillers
einschätzte, nichts ankommen. Dass der Fahrzeuglenker auf der geraden
und übersichtlichen Strecke den Fussgänger zu spät wahrnahm, weil er
unaufmerksam war, brauchte der Beschwerdeführer nicht in Rechnung zu
stellen. Nachdem er die Fahrbahn rechtzeitig betreten hatte, durfte
er wegen seines Vortrittsrechtes gegenteils voraussetzen, dass Stiller
den Lauf mässigend auf ihn Rücksicht nehmen und hinter ihm durchfahren
werde. Letzteres wäre dem Fahrzeuglenker bei nur mässig verminderter
Geschwindigkeit denn auch möglich gewesen, hat er doch den Fussgänger
nach dem Unfallplan gestreift, nachdem Burri die Strasse schon zur Hälfte
überschritten hatte. Der Beschwerdeführer hatte somit keine begründete
Veranlassung, das Überqueren der Fahrbahn bis nach der Durchfahrt Stillers
aufzuschieben und damit auf sein Vortrittsrecht zu verzichten.

    Dazu musste ihn auch der Umstand nicht bewegen, dass gleichzeitig
ein Personenwagen von rechts nahte. Der noch offene Zwischenraum
von 85 m genügte dessen Lenker, der mit 50-60 km/Std. fuhr, vollauf,
um nötigenfalls vor dem Fussgängerstreifen anzuhalten und Burri die
ungehinderte Überquerung der Fahrbahn zu ermöglichen. Werren hat darauf
übrigens pflichtgemäss Rücksicht genommen, indem er die Fahrt verlangsamte,
als er den Fussgänger die Strasse betreten sah. Folglich durfte der
Beschwerdeführer auch diesem Fahrzeugführer gegenüber den Vortritt
beanspruchen. Er wäre entgegen der Annahme der Vorinstanz keineswegs
gehalten gewesen, in der Strassenmitte anzuhalten, um den von rechts
kommenden Wagen Werrens vor ihm durchfahren zu lassen. Solange der
Fussgänger sich auf dem Streifen befindet, ist er vortrittsberechtigt
(BGE 89 II 53), mag der vortrittsbelastete Fahrzeugführer sich ihm von
rechts oder von links nähern. Der Fahrzeuglenker hat entweder anzuhalten,
wie dies Art. 45 Abs. 3 MFV vorschreibt, oder von vorneherein, sofern es
die Strassen- und Verkehrsverhältnisse erlauben, soweit nach rechts oder
links auszuholen, dass der Fussgänger ungefährdet weitergehen kann. Anstand
und Rücksichtnahme mögen dem Fussgänger namentlich auf breiten Strassen und
bei grossem Fahrverkehr von rechts nahe legen, in der Strassenmitte einen
Halt einzuschalten. Aber verpflichtet ist er dazu nicht. Im vorliegenden
Falle wäre dies dem Beschwerdeführer schon deshalb nicht zuzumuten gewesen,
weil die Fahrbahn durch dünne Schneeschichten eingeengt war und von rechts
einzig Werren auf den Streifen zufuhr.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Kantonsgerichts Schwyz vom 25. April 1961 aufgehoben und die Sache zur
Freisprechung des Beschwerdeführers an die Vorinstanz zurückgewiesen.