Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 IV 146



89 IV 146

29. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 28. Juni 1963
i.S. Lehmann gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. Regeste

    Art. 26 Abs. 3 MFG, 46 Abs. 1 MFV.

    1.  Das Überholen auf einer als kurvenreich gekennzeichneten Strecke
ist nicht schlechthin verboten (Erw. 3a).

    2.  Voraussetzungen, unter denen eine Strecke zum Überholen frei ist
(Erw. 3b).

    3.  Wer auf einer Strecke, auf der das Überholen nicht zum vorneherein
verhoten ist, hinter einem andern Fahrzeug bloss nach links ausbiegt,
um zu prüfen, ob er es überholen könne, hat mit dem Überholen noch nicht
begonnen (Erw. 4).

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Das Obergericht führt aus, der Beschwerdeführer hätte auf dem
Strassenstück, auf dem er überholen wollte, nicht überholen dürfen, denn
er sei durch Signale auf weitere Biegungen aufmerksam gemacht worden,
so dass er gar nicht habe feststellen können, ob die Strecke im Sinne
von Art. 46 Abs. 1 MFV frei und übersichtlich sei.

    a) Dieser Auffassung kann insoweit nicht zugestimmt werden, als die
Vorinstanz sagen wollte, das Überholen sei auf einer als kurvenreich
gekennzeichneten Strecke überhaupt nicht erlaubt. Die Kurvensignale im
Sinne des Art. 2 des BRB über die Einführung neuer Strassensignale vom
3. März 1953 sind bloss Gefahrensignale, die den Motorfahrzeugführer vor
unübersichtlichen Stellen warnen; sie bedeuten nicht, dass das Überholen
auf der gekennzeichneten Strecke, insbesondere zwischen zwei Biegungen,
verboten sei.

    b) Die zwischen einer Rechts- und einer Linkskurve liegende
Strecke von höchstens 100-110 m Länge, auf der der Beschwerdeführer
zu überholen beabsichtigte, war jedoch unter den gegebenen Umständen
nicht frei, wie Art. 46 Abs. 1 MFV verlangt. Diese Voraussetzung ist
nach der Rechtsprechung nur erfüllt, wenn der Überholende zu Beginn
des Überholens überzeugt sein darf, dass er es auch gefahrlos beenden
kann. Dazu gehört nicht nur, dass sich der Überholungsvorgang nicht in
einen Strassenabschnitt hineinzieht, der vom Überholenden nicht von Anfang
an vollständig überblickbar ist, sondern auch, dass das Unternehmen
in angemessener Entfernung vor dem Beginn einer unübersichtlichen
Strassenstrecke abgeschlossen werden kann (Urteil des Kassationshofes
vom 23. August 1958 i.S. Frey). Das wäre wahrscheinlich möglich gewesen,
wenn der Beschwerdeführer den vorausfahrenden Stationswagen unmittelbar
ausgangs der Rechtskurve, in der er sehr langsam fuhr, rasch überholt
hätte. Häring, der Führer des Stationswagens, beschleunigte jedoch kurz
nach der Rechtskurve, was zulässig war und womit der Beschwerdeführer,
zumal nach den Erfahrungen auf der vorausgegangenen Strecke, zu rechnen
hatte. Er musste infolgedessen darauf gefasst sein, dass bis zum Zeitpunkt,
in dem er das Überholen verwirklichen konnte, die dazu verfügbare Strecke
sich verkürzt habe und der Überholungsweg mit zunehmender Geschwindigkeit
des zu Überholenden sich verlängern werde. Der Beschwerdeführer hat denn
auch, als er bald darauf die Scheinwerfer einschaltete, bemerkt, dass ihm
nur noch rund 60 m bis zur Linkskurve offen standen, und erkannt, dass
er seine Absicht aufgeben müsse. War ein Überholen an der Stelle, wo es
der Beschwerdeführer durchführen wollte, schon deswegen nicht zulässig,
weil die Strecke nicht frei war, so kann dahingestellt bleiben, ob sie
wegen der Dunkelheit und der sichtbehindernden Bauart des vorausfahrenden
Fahrzeuges nicht zum vorneherein auch als unübersichtlich hätte angesehen
werden müssen.

Erwägung 4

    4.- Ein Überholen liegt aber nur vor, wenn damit tatsächlich begonnen
wurde. Diese Voraussetzung ist erfüllt, wenn ein Motorfahrzeugführer in
der Absicht, einem andern vorzufahren, auf die neben diesem verlaufende
Fahrbahn ausbiegt und ihn einzuholen beginnt, d.h. sich dem zu Überholenden
soweit nähert, dass er, wenn er mit genügendem Abstand hinter diesem
wieder nach rechts einschwenken wollte, seine Fahrt verzögern müsste.

    Dagegen hat noch nicht zu überholen begonnen, wer auf einer Strecke,
auf der das Überholen nicht zum vornherein verboten ist, bloss ausschert,
um zu prüfen, ob er überholen könne. Eine Wegstrecke kann ihrer
natürlichen Beschaffenheit nach übersichtlich sein, der Überblick über
die Fahrbahn aber durch die augenblickliche Verkehrslage, namentlich
einen vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer, erschwert oder behindert
werden. In solchen Fällen muss dem Fahrzeugführer, der überholen will,
unter Beobachtung der erforderlichen Vorsicht gestattet sein, durch
Ausbiegen gegen die Strassenmitte zu sich die erforderliche Übersicht
zu verschaffen, um festzustellen, ob die Absicht, zu überholen, sich
verwirklichen lasse. Das Obergericht sieht darin zu Unrecht nicht bloss
eine Vorbereitung, sondern schon den Beginn des Überholens. Es stützt sich
auf BGE 81 IV 50, verkennt jedoch, dass in dem dort beurteilten Falle,
wo ein Motorradfahrer in einer Strassenkreuzung einen Personenwagen
überholen wollte, der Überholversuch an einer gemäss Art. 26 Abs. 3 MFG
schlechthin verbotenen Stelle unternommen wurde und deshalb schon die
Beanspruchung der zum Vorfahren benötigten Fahrbahn unerlaubt war. Der
vorliegende Fall unterscheidet sich von jenem dadurch, dass hier das
Überholen und damit auch die Benützung der linken Strassenhälfte nicht
schon an sich verboten war. Der Beschwerdeführer durfte daher, jedenfalls
auf der geraden Strecke und zu einem Zeitpunkt, da kein anderes Fahrzeug
entgegenkam oder unmittelbar nachfolgte, nach links ausbiegen, um auf der
linken Fahrbahn, wo ihm die Sicht nach vorn durch den vorausfahrenden
Stationswagen weniger verdeckt war, sich über die Zulässigkeit des
beabsichtigten Überholungsmanövers zu vergewissern.

    Ob indessen der Beschwerdeführer sich daraufbeschränkt habe, durch
Ausschwenken gegen die Strassenmitte und Einschalten der Scheinwerfer die
Strassen- und Verkehrsverhältnisse abzuklären, oder ob er darüber hinaus
das beabsichtigte Überholen bereits eingeleitet habe, steht nicht fest. Aus
den Aussagen Härings könnte geschlossen werden, der Beschwerdeführer habe,
nachdem er auf der linken Strassenseite die Scheinwerfer eingeschaltet
hatte, Vollgas gegeben und mit dem Vorfahren begonnen, um es dann plötzlich
abzubrechen und wieder nach rechts einzuschwenken. Der Beschwerdeführer
erklärt, er sei, als Häring nach der Rechtskurve wieder beschleunigte,
ebenfalls losgefahren und habe nach links haltend die Scheinwerfer
aufgeblendet, um sicher zu sein, ob die Strecke zum Überholen frei sei;
da dies nicht der Fall gewesen sei, habe er wieder abgeblendet und,
ohne den Wagen abzubremsen, nach rechts eingeschwenkt. Welche dieser
Sachdarstellungen zutrifft oder ob der Sachverhalt mit keiner der
beiden übereinstimmt, ist nicht festgestellt. Entscheidend ist, ob der
Beschwerdeführer, als er losfuhr, lediglich den bisherigen Abstand zum
vorausfahrenden Fahrzeug, der mindestens 12 m betrug, wahrte, um für den
Fall, dass die Strecke frei sein sollte, überholen zu können, oder ob er
diesen Abstand vielmehr durch schnelleres Fahren so verkürzte, dass er den
Wagen Härings ganz oder nahezu eingeholt hat. Ist letzteres zu bejahen,
so hat der Beschwerdeführer mit dem Überholen begonnen. Er ist diesfalls
wegen Widerhandlung gegen Art. 26 Abs. 3 MFG in Verbindung mit Art. 46
Abs. 1 MFV zu bestrafen, denn entweder konnte er, als er aufzuholen begann,
noch keine Gewissheit gehabt haben, ob die Strecke zum Überholen frei
sei, oder er hätte schon früher im Scheinwerferlicht erkennen können,
dass sie zu kurz war.

    Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben und die Sache in
diesem Punkt zur Ergänzung der tatsächlichen Feststellungen und zu neuer
Beurteilung an das Obergericht zurückzuweisen.