Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 IV 10



89 IV 10

4. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 15. Februar 1963
i.S. S. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern. Regeste

    1.  Art. 277 BStP. Diese Bestimmung umschreibt nicht einen
selbständigen Beschwerdegrund.

    2.  Art. 191 Ziff. 2 StGB. Fällt unzüchtiges Reden unter den Begriff
der unzüchtigen Handlung?

Sachverhalt

    A.- S. sprach in seiner Wohnung mit der zehnjährigen X.  über den
Geschlechtsverkehr und dessen Folgen bei Hunden und Katzen. Er redete unter
anderem vom "Samen im Bisi" und von "Hineintun in den Bauch des Fraueli".

    Vor der elfjährigen Y. zeigte sich S. in seiner Wohnung wiederholt
nackt.

    B.- Das Obergericht des Kantons Luzern sprach am 10.  April 1962
S. wegen seiner Äusserungen im einen und wegen seiner Entblössungen im
andern Falle der wiederholten Unzucht mit Kindern nach Art. 191 Ziff. 2
StGB schuldig und verurteilte ihn zu sechs Monaten Gefängnis.

    C.- Der Verurteilte führte gegen dieses Urteil
Nichtigkeitsbeschwerde. Der Kassationshof hob es auf und wies die Sache
zur teilweisen Freisprechung des Beschwerdeführers und zur Neubemessung
der Strafe an die Vorinstanz zurück.

Auszug aus den Erwägungen:

Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer bringt vor, das angefochtene Urteil verletze
im Falle der Y. wie in demjenigen der X. Art. 272 des Bundesgesetzes
über die Organisation der Bundesrechtspflege, im zweiten Falle ausserdem
Art. 191 Ziff. 2 StGB.

    Zur zuerst behaupteten Gesetzesverletzung führt der Beschwerdeführer
aus, im obergerichtlichen Urteil werde die Feststellung des Tatbestandes
nicht und im erstinstanzlichen nur ungenügend begründet. Offenbar will er
sich damit auf Art. 277 BStP berufen, d.h. geltend machen, die angefochtene
Entscheidung leide an derartigen Mängeln, dass die Gesetzesanwendung nicht
nachgeprüft werden könne, weshalb die Sache an die kantonale Behörde
zurückzuweisen sei. Diese Bestimmung umschreibt indessen nicht einen
selbständigen Beschwerdegrund, sondern kann nur von Bedeutung werden, wenn
und soweit wegen Verletzung materieller Gesetzesbestimmungen Beschwerde
geführt wird (Urteil des Kassationshofes vom 28. Mai 1954 i.S. Obwalden
gegen Achermann und Durrer). Da der Beschwerdeführer hinsichtlich der
Vorfälle mit Y. einzig die Verletzung der erwähnten prozessualen Bestimmung
rügt, ist insoweit auf die Beschwerde nicht einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Verurteilung wegen Unzucht mit X. ficht der Beschwerdeführer
mit der Begründung an, dass das mit diesem Mädchen geführte Gespräch
weder unzüchtig gewesen sei, noch eine Handlung im Sinne des Art. 191
Ziff. 2 StGB darstelle.

    In der Tat kann man sich fragen, ob blosses Reden als "Handlung"
gelten könne. Was Art. 203 StGB betrifft, wurde gestützt auf
die Gesetzesmaterialien bereits entschieden, dass der Begriff der
unzüchtigen Handlung nicht im weitesten Sinne, sondern bloss als Tat im
Gegensatz zum Wort zu verstehen sei (BGE 70 IV 85). Das spricht dafür,
dass unzüchtiges Reden auch in den andern Bestimmungen des 5. Titels
(Art. 187-212) nicht unter den Begriff der unzüchtigen Handlung fällt. Die
Bestimmungen der unter dem ersten Randtitel zusammengefassten Deliktsgruppe
(Art. 187-197) scheinen dies zu bestätigen. So lassen die Tatbestände,
in denen durch Anwendung von Zwang oder anderer Mittel die Duldung oder
Vornahme unzüchtiger Handlungen erlangt wird (Art. 188, 194 Abs. 1 und 2),
deutlich erkennen, dass die Handlungen nur in einer körperlichen Betätigung
bestehen können. Im gleichen Sinne sind offensichtlich auch diejenigen
Bestimmungen auszulegen, die voraussetzen, dass der Täter die Handlungen
mit dem Opfer vorgenommen hat (Art. 189 Abs. 2, 190 Abs. 2, 191 Ziff. 2
Abs. 1, 192 Ziff. 2 Abs. 1, 193 Abs. 2). Ebenso hatte der Gesetzgeber
offenbar bei den Tatbeständen der Verleitung zu unzüchtigen Handlungen
(Art. 191 Ziff. 2 Abs. 2, 192 Ziff. 2 Abs. 2) nur Handlungen im Auge,
die am eigenen oder an einem fremden Körper vorgenommen werden; es wäre
schwer zu verstehen, hätte schon das blosse Verleiten zu unzüchtigem Reden
unter so hohe Strafe gestellt werden wollen, wie sie in Art. 191 und 192
angedroht werden. Dazu kommt, dass die mündliche Äusserung unzüchtiger
Gedanken im allgemeinen nicht so nachhaltig und in dem Masse verletzend
wirkt wie augenfälliges unzüchtiges Tun. Bloss unzüchtige Redensarten
werden denn auch nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht als "Unzucht"
(vgl. Randtitel zu Art. 190, 191, 192, 193) aufgefasst.

    Dem kann entgegegehalten werden, dass Wortlaut und Sinn des
Art. 191 den Einbezug mündlicher unzüchtiger Äusserungen nicht notwendig
hindern. Ziff. 2 Abs. 3 dieser Bestimmung erfasst im Unterschied zu den
andern zum Schutze der geschlechtlichen Freiheit und Ehre erlassenen
Normen auch Handlungen, die vor dem Opfer vorgenommen werden, also auch
unzüchtige Vorgänge, die den Täter nicht mit dem Körper des Kindes in
Berührung bringen. Darunter fallen körperliche Handlungen, die der Täter
vor den Augen des Kindes an sich selber oder an Dritten vornimmt. Doch kann
nicht bestritten werden, dass unzüchtiges Reden die sittliche Entwicklung
des Kindes unter Umständen ebenso oder noch mehr gefährden kann, als
eine Entblössung vor ihm oder eine unbedeutende unzüchtige Berührung des
Kindes es zu tun vermögen. In solchen Fällen Art. 191 nicht anzuwenden,
nur weil die Einwirkung durch Worte, nicht durch eine Tat geschieht, kann
im Hinblick darauf, dass die Bestimmung den Schutz der geschlechtlichen
Unversehrtheit des Kindes in körperlicher wie in seelischer Beziehung
bezweckt, nicht befriedigen, namentlich dann nicht, wenn anzunehmen wäre,
der Bundesgesetzgeber habe durch abschliessende Normierung des Schutzes
der Kinder unter 16 Jahren den Kantonen jede Möglichkeit genommen, auf
diesem Gebiete Übertretungstatbestände zu schaffen.

    Die aufgeworfene Frage braucht indessen nicht weiter erörtert zu
werden, da sie im vorliegenden Falle offen bleiben kann. Unzüchtig
wären die dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Äusserungen nur, wenn
sie in nicht leicht zu nehmender Weise gegen das Sittlichkeitsgefühl
in geschlechtlichen Dingen verstiessen (BGE 78 IV 163, 86 IV 19). Das
trifft nicht zu. Der Beschwerdeführer beschränkte sich darauf, vom
Geschlechtsverkehr und dessen Folgen bei Hunden und Katzen zu reden. In
den dabei verwendeten Ausdrücken "Bisi" und "Fraueli" liegt zwar ein
Hinweis auf den menschlichen Geschlechtsverkehr, doch blieb es nach den
tatsächlichen Feststellungen des Obergerichts offenbar bei einer blossen
Anspielung.