Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 II 38



89 II 38

9. Urteil der II. Zivilabteilung vom 21. März 1963 i.S. Brandes gegen
Schweizerische Bundesbahnen. Regeste

    Eisenbahnhaftpflicht. Unfall durch Beruhrung eines Drahtes der
elektrischen Fahrleitung.

    1.  Kein die Haftpflicht der Bahnunternehmung ausschliessendes
Verschulden des Geschädigten, dessen den Unfall auslösendes Verhalten
die nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartende Folge von ihm
nicht zu vertretender Kausalfaktoren war (Missverständnis auf seiten
des Vorgesetzten, Jugendlichkeit und Unerfahrenheit des Verunfallten
usw). Eventuell ganz geringfügiges Selbstverschulden (Erw. 2).

    2.  Drittverschulden, das unter dem Gesichtspunkte der adäquaten
Kausalität nicht die einzige Ursache des Unfalles ist, vermag die
Bahnunternehmung nicht zu befreien (Erw. 3).

    3.  Bahnseitiges Verschulden. Bedeutung interner, zum Schutze der
Bahnkunden aufgestellter Dienstvorschriften. Zusprechung einer Genugtuung
abgelehnt wegen Geringfügigkeit des dem Bahnpersonal zur Last fallenden
Verschuldens (Erw. 4 und 5).

Sachverhalt

    A.- 1. Der im Januar 1936 geborene, seit Ende Juli 1956 bei der
Firma Humosan AG, Düngemittel und Landesprodukte, St. Gallen, als
Hilfsarbeiter angestellte Josef Brandes erhielt am 29. August 1956
von seinem Vorgesetzten, Werkmeister Josef Romano, den Auftrag, mit dem
Chauffeur Hans Trummer nach dem Güterbahnhof St. Fiden zu fahren, um dort
beim Umladen einer Sendung Stroh von einem Güterwagen auf den Lastwagen
mitzuhelfen. Werkmeister Romano hatte nach seiner Darstellung zuvor einen
Bahnbeamten telephonisch ersucht, unverzüglich das Wägen der Ladung
zu veranlassen, da diese sogleich abgeholt werde. Der Beamte soll ihm
zugesichert haben, dass der Güterwagen bis zum Eintreffen des Lastwagens
der genannten Firma abladebereit sein werde, und er habe ihm auch die
Nummer des Güterwagens bekanntgegeben. Ungefähr eine halbe Stunde, nachdem
der Chef der Güterexpedition den Befehl zum Wägen des Güterwagens erteilt
hatte, trafen Trummer und Brandes, die erstmals auf dem Güterbahnhof
St. Fiden zu tun hatten, dort ein. Als Trummer den Güterwagen mit der
ihm von Romano angegebenen Nummer auf Gleis B 1 stehen sah, erkundigte er
sich beim Rangierarbeiter Friedrich Frischknecht, der in der Nähe stand,
ob er abladen könne. Frischknecht wies ihn an, noch zuzuwarten, da der
Wagen zuerst gewogen werden müsse. Trummer, der diese Äusserung irrtümlich
auf seinen Lastwagen bezog, steuerte daraufhin dieses Fahrzeug auf die
Strassenwaage der SBB und ersuchte um dessen Tarierung. Während der
Gütervorarbeiter Othmar Thurnherr diese vornahm, begab sich Trummer zum
bezeichneten Güterwagen und begann die Seile zu lösen, mit denen die über
die Ladung gezogene Plane befestigt war. Nachdem ihm Thurnherr zugerufen
hatte, es sei tariert, führte Trummer sein Lastfahrzeug zum Güterwagen
in der Meinung, dieser sei abladebereit. Weder er noch Brandes bedachten,
dass die Fahrleitung über dem Güterwagen noch unter Strom stehen könnte,
wie das tatsächlich der Fall war. Trummer bemerkte zu seinem Gehilfen
lediglich, er wolle zuerst noch ein Seil am Lastwagen anbinden. Während
er damit beschäftigt war, stieg Brandes auf die Strohladung, deren obere
Fläche sich bloss 1,40 m unter der Fahrleitung befand. Er kam dabei mit
dem Draht in Berührung und erlitt schwere Brandwunden.

    2. Eine wegen dieses Unfalls gegen Unbekannt eingeleitete
Strafuntersuchung wurde vom Untersuchungsrichteramt St. Gallen mangels
rechtsgenüglichen Beweises eingestellt. Die Staatsanwaltschaft des Kantons
St. Gallen bestätigte am 14. Februar 1957 diesen Entscheid, weil die die
Ursache des Unfalls bildenden Unachtsamkeiten und Missverständnisse der
einzelnen Beteiligten für eine strafrechtlich fassbare Fahrlässigkeit
nicht ausreichten.

    B.- Mit der am 10. Mai 1960 beim Bezirksgericht St.  Gallen
eingeschriebenen Klage belangte Brandes unter Berufung auf Art. 1 EHG
die Schweizerischen Bundesbahnen auf Schadenersatz und Genugtuung im
Totalbetrage von Fr. 51'946.10 nebst 5% Zins seit dem Unfalltag. Die
Beklagten bestritten jede Haftpflicht mit dem Hinweis auf grobes
Selbstverschulden des Klägers und zusätzlich auf grobes Drittverschulden
seiner Arbeitgeberfirma, die es unterlassen habe, ihm die nötigen
Instruktionen zu geben.

    Das Bezirksgericht wies die Klage am 2. September 1960 ab. Es fand,
der Kläger habe - wie jedermann heutzutage - die grosse Gefahr des
Eisenbahnbetriebes und insbesondere des Starkstromes kennen müssen und
daher ohne ausdrückliche Bestätigung von seiten des Bahnpersonals niemals
annehmen dürfen, der Strom sei ausgeschaltet. Sein Verhalten sei dermassen
unverständlich und leichtfertig, dass es eine Haftung der Beklagten
ausschliesse. Die Frage des Drittverschuldens könne deshalb offen bleiben.

    Auf Berufung des Klägers ordnete das Kantonsgericht St. Gallen am
13. Mai 1961 eine medizinische Expertise über die bei jenem eingetretene
Invalidität und deren Auswirkungen auf seine Erwerbsfähigkeit an. Nach
Eingang des Gutachtens berechnete es den Gesamtschaden auf Fr. 50'596.50,
sprach davon dem Kläger am 26. Oktober 1962 Fr. 16'865.50 nebst 5% Zins
ab Unfalldatum zu und wies die Klage im Mehrbetrage ab. Zur Begründung
führte das Gericht im wesentlichen folgendes an: Das Personal der SBB
treffe kein Verschulden, so dass auf jeden Fall der Genugtuungsanspruch
von Fr. 5000. - abzuweisen sei. Ein erhebliches Selbstverschulden des
Klägers liege vor, jedoch seien noch weitere für den Unfall kausale
Faktoren festzustellen, so das Verhalten des Chauffeurs Trummer und eine
unglückliche Verkettung von Umständen. Bei dieser Sachlage sei nicht auf
Ausschluss jeder Haftpflicht der Beklagten, sondern nur auf Reduktion
der Schadenersatzleistung gemäss Art. 5 EHG zu erkennen. Diese sei
entsprechend dem zwei Drittel betragenden Selbstverschulden des Klägers
auf Fr. 16'865.50 nebst 5% Zins ab Unfalldatum zu bemessen.

    C.- Beide Parteien haben die Berufung an das Bundesgericht erklärt. Der
Kläger hält an seinem Anspruch auf volle Entschädigung und Leistung
einer Genugtuung fest. Er anerkennt die auf Fr. 50'596.50 lautende
Schadenberechnung des Kantonsgerichtes und reduziert seinen Gesamtanspruch,
der sich bei Einschluss der Genugtuung von Fr. 5000. - auf Fr. 55'596.50
beliefe, auf die ursprünglich eingeklagte Summe von Fr. 51'946.10. Zur
Begründung macht er erneut geltend, seine eigene Unvorsichtigkeit trete,
soweit sie überhaupt feststellbar sei, weit hinter den von ihm nicht
zu verantwortenden Unfallursachen der inhärenten Betriebsgefahr und des
Verschuldens des Bahnpersonals zurück.

    Die Beklagten beharren ihrerseits auf dem Antrag auf Klageabweisung,
mit der Begründung, dass adäquate Ursache des Unfalls ausschliesslich das
schuldhafte Verhalten bahnfremder Personen (Selbstverschulden des Klägers,
Drittverschulden Trummers und Romanos) gewesen sei.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Beide Vorinstanzen haben in Übereinstimmung mit den Parteien
zutreffend angenommen, dass die Streitsache nach EHG und nicht nach ElG
zu beurteilen sei. Wenn auch der Unfallhergang an sich der Umschreibung
in Art. 27 Abs. 1 ElG entspräche, handelt es sich doch offensichtlich
um ein beim Eisenbahnbetrieb eingetretenes Schadenereignis (Art. 1 EHG;
BGE 75 II 71 und ständige Rechtsprechung).

Erwägung 2

    2.- Bei ihrer Annahme, dass den Kläger ein Selbstverschulden
treffe, ging die Vorinstanz davon aus, dass die bei Berührung einer
Starkstromleitung bestehende Lebensgefahr jedem urteilsfähigen Menschen
bekannt sei und dass daher grobfahrlässig handle, wer sich dieser Berührung
aussetzt, ohne vorher sich die Gewissheit verschafft zu haben, dass der
Strom ausgeschaltet ist. Dieser Grundsatz wurde in der Tat wiederholt in
bundesgerichtlichen Entscheiden ausgesprochen (Urteile vom 13. Dezember
1934 i.S. Wüest c. SBB, vom 13. Mai 1937 i.S. Imhof c. SBB, und BGE 75 II
73). Das berechtigt indessen nicht, ihn nun unbekümmert um den konkreten
Sachverhalt schematisch anzuwenden. Vielmehr ist in jedem Einzelfalle zu
prüfen, ob nach den gegebenen Umständen in einem solchen Verhalten wirklich
ein Selbstverschulden liege und ob dieses eine solche Intensität erreiche,
dass es die Haftpflicht der Bahn ausschliesst.

    a) Bei dem in BGE 75 II 68 beurteilten Falle war das Berühren der
Drähte vollkommen verbotswidrig und auch unvernünftig; es bestand nicht
der geringste Anlass zur Annahme, dass der Strom ausgeschaltet sei. In
den Fällen Wüest und Imhof hätten die Geschädigten bei einiger Überlcgung
mindestens im Zweifel darüber sein müssen, ob die Leitungen unter Strom
stünden; sie handelten offensichtlich voreilig und leichtfertig.

    Ganz anders verhält es sich hier. Der 20-jährige, mit den Vorgängen in
einem Güterbahnhof nicht vertraute Kläger war dem Chauffeur Trummer als
Gehilfe zum Abladen der Strohladung mitgegeben worden. Dieser aber war,
als er zusammen mit Brandes im Güterbahnhof eintraf, begründeterweise der
Meinung, der Güterwagen sei abladebereit, da dies dem Werkmeister Romano,
der Trummer und Brandes zum Bahnhof geschickt hatte, so mitgeteilt worden
war. Auf dem Bahnhof wurde er allerdings vom Rangierarbeiter Frischknecht
angewiesen, noch zu warten, bis der Wagen gewogen sei. Da jedoch Trummer
diese Äusserung irrtümlich auf sein eigenes Lastfahrzeug bezog, fuhr er
damit auf die Strassenwaage der SBB, um es wägen zu lassen. Obschon dieses
Verhalten, wie die Beklagten vor Bundesgericht selber bemerkten, völlig
unverständlich war, wurde Trummer von keiner Seite über das Missverständnis
aufgeklärt. Er begab sich infolgedessen im Glauben, dass der Güterwagen
abladebereit sei, schon während der Wägung seines Fahrzeuges mit Brandes
zum Bahnwagen und begann die Verpackungsseile zu lösen. Dabei sagte ihm
zwar niemand ausdrücklich, die Fahrleitung sei ausgeschaltet, er wurde
aber auch von keinem der diensttuenden Bahnangestellten auf das Gegenteil
hingewiesen, obschon das zweifellos nahegelegen hätte, als sich Trummer
und Brandes in für jedermann erkennbarer Weise am Güterwagen zu schaffen
machten. Frischknecht anerkannte denn auch in der Folge, dass er nicht
nur auf das Wägen hätte hinweisen, sondern Trummer ausdrücklich auch auf
die noch eingeschaltete Fahrleitung hätte aufmerksam machen sollen. Diese
Unterlassung des Bahnpersonals ist aber, mag sie auch als strafrechtlich
irrelevant erachtet worden sein, wegen ihres Einflusses auf das Verhalten
Trummers und Brandes jedenfalls für die Entscheidung der zivilrechtlichen
Haftpflichtfrage von Belang. Zur Entlastung der Bahnangestellten war
angenommen worden, der Unfall sei durch ein Missverständnis und den
unglücklichen Umstand mitverursacht worden, dass Brandes und Trummer
bezüglich des Bahnbetriebes Neulinge waren. Infolge der engen Verkettung
des Verhaltens der beiden letzteren mit demjenigen des Bahnpersonals muss
der genannte Entlastungsgrund auch für den Kläger gelten.

    b) So betrachtet aber kann von einem die Kausalhaftung der Beklagten
ausschliessenden Selbstverschulden des Klägers keine Rede sein, und es
ist nicht wohl zu verstehen, wieso die Vorinstanz zur gegenteiligen
Annahme gelangen konnte, nachdem sie selber festgestellt hatte, dass
das Missverständnis Trummers den Kläger zur Meinung verführt habe, man
könne mit dem Abladen sofort beginnen. Das Gespräch zwischen Trummer und
Frischknecht hatte Brandes nicht mitangehört. Selbst wenn also Trummer,
wie das Kantonsgericht annimmt, die Weisung Frischknechts bei gebotener
Aufmerksamkeit dahin hätte verstehen müssen, der Güterwagen müsse zuerst
noch zur Waage geführt werden, so konnte der Kläger das nicht wissen. Als
dann Trummer während des Wägens seines Fahrzeuges mit dem Lösen der Seile
am Güterwagen begann und schliesslich den Lastwagen an den Güterwagen
heranfuhr mit der Bemerkung, er wolle nur noch das Seil am Lastwagen
anbinden, musste der Kläger dies als Weisung auffassen, jetzt mit dem
Abladen zu beginnen. Ihm zuzumuten, er hätte es besser wissen sollen als
sein Vorgesetzter, diesen auf die möglicherweise immer noch eingeschaltete
Hochspannung aufmerksam machen und sich vorerst weigern sollen, den Wagen
zu besteigen, ginge an der Wirklichkeit vorbei und widerspräche einer
natürlichen Betrachtung der Dinge.

    c) Übrigens käme eine Befreiung der Beklagten von ihrer Haftpflicht
selbst dann nicht in Frage, wenn anzunehmen wäre, der Kläger habe sich
doch schuldhaft unvorsichtig verhalten und dadurch in rechtserheblicher
Weise den Unfall mitverursacht. Das Selbstverschulden wäre diesfalls im
Rahmen des Ganzen von so untergeordneter Bedeutung, dass nicht gesagt
werden könnte, es lasse die von der SBB zu vertretende Betriebsgefahr
als inadäquate Unfallursache erscheinen (s. auch BGE 88 IV 106).

    d) Aus dem selben Grunde liesse sich auch eine Ermässigung der
Ersatzpflicht der Beklagten nicht rechtfertigen. Zwar kann der Richter
unter Würdigung aller Verhältnisse die Entschädigung ermässigen, wenn
den Verletzten ein Teil der Schuld trifft (Art. 5 EHG). Vorliegend
haben jedoch'wie ausgeführt, Umstände in ununterbrochener Kausalkette
am Entstehen der Unfallsituation mitgewirkt, die der Kläger nicht
zu vertreten hat, so der Irrtum, dass der Güterwagen bei Eintreffen
Trummers und Brandes abladebereit sein würde, das Missverständnis
zwischen Frischknecht und Trummer über das noch zu wägende Fahrzeug,
die Jugendlichkeit und Unerfahrenheit des Klägers und seine Stellung
als Untergebener Trummers. Wenn daher Brandes durch sein in vermeintlich
richtiger Erfüllung seiner Arbeitsaufgabe an den Tag gelegtes Verhalten
den Unfall auslöste, so war das in so überwiegendem Masse die nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge zu erwartende Folge jener Kausalfaktoren,
dass auch ein mitkausales Selbstverschulden des Klägers daneben im Rahmen
von Art. 5 EHG jedenfalls ausser Betracht fallen müsste.

Erwägung 3

    3.- Ein Drittverschulden kann die Eisenbahnunternehmung von ihrer
Haftpflicht nur entlasten, wenn es unter dem Gesichtspunkt der adäquaten
Kausalität die einzige Ursache des Unfalles bildet (BGE 87 II 306 und dort
angeführte Entscheidungen). Diese Voraussetzung ist hier nicht erfüllt. Wie
aus dem bereits zuvor Ausgeführten erhellt, haben die Missverständnisse
über das Bereitstehen und das Wägen des Güterwagens zum Schadenereignis
ebenfalls in rechtserheblicher Weise beigetragen, und in gleichem Sinne
hat sich auch ausgewirkt, dass einerseits der Rangierarbeiter Frischknecht
unmittelbar nach dem Gespräch mit Trummer Dienstpause hatte und sich nach
Hause begab, ohne sich weiter um den Ablauf der Dinge zu kümmern, und dass
anderseits Trummer und Brandes mit den Vorgängen auf Güterbahnhöfen nicht
vertraut waren und insbesondere zum ersten Male auf dem Bahnhof St. Fiden
zu tun hatten.

    Die Beklagten haben demnach dem Kläger den erlittenen Schaden in vollem
Umfang zu ersetzen. Die vorinstanzliche Bemessung dieses Schadens auf Fr.
50'596.50 ist nicht angefochten.

Erwägung 4

    4.- Der Kläger fordert über diesen Schadenersatz hinaus die Summe
von Fr. 5000.-- als Genugtuung. Eine solche kann gemäss Art. 8 EHG
zugesprochen werden, wenn die Eisenbahnunternehmung oder Personen, für
die sie gemäss Art. 1 Abs. 2 EHG verantwortlich ist, ein Verschulden
trifft. Ein solches lässt sich hier entgegen der Auffassung der Vorinstanz
nicht gänzlich ausschliessen.

    a) Es ist unbestritten, dass der Chef der Güterexpedition
dem Werkmeister Romano telephonisch erklärte, der Güterwagen mit
der Strohladung werde bis zum Eintreffen der Arbeiter gewogen und
abladebereit sein, und dass Romano diese Mitteilung an den Chauffeur
Trummer weitergegeben hat. Aus diesem Grunde war Trummer denn auch der
Ansicht, es verhalte sich tatsächlich so, und daraus erklärt sich weiter,
warum er in der Folge die Anweisung Frischknechts, er solle warten,
es müsse noch gewogen werden, missverstand. Die so lautende Aussage
Trummers wird übrigens von den Beklagten selber angerufen, allerdings nur,
um daraus ein Verschulden Romanos (mangelhafte Instruktion der beiden
Arbeiter) abzuleiten. Es war aber zweifellos ein Fehler des Chefs der
Güterexpedition, das sofortige Wägen und Bereitstellen des Güterwagens
zuzusichern, sodann aber nicht dafür zu sorgen, dass diese Handlungen
ohne jeden Verzug vorgenommen wurden. Jedenfalls aber hätte er, wenn
ein sofortiges Wägen nicht möglich war, Trummer und Brandes bei ihrem
Eintreffen im Bahnhof unmissverständlich darüber aufklären müssen, dass
der Güterwagen noch nicht abladebereit sei.

    b) Weiter entsprach auch das Verhalten des Rangierarbeiters
Frischknecht nicht der nach den Umständen gebotenen Sorgfaltspflicht, indem
er in einer Ausdrucksweise, die von Trummer missverstanden wurde, bloss
vom noch erforderlichen Wägen sprach, es aber unterliess, gleichzeitig
auf die noch eingeschaltene Fahrleitung über dem Güterwagen hinzuweisen.

    c) Vorschriftswidrig war es sodann, dass keiner der diensttuenden
Bahnangestellten Trummer anwies, zuerst den Frachtbrief im Stationsbüro
zu holen, dass man ihn vielmehr im Glauben liess, dies sei nicht nötig,
nachdem die Wagennummer telephonisch mitgeteilt worden war. Auf dem
Frachtbrief wäre, bei pflichtgemässem Verhalten des zuständigen Beamten
der gelbe Warnzettel aufgeklebt gewesen, der Trummer nachdrücklich auf die
Gefahr der Fahrleitung hingewiesen hätte. In der genannten Unterlassung
liegt ein Verstoss gegen Ziff. 3 Abs. 5 des Reglements 352.2 über Annahme,
Verlad, Beförderung, Auslad und Auslieferung von Tieren und Gütern,
wonach das Bahnpersonal verpflichtet ist, die Bahnkunden auf die Gefahr
des elektrischen Stromes sowie auf die entsprechenden Verhaltungsregeln
aufmerksam zu machen. Demgegenüber kann nicht eingewendet werden, die
genannte Vorschrift habe lediglich bahninternen Charakter und es könnten
sich deshalb Dritte nicht darauf berufen. Diese Auffassung wurde zwar
in zwei nicht veröffentlichten Urteilen des Bundesgerichtes (i.S. Wüest
c. SBB vom 13. Dezember 1934 und i.S. Imhof c. SBB vom 13. Mai 1937)
vertreten. Doch kann daran in dieser allgemeinen Form nach erneuter
Prüfung nicht festgehalten werden. Aus dem Inhalt der Vorschriften
des Reglements 352.2 erhellt zweifelsfrei, dass diese nicht allein um
der internen Ordnung willen, sondern in erster Linie im Interesse der
Allgemeinheit, insbesondere zum Schutz der Bahnkunden vor den Gefahren
des elektrischen Stromes erlassen wurden (s. auch BGE 88 IV 103). Wo sich
daher ihre Missachtung über den bahninternen Bereich hinaus zum Nachteil
Dritter auswirkt, kann diesen nicht verwehrt sein, sich zur Begründung
ihrer Ansprüche zumindest mittelbar auf jene Vorschriften zu berufen. Macht
die Eisenbahnunternehmung ihren Bediensteten ein bestimmtes Verhalten zur
Pflicht, weil dies nach ihrer eigenen Auffassung zum Schutze der Bahnkunden
geboten ist, so muss sie sich auch eine pflichtwidrige Unterlassung einer
solchen Vorkehr durch ihr Personal entgegenhalten lassen, wenn der Verstoss
gegen die Dienstvorschrift sich in einer Schädigung Dritter ausgewirkt hat.

    d) Schliesslich ist es entgegen der Auffassung des Kantonsgerichtes
auch nicht völlig belanglos, dass der Humosan AG das "Merkblatt für
Bahnkunden" über die Verhütung von Starkstromunfällen nicht zugestellt
wurde. Gemäss Ziff. 3 Abs. 7 des Reglements 352.2 hat dies allen Absendern
und Empfängern von Wagenladungen sowie den sonstigen wichtigeren Bahnkunden
gegenüber jährlich einmal zu geschehen. Dass es sich bei der genannten
Firma um einen Grosskunden einer andern Station, nämlich derjenigen von
Wittenbach, handelt, mag zutreffen, hilft jedoch nicht über die Tatsache
hinweg, dass nach der unbestrittenen Aussage des Werkmeisters Romano
seine Arbeitgeberin während seiner vieljährigen Tätigkeit bei ihr noch nie
von irgendeiner Seite das rote Merkblatt erhalten hat. Das ist nun nicht
deshalb unerheblich, weil Romano, wie er erklärte, dessen Inhalt ohnehin
kannte. Der Sinn der genannten Dienstanweisung ist offensichtlich der,
die Bahnkunden seien alljährlich aufs neue an die mit dem Ein- und Ausladen
von Güterwagen verbundenen Gefahren zu erinnern, und tatsächlich ist denn
auch im vorliegenden Fall die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen,
dass die vorschriftsgemässe Durchführung dieser Warnmassnahme Romano und
Trummer zu erhöhter Aufmerksamkeit veranlasst hätte.

Erwägung 5

    5.- Ist demnach ein bahnseitiges Verschulden grundsätzlich zu
bejahen, so kann doch keinesfalls von grober Fahrlässigkeit oder
Arglist die Rede sein (Art. 8 EHG). Vielmehr liegen die vorgenannten
Versehen und Unterlassungen sehr nahe an der Grenze bloss objektiv
unrichtigen Verhaltens. Es rechtfertigt sich daher nicht, die Beklagten
wegen jenes unbedeutenden Verschuldens ihres Personals ausser für den
materiellen Schaden auch für die immaterielle Unbill des Klägers haften
zu lassen. Insoweit ist daher die Berufung des Klägers unbegründet.

Entscheid:

                 Demnach erkennt das Bundesgericht:

    1.- Die Berufung des Klägers wird teilweise gutgeheissen und das Urteil
des Kantonsgerichtes St. Gallen vom 26. Oktober 1962 dahin abgeändert,
dass die Beklagten dem Kläger den Betrag von Fr. 50'596.50 nebst 5%
Zins seit 29. August 1956 zu bezahlen haben.

    2.- Die Berufung der Beklagten wird abgewiesen.