Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 II 363



89 II 363

48. Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. Dezember 1963 i.S. Nellen und
Klein gegen Kirchenfabrik Fiesch. Regeste

    Oeffentliche letztwillige Verfügung. Art. 501 und 502 ZGB.

    1.  Die Bestätigung, dass der Erblasser sich die Urkunde durch den
Notar habe vorlesen lassen, dürfen die Zeugen nur abgeben, wenn sie das
Vorlesen unmittelbar sinnenmässig wahrgenommen haben (Erw. 1).

    2.  Die Rekognitionserklärung des Erblassers muss nicht ausschliesslich
an die Zeugen gerichtet, ihnen gegenüber abgegeben worden sein. Es genügt,
wenn sie vor den Zeugen erfolgt (Erw. 2)

Sachverhalt

    A.- Am 30. August 1960 errichtete die Witwe Emma Zündel-Nellen
eine öffentliche letztwillige Verfügung, in welcher sie unter
anderem der Kirchenfabrik Fiesch Fr. 31'000. - bezw. ein Wohnhaus und
Fahrnisgegenstände vermachte. Das Testament wurde im Kreisspital Brig
durch Notar Anton Imsand verurkundet unter Mitwirkung der Zeugen Oswald
und Ludwig Salzmann. Dabei wurden in die Urkunde anschliessend an die
letztwilligen Verfügungen der Testatorin folgende Feststellungen des
Notars aufgenommen:

    "Vorstehende Urkunde, abgefasst im Kreisspital Brig, wohin ich eigens
gerufen wurde, wird der mir persönlich bekannten Testatorin durch mich
Notar vorgelesen. Darauf erklärt mir diese, dass die Urkunde der Ausdruck
ihres letzten Willens sei und sie unterzeichnet dieselbe unmittelbar nach
dieser Erklärung zugleich mit mir Notar.

    Alles geschieht in Gegenwart der hierzu gebetenen und tauglichen
Zeugen, der Herren Salzmann Oswald und Salzmann Ludwig, beide wohnhaft in
Naters, z.Z. im Spital in Brig, welche mit ihrer Unterschrift bestätigen,
dass ich Notar der Erblasserin die Urkunde persönlich vorgelesen habe,
dass die Erblasserin hierauf in ihrer und des Notars Gegenwart erklärte,
die Urkunde enthalte ihre letztwillige Verfügung und dass hierauf die
Erblasserin die Urkunde eigenhändig unterzeichnete.

    Im weitern bestätigen die Zeugen, dass sich die Erblasserin nach
ihrer Wahrnehmung im Zustand der Verfügungsfähigkeit befunden hat."

    Kurze Zeit nach Errichtung der letztwilligen Verfügung starb Frau
Zündel-Nellen, worauf am 27. September 1960 die Eröffnung ihres Testamentes
stattfand.

    B.- Mit Eingabe vom 27. September 1961 reichten die
gesetzlichen Erben der Verstorbenen, Oskar Nellen und Robert Klein,
beim Instruktionsrichter für den Bezirk Goms gegen die Kirchenfabrik
Fiesch eine Ungültigkeitsbezw. Herabsetzungsklage ein. Im Verlaufe der
Instruktion des Rechtsstreites einigten sich die Parteien dahin, dass
das Legat an die Beklagte für den Fall der Gültigkeit des Testamentes
auf Fr. 8457.90 festgesetzt und weiter bloss die Ungültigkeitsklage
aufrechterhalten wurde. Diese begründeten die Kläger in erster Linie
mit dem Hinweis auf die angebliche Urteilsunfähigkeit der Erblasserin bei
Errichtung des Testaments (Art. 519 Ziff. 1 ZGB). Im übrigen behaupteten
sie, die letztwillige Verfügung leide an Formmängeln (Art. 520 Abs. 1
ZGB), weil aus der Zeugenbescheinigung nicht hervorgehe, dass der Notar
die Urkunde in Gegenwart der Zeugen vorgelesen und die Erblasserin die
Rekognitionserklärung "gegenüber den Zeugen" abgegeben habe.

    C.- Am 5. Juli 1963 wies das Kantonsgericht des Kantons Wallis
die Klage ab, weil einerseits die behauptete Verfügungsunfähigkeit
der Erblasserin nicht erwiesen sei, und anderseits das Testament den
Formvorschriften der Art. 501 und 502 ZGB genüge.

    D.- Die Kläger beantragen mit der vorliegenden Berufung, das
angefochtene Testament ungültig zu erklären. Zur Begründung ihres Begehrens
berufen sie sich lediglich noch auf die behaupteten Formmängel, ohne die
Frage der angeblich fehlenden Verfügungsfähigkeit der Testatorin erneut
zur Entscheidung zu stellen.

    Die Berufungsbeklagte ihrerseits trägt auf Abweisung der Berufung an.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das Gesetz sieht zwei Formen der öffentlichen letztwilligen
Verfügung vor, nämlich die in Art. 501 ZGB geregelte, wo der Erblasser
die Urkunde selber liest und unterschreibt, und diejenige des Art. 502
ZGB, wo er weder das eine noch das andere tut, vielmehr sich die Urkunde
vom Notar in Gegenwart der Zeugen vorlesen lässt und daraufhin erklärt,
dass sie seine Verfügung enthalte. Im vorliegenden Fall handelt es sich um
eine Verbindung der beiden Formen: Die Erblasserin las die Urkunde nicht
selber; sie wurde ihr vom Notar vorgelesen, worauf sie diese eigenhändig
unterzeichnete. Das ist nach Rechtsprechung und Lehre zulässig (BGE
46 II 13, 50 II 116; TUOR, Kommentar, N. 8 und ESCHER, Kommentar, N. 6
ff. zu Art. 502 ZGB). Freilich ist dabei die Urkunde in Gegenwart zweier
Zeugen vorzulesen. Dass dies hier geschehen ist, bestreiten die Kläger
nicht ernsthaft. Sie behaupten jedoch, diese Tatsache ergebe sich nicht
aus der Zeugenbescheinigung, weswegen die letztwillige Verfügung gegen
Art. 502 ZGB verstosse und damit ungültig sei.

    Die Rüge erweist sich als unbegründet, ohne dass die vom Kantonsgericht
aufgeworfene und in BGE 66 II 90/91 verneinte Frage, ob das Testament
in Abwesenheit der Zeugen vorgelesen werden dürfe, wenn der Erblasser
selber unterschreibt, mit Rücksicht auf die im Schrifttum vertretene
abweichende Auffassung (TUOR, aaO N. 8 b und ESCHER aaO N. 7) überprüft
werden muss; denn im vorliegenden Fall haben die Zeugen nicht bescheinigt,
die Erblasserin habe ihnen erklärt, die Urkunde sei ihr durch den Notar
vorgelesen worden, sondern sie haben durch ihre Unterschrift bestätigt,
dass der Notar der Erblasserin die Urkunde persönlich vorgelesen habe. Eine
solche Bescheinigung konnten und durften aber die Zeugen nur ausstellen,
wenn sie dem Vorlesen persönlich beigewohnt, es also unmittelbar
sinnenmässig wahrgenommen hatten. Ansonst wäre ihr Zeugnis falsch; bei
in ihrer Abwesenheit erfolgtem Vorlesen hätten sie allenfalls nur die
Erklärung der Erblasserin über die Tatsache der stattgehabten Vorlesung
bezeugen dürfen. Indessen haben die Kläger selber nicht behauptet, dass
die vorliegende Bescheinigung der Zeugen unwahr sei, das Vorlesen durch
den Notar nicht in deren Gegenwart stattgefunden habe. Dementsprechend
wurde denn auch hierüber nicht Beweis geführt. Da aber gemäss Art. 9
Abs. 1 ZGB öffentliche Urkunden bis zum Nachweis des Gegenteils für die
durch sie bezeugten Tatsachen vollen Beweis erbringen, hat auf Grund der
vorliegenden Bescheinigung als erstellt zu gelten, dass die Urkunde der
Erblasserin in Gegenwart der Zeugen vorgelesen wurde.

    Dass diese Tatsache nicht mit den der textlichen Fassung des Art. 502
Abs. 2 ZGB ("dass die Urkunde in ihrer Gegenwart dem Erblasser vorgelesen
wurde") entsprechenden Worten bescheinigt ist, berührt die Gültigkeit
der letztwilligen Verfügung nicht. Wohl wird sich eine vorsichtige
Urkundsperson bei der Abfassung der Zeugenbescheinigung an den Wortlaut
des Gesetzes halten. Das schliesst aber nicht aus, dass die Zeugen
ihre Anwesenheit beim Vorlesen der Urkunde auf andere Weise bescheinigen
können. Dass sie es hier jedenfalls unmissverständlich getan haben, erhellt
zweifelsfrei aus der Schlussformel des Testamentes, die, wie die Vorinstanz
zutreffend feststellt, als Ganzes zu würdigen ist. Sie beginnt mit dem
Satze "Alles geschieht in Gegenwart der hierzu gebetenen und tauglichen
Zeugen...," und fährt fort "welche mit ihrer Unterschrift bestätigen,
dass..." (es folgen die Tatsachen der Vorlesung durch den Notar sowie
der Rekognition und Unterzeichnung durch die Erblasserin). Diese Worte
bilden Teil der Zeugenbescheinigung und beurkunden allgemein, dass die
Zeugen dem Vorlesen, der Rekognition und der Unterzeichnung der Urkunde
beigewohnt haben (vgl. dazu BGE 50 II 116).

Erwägung 2

    2.- Einen weiteren Ungültigkeitsgrund erblicken die Kläger darin,
dass aus der Zeugenbescheinigung nicht hervorgeht, dass die Erblasserin
die Rekognitionserklärung den Zeugen gegenüber abgegeben habe. Sie
berufen sich dabei auf Art. 501 Abs. 1 ZGB, wonach der Erblasser "den
zwei Zeugen" ("aux témoins", "ai due testimoni") zu erklären habe, dass
er die Urkunde gelesen habe und dass sie seine letztwillige Verfügung
enthalte; der französische Text von Art. 502 Abs. 2 ZGB, der für die
Auslegung massgebend sei, verlange ebenfalls ausdrücklich, dass die
Rekognitionserklärung gegenüber den Zeugen abgegeben werde ("... que le
testateur leur a fait la déclaration...").

    Diese Auffassung verkennt, dass die Vorschriften, welche sich
auf die Form letztwilliger Verfügungen beziehen, in erster Linie nach
ihrem Zweck auszulegen sind (SPIRO, Zur Form des Erbvertrages und des
öffentlichen Testamentes, in Festgabe zum schweiz. Juristentag 1963,
S. 217 ff.; s. ferner BGE 53 II 442). Der Sinn der vom Gesetze bei der
Errichtung eines öffentlichen Testamentes verlangten Formen ist, Klarheit
darüber zu schaffen, dass der Erblasser sich von der Übereinstimmung des
in der Urkunde Niedergeschriebenen mit dem von ihm kundgegebenen Willen
vergewissert und darüber eine ausdrückliche Erklärung abgegeben hat. Dieser
Zweck wird vollends erreicht, wenn der Erblasser die Erklärung vor den
Zeugen und der Urkundsperson abgibt. Weshalb er sich dabei unmittelbar
an die Zeugen und ausschliesslich an diese sollte wenden müssen, ist
nicht einzusehen. Tatsächlich lautet denn auch Art. 501 Abs. 2 ZGB
in allen drei Landessprac.hen dahin, der Erblasser habe "vor ihnen"
(den Zeugen), "en leur présence", "in loro presenza", die Erklärung
abzugeben, und es verweist auch Art. 502 Abs. 2 ZGB, der in der deutschen
und der italienischen Fassung bloss von der Erklärung des Erblassers
("il fatto dell'avvenuta dichiarazione del testatore") spricht, damit
auf jene Vorschrift. Hievon weicht allerdings der französische Text des
Art. 502 Abs. 2 ZG B insofern ab, als er die Wendung "que le testateur
leur a fait la déclaration" gebraucht. Das ist jedoch keineswegs,
wie die Kläger annehmen, als Ausdruck eines andern und überdies allein
massgebenden Sinngehaltes zu verstehen, dem zufolge nur die Bescheinigung
einer ausschliesslich an die Zeugen gerichteten Erklärung des Erblassers
der Form genügen würde. Denn abgesehen davon, dass hier nur jene Auslegung
nach dem Zweck auch dem favor testamenti entspricht, der dahin geht, von
zwei möglichen Lösungen diejenige zu wählen, die für die Aufrechterhaltung
des Testamentes die günstigere ist (BGE 89 II 191), lässt sich die
Abweichung des französischen Gesetzeswortlauts zwanglos damit erklären,
dass im deutschen und im italienischen Text die Wendung "Erklärung
des Erblassers" bezw. "dichiarazione del testatore" verwendet wird,
während die französische Fassung die Verbalform "a fait la déclaration"
gebraucht, der aus sprachlichen Gründen das Pronomen "leur" vorangesetzt
werden musste, um die schwerfällige Wiederholung des am Schluss des Satzes
stehenden Ausdrucks "en leur présence" zu vermeiden. Entsprechend hat das
Bundesgericht seinerseits längst die Bescheinigung einer vor den Zeugen
abgegebenen Rekognitionserklärung des Erblassers zur Erfüllung der Form
genügen lassen (BGE 50 II 116, wo unter anderem wörtlich ausgeführt wurde:
"... l'acte mentionne expressément que le testament a été lu au comparant
'article par article ... en présence des témoins qui ont vu et entendu le
testateur approuver article par article toutes les clauses qui précèdent"
expression qui peut être envisagée comme satisfaisant aux exigences de la
loi..."), und in gleichem Sinne haben sich auch die massgebenden Vertreter
des Schrifttums ausgesprochen (TUOR, aaO N. 12 zu Art. 501 und N. 10 zu
Art. 502 ZGB; ESCHER, aaO N. 9 zu Art. 501 und N. 9 zu Art. 502 ZGB).

    Demgegenüber schlägt der Hinweis der Kläger auf BGE 60 II 269 nicht
durch. Dieser Entscheid wird von ihnen wie auch von der Vorinstanz, die
davon in ihrem Urteil abzuweichen vermeint, unrichtig verstanden. Wohl
wird auf Seite 275 ausgeführt, nach Art. 501 ZGB handle es sich um
einen Bestätigungsakt, der nur durch eine ausdrückliche "an die Zeugen
gerichtete Erklärung" vollzogen werden könne. Damit wollte jedoch nicht
gesagt werden, die Erklärung müsse ausschliesslich an die Zeugen gerichtet
sein und es genüge nicht, wenn sie bloss in deren Gegenwart abgegeben
werde. Wäre dies der Sinn des erwähnten Satzes gewesen, so hätte das
Bundesgericht seine frühere Praxis (BGE 50 II 116) geändert, was nicht
stillschweigend, ohne deren Erwähnung geschehen wäre. Insbesondere aber
hätte das Gericht im genannten Falle die Berufung schlechthin gutheissen
und die Ungültigkeitsklage schützen müssen, wenn es im Sinne der heutigen
Kläger gedacht hätte (s. die damalige Zeugenbescheinigung auf S. 270,
wo die Zeugen ausdrücklich bloss bestätigten, dass die Erblasser "vor uns
... die Erklärung abgaben..."). Es hat jedoch die damalige Berufung nur
dahin gutgegeheissen, dass es das angefochtene Urteil aufhob und die Sache
an die Vorinstanz zurückwies, damit sie abkläre, ob die Zeugenbescheinigung
den Tatsachen entspreche, was bestritten war. Das Bundesgericht hat
demnach, was zweifelsfrei aus dem Gesagten erhellt, in BGE 60 II 269,
wie schon in BGE 50 II 116, anerkannt, dass die Bescheinigung der Zeugen,
der Erblasser habe die Rekognitionserklärung vor ihnen (in ihrer Gegenwart)
abgegeben, den gesetzlichen Anforderungen an die Form der letztwilligen
Verfügung genügt. In diesem Sinne war übrigens der Entscheid auch von
GUHL verstanden worden (ZBJV 1935, S. 682).

Erwägung 3

    3.- Hält demnach das angefochtene Testament in formeller Beziehung
vor dem Gesetze stand, so ist die Berufung der Kläger als unbegründet
abzuweisen und das vorinstanzliche Urteil im Ergebnis zu bestätigen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Kantonsgerichtes des
Kantons Wallis vom 5. Juli 1963 bestätigt.