Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 II 331



89 II 331

44. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 28. -November 1963
i.S. Politische Gemeinde St. Moritz gegen Minden. Regeste

    Werkhaftung, Art. 58 OR.

    Unfall auf einem im Gemeingebrauch stehenden und von der Gemeinde
unterhaltenen Gehsteig, der teils der Gemeinde, teils einem privaten
Anstösser gehört. Haftet die Gemeinde, wenn der Unfall durch mangelhaften
Unterhalt des privaten Teils verursacht wurde? (Frage offen gelassen.)

    Voraussetzungen und Umfang der privatrechtlichen Pflicht des
Gemeinwesens, Strassen und Gehsteige im Innern von Ortschaften zu
bestreuen, um die Fussgänger vor dem Ausgleiten zu schützen.

Sachverhalt

    A.- Am 27. Dezember und bis gegen den Morgen des 28.  Dezember 1959
schneite es in St. Moritz, worauf die Neuschneedecke 11 cm mass. Am Abend
des 27. Dezember war die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen. Sie
überstieg diesen in der Nacht und während des Tages des 28. Dezember
nicht mehr.

    Die Politische Gemeinde St. Moritz setzte am 28. Dezember 23 Mann
ein, um die Verkehrswege zu pfaden. den Schnee davon wegzuräumen und die
Gleitgefahr zu bekämpfen. Den am Hause Assek. Nr. 35 vorbeiführenden
Gehsteig an der abfallenden Via Maistra, der zentral gelegenen und
stark begangenen Hauptstrasse des Kurortes, liess sie mit Splitt
bestreuen. Trotzdem glitt vor dem erwähnten Hause etwa um 16.30 Uhr
des 28. Dezember der Feriengast Frau Minden; geb. 1904, aus, die
"Après-Ski-Schuhe" ohne "crampons" trug. Sie erlitt einen Bruch des
linken Schenkelhalses.

    B.- Frau Minden klagte gegen die Politische Gemeinde St.  Moritz auf
Zahlung von Fr. 15'858.75 Schadenersatz und Leistung einer Genugtuung
von Fr. 5'000. -.

    Das Bezirksgericht Maloja wies die Klage ab.

    Auf Berufung der Klägerin hiess das Kantonsgericht von Graubünden
am 11. Juli 1963 die Klage im Teilbetrage von Fr. 5'005.25 gut.

    C.- Die Beklagte hat die Berufung erklärt. Sie beantragt dem
Bundesgericht, die Klage abzuweisen.

    Das Bundesgericht bestätigt das angefochtene Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Eigentum am Gehsteig vor dem Hause Via Maistra Nr. 35 ist
in dem Sinne geteilt, dass der dem Hause entlang führende Streifen dem
Eigentümer des Hauses gehört, wogegen der Streifen längs der Fahrbahn
im Eigentum der Beklagten steht. Das Kantonsgericht stellt nicht fest,
auf welchem Teile die Klägerin stürzte. Es führt aus, wenn es darum gehe,
die Unterhaltspflicht des Gemeinwesens zu bestimmen, trete der Umstand,
dass ein Teil Privateigentum sei, hinter die Tatsache zurück, dass der
ganze Gehsteig in intensivem Gemeingebrauch stehe- Es verweist auf BGE
51 II 209 ff.

    Dieses Präjudiz betrifft einen Fall, in dem die Klage des auf einem
Gehsteig Verunfallten gegen eine private Werkeigentümerin gerichtet
war. Das Bundesgericht wies sie ab. Es führte aus, auch soweit der
Gehsteig Eigentum der Beklagten sei, komme ihm infolge der Belastung mit
der öffentlichrechtlichen Servitut des Gemeingebrauches in gewissem Sinne
der Charakter einer öffentlichen Sache zu, worauf bei der Beurteilung
der Haftung des Eigentümers aus Art. 58 OR Rücksicht zu nehmen sei. Die
Haftbarkeit des Werkeigentümers für den Schaden, den das Werk infolge von
fehlerhafter Anlage oder mangelhafter Unterhaltung verursacht, beruhe
naturgemäss auf der Voraussetzung, dass Herstellung und Unterhalt des
Werkes seinem Ermessen unterstehen. Der in Frage stehende Gehsteig sei
indes im Auftrage der Stadt Biel ausgeführt worden, und das Stadtbauamt
habe die Arbeiten beaufsichtigt und abgenommen. Die Verfügungsgewalt
der Beklagten sei auch hinsichtlich des Unterhaltes ihres Teils des
Gehsteiges insofern nicht unbeschränkt, als sie sich den Weisungen der
Strassenpolizeibehörde zu unterwerfen habe, die darüber wache, dass der
Gehsteig vom Publikum ohne Gefahr begangen werden könne. Nichts berechtige
zur Annahme, dass die Beklagte den von der Polizei oder anderen städtischen
Organen getroffenen Anordnungen nicht nachgekommen sei.

    Das Bundesgericht entschied also nur, dass der Private unter diesen
Umständen aus Art. 58 OR nicht schadenersatzpflichtig werde. Das bedeutet
nicht, dass das die polizeilichen Anordnungen treffende Gemeinwesen nach
Art. 58 OR belangt werden könne, obschon der Boden an der Unfallstelle
nicht in seinem Eigentum steht.

    OFTINGER, Haftpflichtrecht, 2. Auflage, Bd. II 1. Hälfte S. 71
Anm. 328, glaubt freilich, dem Präjudiz den allgemeinen Grundsatz
entnehmen zu können, jenes Gemeinwesen, das über den Bau und (oder)
den Unterhalt der Strasse verfüge, sei aus Art. 58 OR haftbar. Diese
Lösung erweckt ihm aber Bedenken, weil sie den sonst geltenden klaren und
einfach zu handhabenden Grundsatz durchbreche, wonach allein das Eigentum
den Haftpflichtigen bestimme. Er verweist auf ein nicht veröffentlichtes
Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. November 1930 i.S. Società di Basilea
per le Assicurazioni sulla Vita c. Stato del Cantone dei Grigioni. Es
betrifft einen Fall, in dem gegen den Kanton geklagt wurde, obschon
die Strasse zur Zeit des Unfalles (Absturz eines Postautomobils) noch
nicht in seinem Eigentum gestanden hatte. Die damalige Klägerin machte
geltend, der Kanton habe über die Strasse verfügt und müsse daher wie ein
tatsächlicher Eigentümer behandelt werden. Das Bundesgericht tat diesen
Standpunkt mit dem Satze ab: "L'assunto appare senz'altro inconcludente ai
fini dell'applicazione dell'art. 58 CO, secondo cui, per i danni causati
dall'opera, risponde il proprietario nel senso giuridico della parola
e non chi, per qual motivo non importa, ne disponga solo di fatto ad un
dato momento". OFTINGER führt denn auch auf S. 91 des zitierten Werkes
aus, wenn ein Stück des Gehsteiges im Privateigentum stehe, treffe die
privatrechtliche Streupflicht und damit die Haftung nach Art. 58 OR den
Eigentümer, auch wenn die Besorgung des Streuens kraft Polizeirechts
einem Gemeinwesen obliege.

    Es erübrigt sich, im vorliegenden Falle zu dieser Streitfrage Stellung
zu nehmen; denn die Beklagte führt in der Berufung nicht aus, dass und
inwiefern die von der Vorinstanz vertretene Auffassung gegen Bundesrecht
verstosse (Art. 55 Abs. 1 lit. c OG).

Erwägung 4

    4.- In welchem Umfange öffentliche Strassen zu unterhalten sind,
bestimmt grundsätzlich das öffentliche Recht. Ist ihm im einzelnen Falle
nachgelebt worden, so kann von einem Mangel im Unterhalt nur gesprochen
werden, wenn elementare Anforderungen unbeachtet geblieben sind; denn ein
Strassennetz kann wegen seiner Ausdehnung nicht ohne übermässige Kosten
im gleichen Masse unter Kontrolle gehalten werden wie z.B. ein einzelnes
Gebäude. Daher hat das Bundesgericht entschieden, das Gemeinwesen sei
beim Fehlen einschlägiger Vorschriften des öffentlichen Rechts nicht
verpflichtet, seine Strassen zu sanden, um den Motorfahrzeugverkehr während
des Winters zu erleichtern. Vorbehalten hat es nur besondere Ausnahmefälle,
in denen sich das Sanden als elementare Notwendigkeit aufdrängt (BGE 76
II 218 f., 78 II 152 f.).

    Entsprechendes ist für das Bestreuen von Gehsteigen und Strassen
im Innern von Ortschaften zu sagen. Inwieweit das Gemeinwesen Sand oder
anderes Material auszustreuen habe, um Fussgänger vor dem Ausgleiten zu
schützen, bestimmt das öffentliche Recht. Art. 58 OR verlangt nur dann
mehr, wenn das öffentliche Recht den elementarsten, sich aufdrängenden
Anforderungen nicht gerecht wird. Welches diese Anforderungen sind,
hängt von den örtlichen Verhältnissen und von den Umständen des einzelnen
Falles ab. Es ist namentlich darauf Rücksicht zu nehmen, wie rege der
Fussgängerverkehr an einer bestimmten Stelle ist, in welchem Masse dem
Fussgänger zugemutet werden kann, den Gefahren des Ausgleitens durch eigene
Vorkehren zu begegnen, und wie weit ihm solche Massnahmen überhaupt möglich
sind. Anderseits ist zu bedenken, dass dem Gemeinwesen nicht finanzielle
Opfer aufgebürdet werden dürfen, die es unter Berücksichtigung seiner
übrigen Aufgaben nicht oder nur schwer zu tragen vermöchte.

Erwägung 5

    5.- Weder das Kantonsgericht noch die Parteien machen eine Bestimmung
des bündnerischen öffentlichen Rechts namhaft, die den Gemeinden gebieten
würde, ihre Gehsteige mit Sand, Splitt oder anderem Material zu bestreuen,
um die Gleitgefahr zu beheben. Art. 9 Abs. 3 des Strassengesetzes
des Kantons Graubünden von 1957, den die Beklagte bei der Erörterung
des Begriffs des Sandens herbeizieht, betrifft nur den Unterhalt der
Kantonsstrassen. Mit der Berufung könnte denn auch nicht geltend gemacht
werden, die Vorinstanz habe das kantonale öffentliche Recht unrichtig
angewendet. Zu prüfen ist nur, ob sie die Anforderungen, die Art. 58 OR
an den Unterhalt des Gehsteiges am Unfallort stellte, überspannt hat.

    Die Beklagte macht nicht geltend, sie sei überhaupt nicht verpflichtet
gewesen, den Gehsteig zu bestreuen. Sie stellt sich nur auf den
Standpunkt, sie habe ihre Pflicht erfüllt. Das trifft indessen nicht
zu, wenn von der verbindlichen Feststellung ausgegangen wird, dass die
Unfallstelle "nur wenig gesandet bzw. gesplittet" war. Da bis am Morgen des
28. Dezember 1959 11 cm Neuschnee gefallen waren, es von da an nicht mehr
schneite und die Temperatur unter dem Gefrierpunkt lag, war zu erwarten,
dass der betreffende Gehsteig, der nach vorinstanzlicher Feststellung
äusserst stark begangen ist, einen hartgetretenen und glitschigen
Schneebelag aufweisen würde. Das Kantonsgericht sagt, die Strasse sei
vereist und an der Unfallstelle sehr glatt gewesen. Die Gleitgefahr war
umso grösser, als die Via Maistra im Bereich dieser Stelle abfällt. Es
lag daher auf der Hand, dass ein nur geringfügiges Splitten nicht
genügen würde, um die Fussgänger vor Stürzen zu bewahren. Es drängte sich
offensichtlich auf, dass entweder von Anfang an mehr Material ausgestreut
oder im Verlaufe des Tages ein weiteres Mal gesplittet werden musste. Das
wäre nicht unnütz gewesen; denn die Beklagte anerkennt die Richtigkeit des
Gutachtens Kober, wonach die Bildung von Glatteis auf den ausschliesslich
von Fussgängern benützten Gehsteigen im Klima von St. Moritz bei dauernder
Überwachung verhindert werden kann. Die Beklagte legt nicht dar, inwiefern
ihr ein ausgiebigeres oder ein nochmaliges Splitten wegen finanziell
ungünstiger Lage oder Mangels an Arbeitskräften nicht möglich oder nicht
zuzumuten gewesen wäre. Sie stellt die Zumutbarkeit nur in Abrede, weil
sie am 28. Dezember 1959 23 Arbeiter mit Winterarbeiten beschäftigt habe,
wovon acht mit Pfaden und Sanden und zwei nur mit Sanden. Sie sagt, 43
Arbeitsstunden seien für das Sanden aufgewendet worden. Daraus ergibt sich
nicht, dass durch einen verhältnismässig kleinen Mehraufwand oder auch
nur durch einen anderen Einsatz der aufgebotenen Arbeiter nicht genügend
Splitt oder Sand hätte ausgestreut werden können. Die Beklagte sagt ja,
dass nur auf der Hauptstrasse und auf der Badstrasse "gesandet" werde,
wozu sie auch das Splitten und das Aufrauhen der Strasse durch Kratzer
rechnet. Ihr Einwand, auf Grund des Gutachtens Kober "dürfte festgestellt
werden", dass der Einsatz der Gemeindearbeiter für die Winterarbeiten als
zweckmässig und vernünftig bezeichnet werden könne, wird durch dieses
Gutachten nicht gestützt. Kober hat sich über die Zweckmässigkeit des
festgestellten Einsatzes von Arbeitskräften nicht ausgesprochen. Übrigens
geht er in der Antwort auf die Frage 6 davon aus, dass der Gehsteig
während des ganzen Tages mit einer leicht griffigen Schicht Schnee bedeckt
gewesen sein dürfte. Das traf aber nach der verbindlichen Feststellung
der Vorinstanz über die sehr grosse Glätte der Unfallstelle nicht zu.

    Indem das Kantonsgericht den Gehsteig, auf dem die Klägerin stürzte,
als zur Zeit des Unfalles mangelhaft unterhalten würdigte, verletzte es
Art. 58 OR somit nicht.

Erwägung 6

    6.- Die Beklagte bestreitet in der Berufung nicht, dass der Sturz nur
auf die Vereisung der Unfallstelle zurückzuführen war. Sie bringt auch
gegen die von der Vorinstanz bejahte Rechtserheblichkeit des ursächlichen
Zusammenhanges zwischen dem mangelhaften Unterhalt und dem Sturz nichts
vor. Ebensowenig erhebt sie Einwendungen gegen die Berechnung des Schadens
oder gegen das Mass der Ersatzpflicht.