Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 II 232



89 II 232

32. Urteil der I. Zivilabteilung vom 25. Juni 1963 i.S. Phyteia AG gegen
Itel AG Regeste

    Werkvertrag, Haftung des Bauunternehmers. Art. 368 OR, SIA-Normalien
Art. 26-30.

    Bedeutung der Schlussabrechnung nach SIA-Normalien Art. 25 (Erw. 2).

    Einfluss der Mangelhaftigkeit des Werkes auf die Fälligkeit des
Werklohnanspruchs (Erw. 4).

    Haftung des vertraglichen Garantie-Rücklasses auch für andere Schäden,
die von Arbeitern des Bauunternehmers angerichtet worden sind (Erw. 5).

Sachverhalt

    A.- Die Phyteia A.-G. in Herisau übertrug mit Verträgen vom
21. August und 16. November 1959 der Baufirma Itel A.-G. in St. Gallen
die Ausführung der Erd-, Maurer-, Eisenbeton- und Kanalisationsarbeiten
sowie der Gipserarbeiten für die Erstellung eines Fabrikgebäudes. In den
Verträgen wurden die SIA-Normalien für die Ausführung von Bauarbeiten
(SIA-Formular 118) als massgebend erklärt. Mit einem weiteren Vertrag
vom 3. Februar 1960 wurde die Unternehmerfirma überdies mit dem Versetzen
einer Kunststeintreppe beauftragt.

    Die Kosten dieser Arbeiten beliefen sich, wie heute nicht mehr
streitig ist, auf Fr. 129 081.65. Die von der Bauherrin im Laufe der
Arbeit geleisteten Abschlagszahlungen betrugen, einschliesslich eines
Skontos und zweier Gutschriften, Fr. 113 744.35.

    Nach Abschluss der Bauarbeiten verlangte die Baufirma die
Begleichung des nach Abzug der Abschlagszahlungen noch verbleibenden
Werklohnguthabens. Die Bauherrin anerkannte, noch einen bestimmten Betrag
zu schulden, erklärte aber, diesen erst zu bezahlen, wenn die Baufirma
gewisse längst gerügte Mängel, nämlich fehlerhaft verlegte Treppenstufen
und verkratzte Fensterscheiben, behoben habe. Die Baufirma anerkannte
grundsätzlich das Bestehen der gerügten Mängel und ihre Haftung für diese,
machte aber geltend, die Zahlungsverweigerung der Bauherrin stehe im
Widerspruch zu den vertraglichen Vereinbarungen.

    B.- Mit Klage vom 17. Oktober 1961 belangte die Itel A.-G. die Phyteia
A.-G. auf Bezahlung eines Werklohnsaldos von Fr. 16'128.40 nebst Zinsen.

    Die Beklagte beantragte Abweisung der Klage. Sie machte geltend,
der Klägerin stehe zwar noch ein Saldoguthaben von Fr. 15'052.-- zu;
dieser Anspruch sei jedoch erst fällig, wenn die Klägerin der von ihr
anerkannten Pflicht zur Behebung der gerügten Mängel nachgekommen sei.

    C.- Das Obergericht von Appenzell A. Rh., 2. Abteilung, verpflichtete
mit Urteil vom 8. Januar 1963 die Beklagte zur Bezahlung von Fr. 15'337.30
nebst 5% Zins seit 22. September 1961. Es nahm an, die von der Klägerin
grundsätzlich anerkannten Mängel seien von untergeordneter Bedeutung,
da ihre Behebung nach Ansicht der sachverständigen Richter höchstens
Fr. 1000. - koste. Die Nichtbehebung solch untergeordneter Mängel durch
den Unternehmer vermöge die Fälligkeit seines Werklohnanspruches nicht
zu hindern.

    D.- Mit der Berufung hält die Beklagte an ihrem Antrag auf Abweisung
der Klage fest.

    Die Klägerin beantragt Abweisung der Berufung und Bestätigung des
angefochtenen Urteils.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Im Berufungsverfahren ist nicht mehr streitig, dass die restliche
Werklohnforderung der Klägerin Fr. 15'337.30 beträgt. Gegenstand des
Streites ist vielmehr einzig noch die Frage, welches die rechtlichen Folgen
davon sind, dass die Klägerin ihrem Versprechen, die von ihr anerkannten
Mängel zu beheben, noch nicht nachgekommen ist.

Erwägung 2

    2.- Der Umstand, dass der bauleitende Architekt Spinell die Beklagte
zur Bezahlung eines Saldoguthabens von Fr. 15'000. - angewiesen haben
soll, ist entgegen der Auffassung der Klägerin und der Vorinstanz
rechtlich bedeutungslos. Denn die Schlussabrechnung, auf Grund deren der
Architekt die erwähnte Zahlungsanweisung gegeben haben soll, betrifft
nach Art. 25 der Normalien SIA lediglich die zahlen- und mengenmässigen
Verhältnisse und ist ohne Einfluss auf die Frage der Verpflichtungen des
Unternehmers aus mangelhafter Ausführung des Werkes sowie auf die Abzüge,
die wegen festgestellter Mängel an der Abrechnungssumme vorgenommen
werden müssen. Das erhellt aus Art. 26 der Normalien wie auch aus der
gesetzlichen Regelung in Art. 368 OR, auf welche die Normalien Bezug
nehmen. Die Zahlungsanweisung des Architekten kann daher nicht als Abnahme
des Werks im Sinne von Art. 370 OR gelten, die den Unternehmer der Haftung
für allfällige Mängel und Schäden entheben würde.

Erwägung 3

    3.- Im weiteren fragt sich, ob das Vorgehen der Vorinstanz, welche
die Beklagte ohne Rücksicht auf die anerkannten Mängel und Schäden
zur Bezahlung des vollen Abrechnungssaldos verpflichtet hat, rechtlich
haltbar sei. Bei der Prüfung dieser Frage sind die Mängel der Treppe und
die Schäden an den Fensterscheiben auseinanderzuhalten.

Erwägung 4

    4.- a) Die Treppe bildet zweifellos einen Bestandteil des von der
Klägerin erstellten Werkes, da diese mit dem Versetzen der Kunststeintreppe
beauftragt war. Die festgestellte fehlerhafte Ausführung, zu deren
Verbesserung die Klägerin sich verpflichtet hat, stellt somit einen
Werkmangel dar. Dieser begründet einerseits die Haftung des Unternehmers
gemäss Art. 367 ff. OR und bewirkt anderseits gemäss Art. 372 OR die
Hinausschiebung der Fälligkeit seines Werklohnanspruches. Denn diese tritt
nur ein bei Ablieferung des mängelfreien Werkes (OSER/SCHÖNENBERGER,
N. 2, BECKER, N. 3 zu Art. 372 OR). Die Zurückhaltung des Werklohnes
stellt somit ein zulässiges und zweckgemässes Mittel zur Durchsetzung
des Verbesserungsanspruches des Bestellers dar.

    Das anerkennt an sich auch die Vorinstanz, aber sie erachtet diese
Lösung für den vorliegenden Fall als unbefriedigend, weil es sich um
Mängel handle, die sich lediglich auf untergeordnete Punkte beziehen und
die Gebrauchsfähigkeit des Werkes nicht ernstlich beeinträchtigen. Das
Gesetz macht jedoch keine solche Unterscheidung je nach der Bedeutung des
Mangels. Nach der in Art. 372 OR vorgesehenen Ordnung stehen die Zahlung
des Werklohnes und die Ablieferung des mängelfreien Werkes miteinander im
Austauschverhältnis gemäss Art. 82 OR. Ist das Werk nicht mängelfrei, so
kann der Besteller mangels anderweitiger vertraglicher Abrede die Zahlung
des Werklohnes gestützt auf die Einrede des nicht erfüllten Vertrages
verweigern. Aus der gesetzlichen Ordnung liesse sich daher auf jeden Fall
keine Grundlage für die von der Vorinstanz ausgesprochene Verpflichtung
der Beklagten zur Bezahlung des noch ausstehenden Werklohnsaldos vor
Behebung der bestehenden Mängel gewinnen.

    b) Die Parteien haben es jedoch nicht bei der gesetzlichen Regelung
bewenden lassen, sondern sie haben ihr Vertragsverhältnis den SIA-Normalien
unterstellt. Diese weichen in verschiedener Hinsicht von der gesetzlichen
Ordnung ab.

    So sieht Art. 24 Abschlagszahlungen vor, die bei Hochbauarbeiten,
wie sie hier in Frage stehen, bis auf 90% des Wertes der Leistungen des
Unternehmers gehen können, während der Rest als Garantierücklass stehen
bleibt. Die Abschlagszahlungen sind nach Massgabe des Fortschreitens der
Arbeit, also vor Ablieferung des Werkes, zu leisten. Im Umfange dieser
Abschlagszahlungen wird also die Fälligkeit des Werklohnanspruches in
Abweichung von Art. 372 OR vorverlegt.

    Das über die Abschlagszahlungen hinaus verbleibende Restguthaben
wird gemäss Art. 25 Abs. 4 einen Monat nach beidseitiger Anerkennung der
Schlussabrechnung fällig. Darin liegt eine Abweichung von Art. 372 OR nach
der andern Richtung, indem die Fälligkeit auf einen späteren Zeitpunkt
als denjenigen der Ablieferung festgesetzt wird.

    Diese Zahlungsregelung setzt aber eine ordnungsgemässe
Vertragsabwicklung voraus. Wie sich eine allfällige Mangelhaftigkeit
des Werkes auswirkte, wird - unter Hinweis auf die gesetzliche Ordnung
(Art. 368 OR) - in den Art. 26-30 der Normalien bestimmt. Nach Art. 27
Abs. 3 ist der Unternehmer verpflichtet, allfällige Mängel innert
angemessener Frist zu beheben. Kommt er dieser Pflicht nicht nach, so
hat gemäss Art. 27 Abs. 4 der Bauherr die Wahl, einen dem Minderwert
des Werkes entsprechenden Abzug am Werklohn zu machen oder auf seinem
Verbesserungsanspruch zu beharren; bei Verschulden des Unternehmers bleiben
ihm überdies weitergehende Schadenersatzansprüche vorbehalten. Für diese
Ansprüche besitzt der Bauherr, und zwar gleichgültig für welches Vorgehen
er sich entschliesst, eine Deckung. Denn nach Art. 30 Abs. 2 haftet der
Unternehmer für die Erfüllung seiner Verpflichtungen in erster Linie mit
den gemäss Art. 24 abgezogenen Garantierücklässen.

    Nach der in den Normalien vorgesehenen Regelung kann also der Bauherr,
soweit er die Werklohnschuld im Zeitpunkt der Feststellung der Mängel
noch nicht getilgt hat, den zur Behebung der Mängel erforderlichen Betrag
des Garantierücklasses zurückbehalten. In diesem Umfang tritt somit die
Fälligkeit der Werklohnforderung nicht ein.

    c) Im vorliegenden Falle haben sich die Parteien dahin geeinigt,
dass die Mängel der Treppe durch den Unternehmer, d.h. die Klägerin,
zu beheben seien. Solange dies nicht geschehen ist, steht somit der
Beklagten das Recht zu, einen gewissen Betrag des Garantierücklasses
zurückzubehalten. Die Vorinstanz hat daher zu Unrecht die Fälligkeit des
ganzen Werklohnsaldos von Fr. 15'337.30 angenommen. Anderseits geht aber
auch die Beklagte fehl mit der Annahme, sie könne der Klägerin den vollen
Restbetrag vorenthalten. Nach der zum Vertragsinhalt erhobenen Ordnung der
Normalien ist ihr Rückbehaltungsrecht auf denjenigen Betrag beschränkt,
der zur Behebung des Mangels, sowie zur Deckung eines ihr allenfalls noch
zustehenden weiteren Schadenersatzanspruches notwendig ist.

Erwägung 5

    5.- In Bezug auf die verkratzten Fensterscheiben ist die rechtliche
Ausgangslage anders. Die Fensterscheiben waren nicht von der Klägerin
zu liefern. Sie bildeten nicht Bestandteil des von ihr zu erstellenden
Werkes. Wie sich aus den Akten ergibt, wurden jedoch die Scheiben
zum Teil durch Arbeiter der Klägerin beschädigt. Diese hatten es
nämlich unterlassen, vor Beginn der äusseren Verputzarbeiten die
Fenster abzudecken, so dass Kalkspritzer auf diese fielen, bei deren
Beseitigung durch die Arbeiter der Klägerin die Scheiben verkratzt
wurden. In rechtlicher Beziehung hat man es daher hier nicht mit einem
Werkmangel zu tun, sondern mit einer schadenstiftenden Handlung der
Arbeiter der Klägerin, die gemäss Art. 364, 328, 97 und 101 OR einen
Schadenersatzanspruch der Beklagten zur Entstehung brachte. Dieser
Schadenersatzanspruch stellt eine der Werklohnforderung der Klägerin
gegenüberstehende Gegenforderung dar, die grundsätzlich gemäss Art. 120
OR mit jener verrechnet werden kann.

    Im vorliegenden Fall haben die Parteien nun aber nicht eine
Schadenersatzleistung in Geld vereinbart, sondern die Klägerin hat
sich verpflichtet, auch diesen "Mangel" zu beheben. Darin liegt eine
Nebenverpflichtung zum Werkvertrag, welche die Klägerin bis anhin
noch nicht erfüllt hat. Zur Sicherstellung dieses Anspruchs können
die Garantierücklässe gemäss Art. 30 Abs. 2 der Normalien ebenfalls
herangezogen werden. Denn die genannte Vorschrift bestimmt in allgemeiner
Weise, dass der Unternehmer mit den Garantierücklässen "für die Erfüllung
der eingegangenen Verpflichtungen" hafte. Es ist daher nicht einzusehen,
weshalb das Versprechen, einen anlässlich der Erstellung des Werkes
verursachten Schaden wieder gutzumachen, nicht ebenfalls als eine
"Verpflichtung" im Sinne dieser Bestimmung anzusehen wäre.

Erwägung 6

    6.- Es bleibt zu prüfen übrig, welchen Betrag im vorliegenden Fall die
Beklagte zur Sicherstellung ihres Anspruches auf Behebung der bestehenden
Mängel und Schäden zurückbehalten darf. Die Höhe dieses Betrages bestimmt
sich, wie bereits ausgeführt wurde, nach den mutmasslichen Kosten der
für die Instandstellung erforderlichen Arbeiten. Diese Kosten belaufen
sich, wie die Vorinstanz gestützt auf die Ansicht der sachverständigen
Gerichtsmitglieder angenommen hat, auf höchstens Fr. 1000. -. Diese
Schätzung ist als Ergebnis der vorinstanzlichen Beweiswürdigung für das
Bundesgericht verbindlich. Wieso der Vorinstanz bei dieser Feststellung
gemäss der Behauptung der Beklagten ein offensichtliches Versehen
unterlaufen sein soll, ist nicht ersichtlich. Dass neben diesen Kosten
ein weiterer Schaden zu ersetzen wäre, behauptet die Beklagte nicht.

    Die Beklagte kann daher, solange die Klägerin ihre Verpflichtung zur
Instandstellung des Werkes nicht erfüllt hat, einen Betrag von Fr. 1000.--
zurückbehalten. Demgemäss ist das angefochtene Urteil dahin abzuändern,
dass der von der Beklagten zu bezahlende Betrag auf Fr. 14'337.30
herabgesetzt und für die restlichen Fr. 1000. - die Klage mangels
Fälligkeit des Anspruches zur Zeit abgewiesen wird.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Berufung wird das Urteil des Obergerichts
von Appenzell A.Rh., 2. Abteilung, vom 8. Januar 1963 in Ziff. 1 dahin
abgeändert, dass die Klage im Betrage von Fr. 14'337.30 nebst 5% Zins
seit 22. September 1961 geschützt und für den Mehrbetrag von Fr. 1000. -
zur Zeit abgewiesen wird. Im übrigen wird die Berufung abgewiesen und
das angefochtene Urteil bestätigt.