Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 II 177



89 II 177

25. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 16. Mai 1963
i.S. Delgrosso gegen Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich und Peyer.
Regeste

    Bestellung einer Beiratschaft nach Art 395 Abs 1 und 2 ZGB für
betagte Witwe: Deren Absicht, ihre Liegenschaft zu gutem Preis zu
verkaufen und mit dem Erlös ihre Lebensverhältnisse zu verbessern, ist
nicht unvernünftig, wenn weder Unfähigkeit zur Vermögensverwaltung noch
Neigung zu Verschwendung nachgewiesen ist. Das blosse Interesse der Erben
an der Erhaltung und Äufnung des Nachlassgutes vermag Einschränkung der
Handlungsfähigkeit nicht zu rechtfertigen.

Sachverhalt

    A.- Frau Wwe. Delgrosso, geb. 1891, wohnte im Dachstock ihres Hauses
in Zürich, ihr Sohn als Mieter in einer Parterrewohnung. Ihr Einkommen
besteht aus dem Reinertrag der Vermietung (Fr. 250.--), einer Rente aus
dem Nachlass ihres früheren Ehemannes (Fr. 200.--) und der AHV-Rente (Fr.
95. - im Monat). Wegen häufiger Streitigkeiten mit dem Sohn und dessen Frau
entschloss sich Frau D., anderswo eine kleine Wohnung zu beziehen, dann
die eigene Liegenschaft zu verkaufen und in ihrem Heimatkanton Tessin eine
neue Wohnung zu erwerben. Sie setzte sich mit einer Immobilien A.-G. in
Verbindung, die ihr sofort eine Zweizimmerwohnung verschaffte, wogegen
Frau D. der Immobilien A.-G. ein Vorkaufsrecht auf die Liegenschaft zum
Preise von Fr. 430'000. - einräumte, der nach Abzug der Belastungen und
Abgaben einen Reinerlös von ca. Fr. 285'000.-- ergäbe.

    B.- Der Sohn möchte den Verkauf der Liegenschaft verhindern. Er
ersuchte die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich, für die Verbeiratung
der Mutter zu sorgen und den Vorkaufsvertrag anfechten zu lassen, zu
dem sich Frau D. voreilig und unüberlegt habe bewegen lassen. Aus einem
Verkauf des Hauses könne, wenn man noch einige Zeit zuwarte, ein erheblich
grösserer Gewinn erzielt werden. Auch bestünde die Gefahr, dass Frau D.,
wenn sie in den Besitz eines grösseren Barvermögens gelangte, zu richtiger
Verwaltung desselben unfähig wäre, in kurzer Zeit viel Geld ausgäbe und
in eine Notlage geriete.

    Die Vormundschaftsbehörde hörte die Interdizendin an und liess sie
durch Dr. med. O. E. Pfister, Bezirksarztadjunkt, begutachten. Gestützt
auf dessen Bericht kam die Vormundschaftsbehörde zum Schluss, dass für eine
Entmündigung oder für eine Verbeiständung nach Art. 392/93 ZGB keine Gründe
vorlägen, wohl aber die Errichtung einer Beiratschaft nach Art. 395 Abs. 1
und 2 ZGB geboten sei. Sie stellte in diesem Sinne Antrag an den Bezirksrat
Zürich, und dieser entsprach mit Beschluss vom 29. Juni 1962 dem Begehren.

    C.- Die Beklagte erhob Beschwerde an die Direktion der Justiz des
Kantons Zürich. Diese bestätigte jedoch, nachdem sie noch einen ergänzenden
Bericht von Dr. Pfister eingeholt hatte, mit Verfügung vom 9. Januar 1963
den Entscheid des Bezirksrates. Sie fand, das Handeln der Beklagten -
Auszug aus dem ihr feindlichen Familienkreis, Wohnungsmiete in Verbindung
mit der Einräumung eines Vorkaufsrechts zu einem der Vermehrung ihres
Vermögensertrags dienenden Preis - sei zwar "an sich" nicht unvernünftig
gewesen; aber ihr Charakter zeige doch eine gewisse Unzuverlässigkeit. Dem
Experten seien "kleinere Widersprüche und Inkonsequenzen" aufgefallen,
die den Verdacht erregen müssten, dass sie in entscheidenden Momenten
ihren Affekten oder ihrer Phantasie nachgeben und sich dadurch schädigen
könnte. Eine Gewähr dafür, dass sie sich weiterhin durch den von ihr
selbst beigezogenen Anwalt beraten lassen werde, bestehe nicht.

    D.- Gegen diesen Entscheid legte die Beklagte die vorliegende
Berufung ein mit dem Antrag, die Anordnung einer Mitwirkungs-
und Verwaltungsbeiratschaft sei aufzuheben; ev. sei die Sache zur
Aktenergänzung und neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

    Die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich trägt auf Abweisung
der Berufung an, ebenso der im kantonalen Verfahren neben der
Vormundschaftsbehörde als Beschwerdegegner figurierende Sohn der Beklagten
Anton Peyer.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- (Zulässigkeit der Berufung).

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 395 Abs. 1 ZGB ist eine Beiratschaft nur zu errichten,
wenn sie sich im Interesse des Interdizenden als notwendig erweist. Es
muss also bewiesen oder doch sehr wahrscheinlich sein, dass dieser bei
selbständiger Vermögensverwaltung sich selbst oder von ihm zu erhaltende
Familienangehörige in eine Notlage bringen würde. Eine allfällige
Beeinträchtigung von Anwartschaften seiner Erben bildet keinen Grund,
ihn unter Beiratschaft zu stellen. (BGE 78 II 336 f., 88 II 249 f.).

Erwägung 3

    3.- Vorliegend erblicken die Vormundschaftsbehörde und die Vorinstanzen
den Nachweis oder doch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Beklagte
sich finanziell gefährden würde, in der Art und Weise, wie sie ihr
Haus verkaufen und den Erlös verwenden will. Konkrete Tatsachen für
diese Gefährdung, d.h. für eine Neigung zu leichtfertigem Handeln in
finanziellen Fragen werden aber nicht genannt.

    a) Die Beklagte hat offenbar nicht unvorsichtig und leichtfertig,
sondern im Gegenteil recht umsichtig gehandelt, wenn sie Offerten von
Fr. 380'000. - und Franken 400'000. - für das Vorkaufsrecht abgelehnt
und, nach eigenen Berechnungen, es erst zu Fr. 430'000.-- eingeräumt
hat. Dieser Preis erscheint nach den Akten heute als angemessen, ja
als eher hoch. Die Überprüfungen von Bezirksrichter Dr. Kuster ergaben,
dass zur Zeit mit einem Erlös von mindestens Fr. 400'000. - zu rechnen
sei; soviel wie die "Mobag" für den Fall ihres Vorkaufs (Fr. 430.000.--)
habe sonst niemand geboten. Wie die Vorinstanz zu ihrer Hypothese kam, es
könnte "bei einer geschickten Verhandlungstaktik" noch mehr gelöst werden,
ist nicht ersichtlich. Offenbar müsste diese Taktik vor allem in einem
Zuwarten bestehen, bis die Konjunktur die Preise noch höher hinaufgetrieben
hat. Es kann aber der Beklagten gewiss nicht als unvernünftiges Handeln
ausgelegt werden, dass sie, bald 72-jährig, jetzt verkaufen will, um sich
mit ihrem Geld ihren Lebensabend angenehmer zu gestalten. Und dass sie mit
dem Vorkaufsvertrag die Möglichkeit einhandelte, sofort eine Mietwohnung
zu erhalten und damit den unschönen häuslichen Verhältnissen zu entgehen,
ist ebenfalls, wie die Vorinstanz selbst festhält, "nicht abwegig".

    b) Bis zu ihrem Auszug aus dem eigenen Haus hat die Beklagte, wie
die Vorinstanz feststellt, ihr Vermögen, im Wesentlichen aus diesem Haus
bestehend, selbst verwaltet. Dass sie dabei irgendwie verschwenderisch
oder sonst unvorsichtig gehandelt hätte, ist nicht festgestellt, und
warum sie nach dem Verkauf des Hauses nicht mehr zur Verwaltung des
Barvermögens fähig sein sollte, ergibt sich aus den Akten nicht. Die
von der Vorinstanz genannten "kleinen Widersprüche und Affektäusserungen"
bilden kein ernsthaftes Indiz in dieser Richtung. Die Widersprüche beziehen
sich auf die Pläne über die teilweise Verwendung des Verkaufserlöses
- Kauf einer Wohnung im Tessin, ev. vorläufiges Verbleiben in Zürich,
Schenkung von je Fr. 50'000. - an die beiden Kinder, an den Sohn aber nur,
wenn er anständig sei. Die Affektäusserungen erfolgten, als das Gespräch
mit dem psychiatrischen Gutachter auf die hässlichen Szenen mit Sohn und
Schwiegertochter kam. Daraus auf eine Unfähigkeit zur Vermögensverwaltung
zu schliessen, geht zu weit. Übrigens stellt die Vorinstanz selbst fest,
die Beklagte würde nicht in eine Notlage geraten, falls sie die Absicht,
den Kindern Fr. 100'000. - zu überlassen, ausführen sollte.

    c) Die Beklagte hat selbst einen Anwalt beigezogen und ausdrücklich
erklärt, sie werde sich von ihm auch beim Hausverkauf und bei der spätern
Vermögensverwaltung beraten und vertreten lassen. Dass sie das nicht
ernst meine, es vielmehr nur vorschütze, um damit der Verbeiratung zu
entgehen, ist nicht dargetan und ergibt sich insbesondere, nach dem bereits
Gesagten, keineswegs aus den erwähnten Widersprüchen und affektbedingten
Äusserungen. Somit fehlt es auch in dieser Hinsicht an der Notwendigkeit
einer Einschränkung der Handlungsfreiheit.

Erwägung 4

    4.- .....

Erwägung 5

    5.- Auf die Aussagen des Gutachters, die Beklagte leide hinsichtlich
weit zurückliegender Daten an Gedächtnislücken, bei Rechnungsexperimenten
ermüde sie rasch und es liege "sehr wahrscheinlich" eine beginnende
Arteriosklerose vor, hat die Vorinstanz mit Recht kein grosses Gewicht
gelegt. Diese Erscheinungen, welche die Beklagte mit vielen Leuten ihres
Alters gemeinsam hat, sind keine die Beschränkung der Handlungsfähigkeit
rechtfertigenden Anomalien. Entscheidend muss sein, dass sie, wie der
Gutachter festhält, heute "im Ganzen geistig noch recht beweglich" und
ihr Denken "normal geordnet" ist.

    Es ist somit nicht erwiesen, dass die Beklagte sich bisher durch eine
unvernünftige Vermögensverwaltung gefährdete, oder dass sie mit ihren
derzeitigen finanziellen Plänen eine Gefährdung herbeiführen werde, falls
ihr nicht ein amtlicher Beirat zur Seite steht. Die blosse Möglichkeit,
dass sie sich durch einen gesetzlichen Beirat zu einer Anfechtung des
Vorkaufsvertrages, zu einem Aufschub des Hausverkaufs und damit zu einem
besseren Verkaufsgeschäft - aber auch inzwischen zu einem bescheideneren
persönlichen Lebensaufwand zugunsten der Äufnung von Erbschaftsgut
bewegen liesse, kann nach der erwähnten Praxis, an der festzuhalten ist,
die Einschränkung ihrer Handlungsfähigkeit nicht rechtfertigen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    In Gutheissung der Berufung werden die Verfügung der Direktion der
Justiz des Kantons Zürich vom 9. Januar 1963 und der Verbeiratungsbeschluss
des Bezirksrates Zürich vom 29. Juni 1962 aufgehoben.