Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 89 II 12



89 II 12

3. Urteil der II. Zivilabteilung vom 5. Januar 1963 i.S. B. gegen S.
Regeste

    Nach Scheidung der Ehe sind die vormundschaftlichen Behörden befugt,
gegenüber dem Inhaber der elterlichen Gewalt Massnahmen nach Art. 283
ff. ZGB zu treffen. Diese Zuständigkeit bleibt bei Hängigkeit einer Klage
des andern Elternteils auf Übertragung der elterlichen Gewalt (Art. 157
ZGB) bestehen. Der mit dieser Klage befasste Richter kann sich seinerseits
veranlasst sehen, Massnahmen im Sinne der Art. 283 ff. ZGB zu treffen,
unter besondern Umständen auch vorsorglich auf Grund von Art. 145 ZGB.

Sachverhalt

    A.- Die Kinder der Parteien, geboren 1953 und 1954, wurden bei
Scheidung der Ehe der Mutter zugewiesen. Diese liess sich mit ihnen in Wil
(St. Gallen) nieder, während der Vater in Münchwilen (Thurgau) wohnt. Die
Kinder kehrten nach den beim Vater verbrachten Sommerferien 1962 zur Mutter
zurück, doch begab sich der Knabe nachher ohne deren Erlaubnis mehrmals
wieder zum Vater und hält sich nun seit dem 20. August 1962 dort auf.

    B.- Der Vater erhob beim Bezirksgericht Wil Klage auf Zuweisung der
beiden Kinder an ihn. Ferner verlangte er bei der Vormundschaftsbehörde
Wil die Wegnahme des Knaben bei der Mutter; der Knabe sei vorläufig
ihm zur Pflege und Erziehung anzuvertrauen. Die Vormundschaftsbehörde
Wil entsprach diesem Begehren zunächst, widerrief ihre Verfügung dann
aber am 12. September 1962 auf Gesuch der Mutter, die versprach, bis
zur Erledigung des Rechtsstreites die Kinder tagsüber im Kinderdörfli
Iddaheim in Lütisburg unterzubringen. Die neue Verfügung wurde dem Vater
mitgeteilt mit dem Ersuchen, den Knaben "der Mutter zur versprochenen
Anstaltsplazierung zurückzugeben".

    C.- Darüber beschwerte sich der Vater mit dem Begehren um Bestätigung
der frühern Verfügung. Mit Entscheid vom 30. Oktober 1962 hat der
Regierungsrat des Kantons St. Gallen den Rekurs, soweit darauf einzutreten
war, abgewiesen und die Waisenamtliche Verfügung vom 12. September 1962
"unter der Bedingung bestätigt, dass Frau S. ihre Kinder raschmöglichst
im Kinderdörfli Iddaheim in Lütisburg unterbringt".

    D.- Diesen Entscheid ficht B. mit Nichtigkeitsbeschwerde wegen
Verletzung eidgenössischer Zuständigkeitsnormen an (Art. 68 Abs. 1 lit.
b OG).

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    Nach Ansicht des Beschwerdeführers war die Vormundschaftsbehörde Wil
weder sachlich noch örtlich zuständig, ihn aufzufordern, den Knaben der
Mutter zurückzugeben, damit er (mit dem Mädchen) gemäss dem Versprechen der
Mutter in einem Kinderheim untergebracht werden könne. Der Beschwerdeführer
hält dafür, eine solche Anordnung könnte die Mutter nur beim Richter
verlangen, sei es als vorsorgliche Massnahme in dem in Wil hängigen
Rechtsstreit nach Art. 157 ZGB, sei es in einem in Münchwilen anzuhebenden
Befehlsverfahren oder in einem dort einzuleitenden ordentlichen Prozess.

    Dieser Ansicht ist nicht beizustimmen. Bei Scheidung der Ehe befindet
freilich der Richter über die Gestaltung der Elternrechte (Art. 156 ZGB),
und Begehren um Änderung dieser Anordnungen sind ebenfalls beim Richter
anzubringen (Art. 157 ZGB), wobei als örtlich zuständig der Richter am
derzeitigen Wohnort des beklagten Ehegatten zu gelten hat (vgl. BGE 61
II 226, 63 II 70, 81 II 315). Wie jedoch in Rechtsprechung und Lehre
längst anerkannt ist, bedarf es keiner gerichtlichen Klage, um gegen
den im Scheidungsurteil mit der elterlichen Gewalt betrauten Ehegatten
im Sinne der Art. 283 ff. ZGB einzuschreiten. Vielmehr sind zu solchem
Einschreiten gleich wie bei fortbestehender Ehe die vormundschaftlichen
Behörden befugt, und zwar auch zum Entzug der elterlichen Gewalt aus
den Gründen des Art. 285 ZGB, während freilich die Übertragung dieser
Gewalt auf den andern Ehegatten nur im Wege der Klage nach Art. 157
ZGB herbeigeführt werden kann (vgl. BGE 56 II 79, 63 II 71; HINDERLING,
Ehescheidungsrecht, 2. Auflage, S. 128 ff.).

    War somit die Vormundschaftsbehörde zuständig, die Wegnahme des
Knaben von der Mutter zu verfügen, so war sie es auch zum Widerruf dieser
Verfügung am 12. September 1962, und zwar besonders auch, um die von der
Mutter selbst versprochene und von der Vormundschaftsbehörde als nötig
befundene Unterbringung beider Kinder in einem Heime zu ermöglichen. Die
örtliche Zuständigkeit war gleichfalls gegeben. Die Art. 283 ff. ZGB
enthalten in dieser Hinsicht keine ausdrückliche Vorschrift; doch ist
auf dem Wege der Analogie eine dem Art. 376 Abs. 1 ZGB entsprechende
bundesrechtliche Zuständigkeitsnorm anzuerkennen (BGE 52 II 417).

    Unerheblich ist hiebei der Umstand, dass sich der Knabe zur Zeit noch
beim Vater befindet. Nachdem die Vormundschaftsbehörde die seinerzeit
auf dessen Begehren getroffene Verfügung widerrufen hat, steht ihm kein
Recht mehr zu, den Knaben bei sich zu behalten.

    Endlich beruft er sich gegenüber der Vormundschaftsbehörde zu Unrecht
auf Art. 145 ZGB. Die Befugnisse der vormundschaftlichen Behörden bestehen
auch nach Einleitung einer Klage auf Übertragung der elterlichen Gewalt
nach Art. 157 ZGB fort. Sie entfallen nur, wenn und soweit allenfalls der
mit einer solchen Klage befasste Richter statt der beantragten Übertragung
der elterlichen Gewalt auf den klagenden Ehegatten Massnahmen im Sinne
der Art. 283 ff. ZGB gegenüber dem beklagten Ehegatten anordnen sollte
(vgl. BGE 69 II 129; HINDERLING, aaO S. 129, N. 59). Der Richter kann
jedoch sehr wohl bei Abweisung des Klagebegehrens von jeglichen Massnahmen
absehen mit Rücksicht auf die eben ohnehin bestehenden Befugnisse der
vormundschaftlichen Behörden; er kann sich unter Umständen veranlasst
sehen, diese auf bestimmte den Kindern drohende Gefahren aufmerksam zu
machen (vgl. BGE 60 II 16).

    Was den vom Beschwerdeführer namentlich angerufenen Art. 145 ZGB
betrifft, so ist umstritten, ob im Abänderungsstreit nach Art. 157
ZGB überhaupt wie im Scheidungsprozesse Grund zu solchen vorsorglichen
Massnahmen des Richters bestehen könne (vgl. über die schwankende kantonale
Rechtsprechung BlZR 42 Nr. 33 in verneinendem und BlZR 55 Nr. 87 in
grundsätzlich bejahendem Sinne; I. TH. GYGAX, Gestaltung und Abänderung der
Elternrechte geschiedener Eltern..., Diss. 1953, S. 45 mit Hinweisen). Nach
seinem Wortlaut wie auch nach seiner Stellung im Gesetz hat Art. 145
ZGB die Bedürfnisse im Auge, wie sie sich aus dem offenen Konflikt der
Ehegatten bei Einreichung einer Klage auf Scheidung oder Trennung der
Ehe ergeben (vgl. die Erläuterungen zu Art. 165 bis 168 des Vorentwurfs
zum ZGB, Band 1 S. 144/45; EGGER, N. 1 zu Art. 145 ZGB). Indessen mag
in besondern Fällen im Abänderungsstreit nach Art. 157 ZGB eine solche
gerichtliche Anordnung sich ebenfalls rechtfertigen und Art. 145 ZGB
alsdann auch in diesem Verfahren Anwendung finden. Immerhin kann es
der mit einer derartigen Klage befasste Richter in der Regel bis zum
Hauptentscheide bei den im Scheidungsurteil getroffenen Massnahmen, zumal
mit Rücksicht auf die Einschreitungsbefugnisse der vormundschaftlichen
Behörden, bewenden lassen. Jedenfalls kommt nicht in Frage, diese Behörden
in der Erfüllung ihrer gesetzlichen Aufgaben hintanzuhalten, solange der
gemäss Art. 157 ZGB angerufene Richter sich nicht aus besondern Gründen
veransieht, selbst einzugreifen.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.