Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 I 93



88 I 93

15. Urteil vom 4. Juli 1962 i.S. E. gegen Schweizerische
Bundesanwaltschaft. Regeste

    Auslieferung. Ist vorfrageweise eidgenössisches Strafrecht anzuwenden,
so weicht der Staatsgerichtshof in der Regel nicht von der Rechtsprechung
des Kassationshofs des Bundesgerichts ab. Begriff der gewerbsmässigen
Abtreibung (Art. 119 Ziff. 3 StGB).

Sachverhalt

    A.- Die I. Strafkammer des Landgerichts Bremen hat am 5.  März 1962
gegen den praktischen Arzt und Geburtshelfer Dr. E. einen Haftbefehl
erlassen. Sie legt ihm zur Last, er habe im Herbst 1954 in seinen
Praxisräumen in Hamburg die bei der ersten Ehefrau des Friseurmeisters B.
bestehende Schwangerschaft nach Vornahme einer Narkose durch operativen
Eingriff unterbrochen, wofür er sich von B. 350 DM habe zahlen
lassen. Als Frau Waltraut B. im Jahre 1955 erneut schwanger gewesen
sei, habe Dr. E. die Leibesfrucht wiederum auf gleiche Weise beseitigt,
wofür er von B. etwa 400 DM erhalten habe. Nach Eintritt einer weiteren
Schwangerschaft habe Dr. E. - ebenfalls noch im Jahre 1955 - an Waltraut
B. eine dritte operative Schwangerschaftsunterbrechung vorgenommen, wofür
ihm B. 500 DM entrichtet habe. Am 4. August 1958 habe Dr. E. an der zweiten
Ehefrau B.s, Ute B., den gleichen operativen Eingriff vorgenommen wie in
den drei erwähnten Fällen; die Frucht sei jedoch erst zwei Tage später
bei hohem Fieber abgegangen. Auch für diesen Eingriff habe Dr. E. von
B. mindestens 500 DM erhalten. Es bestehe deshalb der dringende Verdacht,
dass Dr. E. sich in vier Fällen der gewerbsmässigen Fremdabtreibung
im Sinne der §§ 218 Abs. III und 73 dStGB schuldig gemacht habe. (Das
Schöffengericht in Bremen hat Dr. E. am 14./22. Juni 1961 mit Bezug auf
die am 4. August 1958 begangene Handlung der Fremdabtreibung im Sinne des §
218 Abs. III dStGB schuldig erkannt und ihn zu einer Gefängnisstrafe von
elf Monaten verurteilt.)

    Gestützt auf den angeführten Haftbefehl ersuchte der Senator für Justiz
und Verfassung des Landes Bremen das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement
am 15. März 1962, Dr. E. sei zur Strafverfolgung auszuliefern.

    B.- Dr. E. hat gegen die Auslieferung Einsprache erhoben. Sein
Vertreter wendet unter Berufung auf ein Gutachten von Prof. Hans
Schultz in Bern ein, nach schweizerischem Recht sei der Vorwurf
der Gewerbsmässigkeit nicht begründet; es liege vielmehr einfache
Drittabtreibung vor, deren Verfolgung gemäss Art. 119 Ziff. 1 Abs. 2 StGB
in zwei Jahren verjähre. Die dem Einsprecher zur Last gelegten Handlungen
seien somit nach schweizerischem Recht verjährt. Das habe gemäss Art. 5
des schweizerisch-deutschen Auslieferungsvertrags zur Folge, dass die
Auslieferung nicht stattzufinden habe.

    C.- Das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement hat die Akten samt
Sachbericht dem Bundesgericht unterbreitet, damit es über die Auslieferung
entscheide.

    Die Bundesanwaltschaft hat sich im wesentlichen der Betrachtungsweise
des Vertreters des Einsprechers angeschlossen; sie beantragt, die
Auslieferung sei zu verweigern.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Auslieferung von Personen, die wegen strafbarer
Handlungen verurteilt worden sind oder verfolgt werden, wird im
Verhältnis zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweiz
durch den Auslieferungsvertrag vom 24. Januar 1874 (BS Bd. 12 S. 85
ff.) geregelt. Nach Art. 1 Ziff. 2 des Vertrags stellt die vorsätzliche
Abtreibung der Leibesfrucht ein Auslieferungsdelikt dar. Es wird nicht
bestritten und steht fest, dass der Sachverhalt, der Dr. E. im Haftbefehl
zur Last gelegt wird, die Tatbestandsmerkmale der Abtreibung sowohl nach §
218 des deutschen wie nach Art. 119 des schweizerischen StGB erfüllt.

Erwägung 2

    2.- Es fragt sich dagegen, ob die Auslieferung gestützt auf
Art. 5 des Auslieferungsvertrags zu verweigern sei. Danach soll die
Auslieferung nicht stattfinden, wenn nach dem Gesetz des ersuchten Staates
die strafgerichtliche Verfolgung oder die erkannte Strafe verjährt
ist. Die Auslieferung Dr. E.s wird nicht zum Vollzug des Urteils des
Schöffengerichts in Bremen, sondern zur Strafverfolgung wegen der im
Haftbefehl genannten Handlungen verlangt. Zu prüfen ist deshalb, ob nach
schweizerischem Recht die Verfolgungsverjährung eingetreten sei. Dabei
sind sämtliche Vor- und Hauptfragen nach inländischem Recht zu beurteilen
(BGE 87 I 204 a).

    Art. 119 Ziff. 1 Abs. 2 des schweizerischen StGB lässt als
Sonderbestimmung die Verfolgung der (einfachen) Abtreibung durch
Drittpersonen in zwei Jahren verjähren; die absolute Verjährung
tritt somit nach drei Jahren ein (Art. 72 Ziff. 2 Abs 2 letzter Satz
StGB). Die Verjährung der qualifizierten Drittabtreibung im Sinne von
Art. 119 Ziff. 2 und 3 StGB richtet sich dagegen nach den allgemeinen
Verjährungsvorschriften; sie tritt demgemäss nach zehn und (absolut)
nach fünfzehn Jahren ein. Da die Dr. E. zur Last gelegten Handlungen
mehr als drei Jahre zurückliegen, kommt es entscheidend darauf an, ob
sie unter die Ziff. 1 oder unter die Ziff. 2 bzw. 3 des Art. 119 StGB
fielen. Der Haftbefehl beschuldigt Dr. E. nicht, er habe ohne Einwilligung
der Schwangeren gehandelt. Der Tatbestand des Art. 119 Ziff. 2 StGB
fällt daher in diesem Zusammenhang ausser Betracht. Die Abtreibungen,
die Dr. E. zu verantworten hat, hatten keinen tödlichen Ausgang. Art. 119
Ziff. 3 StGB und die damit verbundene ordentliche Verjährungsfrist greifen
demnach nur Platz, wenn die im Haftbefehl umschriebenen Handlungen als
gewerbsmässig zu bezeichnen sind.

    Der Haftbefehl wirft Dr. E. ausdrücklich vor, er habe sich
gewerbsmässig vergangen. Damit wird der Sachverhalt nach deutschem
Recht gewürdigt. Der Auslieferungsrichter, der die geltend gemachten
Tatumstände nach schweizerischem Recht zu beurteilen hat, wird durch
diese Stellungnahme nicht gebunden. Er hat vielmehr zu prüfen, ob die
einzelnen tatsächlichen Vorhalte des Strafbefehls nach schweizerischem
Recht den Vorwurf der Gewerbsmässigkeit begründen. Der Staatsgerichtshof
hat keinen Anlass, bei Beantwortung dieser strafrechtlichen Frage von der
Rechtsprechung des Kassationshofs abzuweichen (die der vom Einsprecher
beigezogene Gutachter nur hinsichtlich der Vermögensdelikte ablehnt;
vgl. SCHULTZ, Zwanzig Jahre schweizerisches Strafgesetzbuch, ZStR 78 S.11).

    Wie der Kassationshof in zahlreichen Urteilen erkannt hat, entnimmt der
Begriff der gewerbsmässigen Begehung strafbarer Handlungen seine Merkmale
dem des erlaubten Gewerbes. Gewerbsmässigkeit liegt demgemäss immer dann
vor, wenn der Täter mit der dem Gewerbebetrieb eigenen Bereitschaft,
um des Erwerbes willen gegenüber unbestimmt vielen zu handeln, die Tat
wiederholt, wo immer sich passende Gelegenheit bietet (BGE 70 IV 135;
71 IV 85 Erw. 2, 115; 72 IV 109; 74 IV 141 Erw. 2; 76 IV 239 Erw. 4; 78
IV 154; 79 IV 11, 118; 81 IV 36; 86 IV 10, 207). Nicht erforderlich ist,
dass die Absicht, sich durch das Verbrechen Einnahmen zu verschaffen,
einziger oder vorherrschender Beweggrund sei; denn ein Gewerbe kann
auch aus andern Motiven, wie aus Freude am Beruf, aus Nächstenliebe und
dergleichen ausgeübt werden (BGE 72 IV 109; 78 IV 156; 79 IV 13, 119). Die
für die Gewerbsmässigkeit kennzeichnende Bereitschaft, gegenüber unbestimmt
vielen zu handeln, ist ihrerseits nicht nur dann gegeben, wenn der Täter
unterschìedslos gegenüber jedermann handeln will. Wie der Inhaber eines
erlaubten Gewerbes seine Kunden ausssuchen kann, so kann sich auch der
gewerbsmässig vorgehende Verbrecher an Personen oder Personengruppen
halten, die bestimmte von ihm als günstig bewertete Voraussetzungen
erfüllen; so kann sich beispielsweise ein Abtreiber veranlasst sehen,
nur vertrauenswürdigen Bekannten die Leibesfrucht abzutöten (BGE 79 IV
13 mit Verweisungen). Diese Beschränkung in der Wahl der Opfer macht
es möglich, dass der Täter während einer gewissen Zeitspanne seinen
verbrecherischen Willen nur gegenüber einer einzigen Person verwirklicht,
während es im übrigen mangels passender Gelegenheit bei der Bereitschaft
zur Tat bleibt. Strafbare Gewerbsmässigkeit kann daher auch vorliegen,
wenn die Tat ausschliesslich gegenüber ein und derselben Person wiederholt
wird. Dieser Qualifikationsgrund entfällt dagegen, wenn aus besonderen
Gründen geschlossen werden muss, der Täter habe sich nur gerade an dieser
einen Person vergehen wollen und er wäre infolgedessen gegenüber andern
Personen, selbst bei sich bietender Gelegenheit, untätig geblieben (BGE
86 IV 208).

    Der Haftbefehl legt Dr. E. viermalige Abtreibung zur Last. Dr. E. soll
in allen Fällen im Auftrag B.s gehandelt haben; seine Opfer waren die erste
und die zweite Frau des Auftraggebers. Dr. E. stand indes weder zu diesem
noch zu den Opfern in näheren Beziehungen. Dass Dr. E. im Herbst 1954 und
im Laufe des Jahres 1955, also während längstens eineinviertel Jahren,
nicht weniger als drei Eingriffe an Waltraut B. vornahm, zeigt, dass er
bei jedem Auftreten einer neuen Schwangerschaft zur Tat bereit war. Dass
sich seine Bereitschaft nicht nur auf dieses bestimmte Opfer bezog, erhellt
daraus, dass er auch bei Ute B. einen Eingriff vornahm. Wohl kam es erst
rund zweiunddreiviertel Jahre nach der letzten Abtreibung an Waltraut
B. zum Eingriff bei Ute B. Das lässt sich indes nicht damit erklären,
dass Dr. E. Hemmungen gehabt hätte, sich ein neues Opfer zu wählen. Der
zeitliche Abstand zwischen dem dritten und dem vierten Fall ist vielmehr
offentsichtlich darauf zurückzuführen, dass B. in der Zwischenzeit die
Hilfe Dr. E.s nicht benötigte. Für die Eingriffe liess sich Dr. E. laut
Haftbefehl 350, 400, 500 und nochmals mindestens 500 DM bezahlen. Da er
keine persönlichen Gründe für die Tat hatte, ist zu schliessen, dass er
um des Erwerbes willen handelte.

    Zusammengefasst ergibt sich, dass die im Haftbefehl umschriebenen
Umstände im Lichte der Rechtsprechung des Kassationshofs geeignet sind,
den Vorwurf der Gewerbsmässigkeit zu begründen. Dass Dr. E. nicht
auf die Einkünfte aus den Abtreibungen angewiesen war, dass er keine
Werbung für die Eingriffe entfaltete und dass der Anstoss zur Tat nicht
von ihm, sondern von B. ausging, spricht nach dem Gesagten nicht gegen
das Vorliegen der Gewerbsmässigkeit. Die Handlungen, derentwegen die
Auslieferung verlangt wird, sind mithin nicht verjährt. Da auch im übrigen
keine Gründe gegen die Auslieferung bestehen, ist diese zu bewilligen.

Erwägung 3

    3.- Es fragt sich allerdings, ob die Auslieferung nicht an
den Vorbehalt zu knüpfen sei, dass Dr. E. nicht wegen einfacher
(Fremd-)Abtreibung bestraft werden dürfe, weil diese nach schweizerischem
Recht verjährt wäre. Würde ein entsprechender Vorbehalt in den
Urteilsspruch aufgenommen, so könnte das indes zu Irrtümern Anlass
geben. Der Gewerbsmässigkeitsbegriff des deutschen Rechts deckt sich nicht
mit demjenigen des schweizerischen StGB. Sollte der Sachrichter erkennen,
Dr. E. habe im Sinne des deutschen Rechts nicht gewerbsmässig gehandelt,
so hiesse das daher nicht notwendigerweise, dass auch nach Massgabe des
schweizerischen Rechts (Art. 119 Ziff. 3 StGB) keine Gewerbemässigkeit
vorliege. Die Grundsätze des Auslieferungsrechts stehen mithin einer
Verurteilung wegen (einfacher) Fremdabtreibung nur entgegen, falls der
Sachrichter zum Schluss gelangen sollte, die Merkmale der Gewerbsmässigkeit
seien auch nach schweizerischem Recht nicht erfüllt.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Einsprache des Dr. E. gegen seine Auslieferung an die
Bundesrepublik Deutschland wird abgewiesen, und die Auslieferung wird
insoweit bewilligt.