Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 I 31



88 I 31

6. Auszug aus dem Urteil vom 21. März 1962 i.S. Rohner und Konsorten
gegen Regierungsrat des Kantons St. Gallen. Regeste

    Gesetzesdelegation.

    Sofern es der gesetzgebenden Gewalt nicht durch eine
Verfassungsbestimmung untersagt ist, darf sie die Befugnis zur
Rechtsetzung, wenn auch nicht allgemein, so doch für eine bestimmte
Materie, an ein anderes Staatsorgan weitergeben (delegieren)und dieses
ermächtigen, durch Rechtsverordnung an Stelle des Gesetzgebers Recht
zu schaffen. Im Rahmen der Delegation kann das andere Staatsorgan auch
ermächtigt werden, von der allgemeinen gesetzlichen Regelung der Materie
abzuweichen.

    Die Art. 45, 46 lit. e, 47, 54, 65 und 101 der st. gall. KV verbieten
diese Gesetzesdelegation nicht.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Das st. gallische Gesetz über die Staats- und Gemeindesteuern
vom 17. April 1944 (StG) bestimmt in Art. 166 (Abs. 1 in der Fassung
des Nachtragsgesetzes vom 26. Dezember 1960):

    "Der Regierungsrat wird ermächtigt, über die Besteuerung im Verhältnis
zu anderen Kantonen und zum Auslande besondere Vorschriften zu erlassen,
mit andcrn Kantonen oder Staaten Gegenrechtserklärungen auszutauschen
und insbesondere für Personen ohne dauernden Wohnsitz im Kanton eine
Quellensteuer auf steuerpflichtigen Einkünften aus dem Kanton einzuführen.

    Er ist dabei an die Vorschriften dieses und anderer Steuergesetze
nicht gebunden."

    Gestützt hierauf erliess der Regierungsrat des Kantons St. Gallen
am 11. Dezember 1961 eine Verordnung über die Quellensteuer, welche
unter anderm gewisse Ausländer, die sich im Kanton aufhalten, für
ihre Arbeitseinkünfte aus nichtselbständiger Tätigkeit einer von den
Arbeitgebern am Lohn abzuziehenden Quellensteuer unterwirft.

    Gegen diese Verordnung haben zwei Arbeitgeberverbände sowie eine
Anzahl Firmen und Arbeitnehmer staatsrechtliche Beschwerde erhoben.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Die Beschwerdeführer beantragen in erster Linie Aufhebung der
ganzen Quellensteuerverordnung, weil der Regierungsrat zum Erlass
von Rechtsverordnungen nicht befugt und Art. 166 StG, der ihn dazu
ermächtigt, selbst verfassungswidrig sei. Damit werfen sie die Frage nach
der Zulässigkeit der Gesetzesdelegation auf, d.h. nach dem Recht des
Gesetzgebers, die Befugnis zur Rechtsetzung an ein anderes Staatsorgan
weiterzugeben und dieses zu ermächtigen, durch Rechtsverordnung anstelle
des Gesetzgebers Recht zu schaffen. Diese Frage ist vorweg zu beurteilen;
denn wenn die gesetzliche Grundlage verfassungswidrig ist, so ist
die angefochtene Verordnung schon wegen der Art ihres Zustandekommens
aufzuheben, ohne dass die Verfassungsmässigkeit ihres Inhalts geprüft zu
werden braucht.

    Die in der Lehre herrschende Auffassung bejaht die Zulässigkeit der
Gesetzesdelegation, sofern sie nicht durch eine Verfassungsbestimmung
untersagt ist (BURCKHARDT, Komm. der BV, S. 666; FLEINER, Institutionen,
8. Aufl., S. 71, und Schweiz. Bundesstaatsrecht, S. 414; RUCK,
Schweiz. Verwaltungsrecht, I. Band, 2. Aufl., S. 63; abweichend
GIACOMETTI, der die Gesetzesdelegation nur für möglich hält, wenn die
Verfassung sie ausdrücklich zulässt: Staatsrecht der Kantone, S. 493,
Schweiz. Bundesstaatsrecht, S. 800 und ausführlich in Allg. Lehren des
rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts, S. 158 ff.). Die Rechtsprechung
des Bundesgerichts steht von jeher auf dem Boden der herrschenden
Lehre und lässt die Gesetzesdelegation zu, soweit sie nicht durch eine
Verfassungsbestimmung untersagt ist - wenn nicht allgemein, so doch
für bestimmte Materien (BGE 32 I 112, 41 I 502, 67 I 27, 74 I 114). Die
Kritik GIACOMETTIS vermag keine Änderung hieran zu begründen. Wohl ist
der Grundsatz der Gewaltentrennung in der Schweiz Gemeingut und gilt nicht
nur in den Kantonen, deren Verfassung ihn ausdrücklich aufstellt, sondern
auch im Bund und in den übrigen Kantonen, wo er sich aus der tatsächlichen
Verteilung der gesetzgebenden, richterlichen und vollziehenden Gewalt auf
verschiedene Organe ergibt; doch ist er weder dort noch hier konsequent
durchgeführt, sondern die Verfassungen selbst enthalten zahlreiche
Ausnahmen davon. Der blosse allgemeine Grundsatz schliesst deshalb nicht
aus, dass der Gesetzgeber seine Gewalt indirekt ausübt, indem er seine
Befugnis einem anderen Organ des Staates delegiert; um das zu verhindern,
bedarf es vielmehr eines unzweideutigen Verbotes. Dem Referendumsrecht
der Stimmbürger ist Genüge getan, wenn das Gesetz, das die Delegation
ausspricht, der Volksabstimmung untersteht.

    Die Frage, ob nach dem Staatsrecht des Kantons St. Gallen, insbesondere
nach den auch heute wieder angerufenen Art. 45, 46 lit. e, 47, 54 und 65
KV, allgemein verbindliche Rechtssätze nur in der Form des Gesetzes oder
auch durch gesetzlich ermächtigte Verordnung erlassen werden können, ist in
BGE 30 I 719 offen gelassen worden. Dagegen wurde sie beantwortet in dem
nicht veröffentlichten Urteil vom 13. Mai 1948 i.S. Grossenbacher. Hier
wird festgestellt, dass die st. gallische Kantonsverfassung keine
Vorschrift enthält, die verbietet, die laut Art. 47 und 54 KV dem Grossen
Rat in Verbindung mit dem Volk zustehende Gesetzgebungskompetenz an ein
anderes Organ zu übertragen. Insbesondere sei die materielle Regelung
des Steuerwesens nicht ausschliesslich dem Gesetzgeber vorbehalten;
wieso dieser die vollziehende Behörde nicht sollte ermächtigen können,
über eine bestimmte Materie eine Verordnung zu erlassen, die ihn binde,
sei unerfindlich. Der Grundsatz der "Gesetzmässigkeit der Steuern"
verstehe das Wort Gesetz im materiellen, nicht im formellen Sinne, sodass
jeder allgemein verbindliche Rechtssatz, der von einem staatsrechtlich
zuständigen Organ erlassen worden sei, darunter falle, also auch der
in Gestalt einer Verordnung gekleidete (Erw. 3). Ein Verstoss gegen
den in Art. 101 KV aufgestellten Grundsatz der Gewaltentrennung stehe
ausser Frage, weil dieser nur im Rahmen der Verfassung gewährleistet sei
und daher nicht verletzt sein könne, wenn eine Behörde im Rahmen ihrer
verfassungsmässigen Zuständigkeit handle (Erw. 4).

    Gegen diese Feststellungen vermögen die Argumente der heutigen
Beschwerdeführer nicht aufzukommen. Dass die Quellensteuerverordnung Rechte
und Pflichten von Privaten allgemein und bleibend bestimmt und deshalb
gemäss Art. 54 Abs. 2 KV ihrem Inhalt nach ein Gesetz darstellt, ist
unbestritten. Der Erlass von Gesetzen ist nach Art. 54 Abs. 1 Sache des
Grossen Rates, unter Vorbehalt des verfassungsmässigen Souveränitätsrechtes
des Volkes. Hierunter ist dessen Mitwirkung an der Gesetzgebung durch das
fakultative Referendum zu verstehen, die sich aus Art. 45, 46 lit. e und
47 KV ergibt. Das schliesst -jedoch nicht aus, dass der Grosse Rat seine
Befugnis zur Gesetzgebung über bestimmte Materien oder Gegenstände - auch
die in Art. 54 Abs. 2 genannten - dem Regierungsrat überträgt, der dann
darüber eine Rechtsverordnung erlässt. Freilich gilt der Vorbehalt des
Souveränitätsrechtes des Volkes auch dafür, nämlich für diese Delegation;
die Rechte der Stimmbürger werden gewahrt dadurch, dass sie gegen das
Gesetz, das die Delegation enthält, insbesondere gegen diese selbst,
das Referendum ergreifen können, wenn sie damit nicht einverstanden sind.

    Ob der Regierungsrat, der durch die Delegation an die Stelle des
Gesetzgebers tritt und dessen Befugnisse ausübt, wie dieser selbst Gesetze
abändern könne, braucht in dieser Allgemeinheit nicht entschieden zu
werden. Sicher kann der Gesetzgeber, der ihn zur Ordnung einer bestimmten
Materie ermächtigt, in diese Delegation auch seine Befugnis einschliessen,
dabei von der allgemeinen gesetzlichen Regelung dieser Materie abzuweichen;
eine solche ausdrückliche Bestimmung ist auf alle Fälle im Rahmen der
Delegation gültig. Hiegegen lässt sich nichts aus Art. 65 Satz 2 KV
herleiten, wonach Massregeln zur Vollziehung der Gesetze nie veränderte
oder neue Bestimmungen über die Hauptsache enthalten dürfen. Er bezieht
sich eindeutig nur auf den in Art. 65 geordneten Vollzug, gilt also
wohl für Vollziehungsverordnungen, nicht aber für gesetzesvertretende
Rechtsverordnungen.

    Dem entspricht auch die ständige Praxis im Kanton St. Gallen, wo
seit dem Inkrafttreten der Verfassung vom 30. August 1890 zahlreiche
Rechtsverordnungen erlassen wurden. Der Regierungsrat zählt in seiner
Antwort auf die Beschwerden nicht weniger als 24 Gesetze aus den Jahren
1894-1961 auf, die den Regierungsrat zum Erlass allgemein verbindlicher
Vorschriften ermächtigen, und bemerkt, dass es nur die wichtigsten Fälle
seien. Wenn es sich auch dabei mehr um den Erlass ergänzender Bestimmungen
zu teils rudimentären Gesetzen handelt, so gehen sie doch offensichtlich
weit über den blossen Vollzug "ohne veränderte oder neue Bestimmungen über
die Hauptsache" hinaus und stellen Rechtsverordnungen dar. In einem Falle
war die Delegation mit der ausdrücklichen Entbindung von den Vorschriften
der geltenden Steuergesetze verbunden - nämlich in Art. 166 Abs. 2 StG
(der von dem III. Nachtragsgesetz nicht berührt wurde und auch von den
heutigen Beschwerdeführern nicht beanstandet wird). Nicht nur der Grosse
Rat und der Regierungsrat handhabten die Verfassung in diesem Sinne,
sondern auch das Kantonsgericht hat die Zulässigkeit von Rechtsverordnungen
ausdrücklich bejaht und als "ohne weiteres klar" bezeichnet (Entscheidungen
des Kantonsgerichts, 1925, Nr. 2 und 1938, Nr. 23).

    Die in Art. 166 StG enthaltene Gesetzesdelegation ist mithin nicht
verfassungswidrig.