Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 I 240



88 I 240

40. Urteil vom 28. November 1962 i.S. Scintilla AG gegen Kantone Solothurn
und Wallis. Regeste

    Art. 46 Abs. 2 BV. Aufteilung des Gewinns eines interkantonalen
Fabrikationsunternehmens. Voraussetzungen der Zuweisung eines Vorausanteils
an den Kanton, in dem sich Sitz und Betriebsleitung befinden.

Sachverhalt

    A.- Die Beschwerdeführerin Scintilla AG befasst sich mit der
Herstellung und dem Verkauf von Apparaten verschiedener Art. Sie hat
ihren Sitz in Solothurn, ihren Hauptfabrikbetrieb in der Gemeinde
Zuchwil, einem Vorort von Solothurn, und ein kleines Lager in der
Nachbargemeinde Derendingen. Ferner betreibt sie seit 1947 eine
weitere Fabrik in St.Niklaus (Kt. Wallis), wo sie zunächst die Räume
eines alten Hotels mietete und dann im Jahre 1956 ein eigenes Gebäude
erstellte. Die gesamte kaufmännische und technische Leitung mit zwei
Direktoren an der Spitze befindet sich in Zuchwil, wo die Bücher
geführt werden und der Geschäftsverkehr mit den Lieferanten und
Abnehmern erfolgt. Der Fabrikationsbetrieb in St. Niklaus, der nicht
als Zweigniederlassung im Handelsregister eingetragen ist und von einem
nicht einzeln zeichnungsberechtigten Prokuristen geleitet wird, liefert
alle seine Erzeugnisse an den Hauptbetrieb in Zuchwil ab und erhält von
dort das Geld für die Lohnzahlungen. Ende Dezember 1960 beschäftigte
die Beschwerdeführerin in Solothurn 357 monatlich sowie 937 stündlich
bezahlte Arbeitskräfte und in St. Niklaus 29 monatlich und 378 stündlich
bezahlte Arbeitskräfte. Der Durchschnitt der Netto-Gehälter und -Löhne
ohne Gratifikationen und Sozialleistungen betrug im Jahre 1960 für das
gesamte Personal in Zuchwil Fr. 7780.-- und für dasjenige in St. Niklaus
Fr. 5671.--.

    B.- In den Jahren 1947-1960 haben die Kantone Solothurn und Wallis
die ihnen zur Besteuerung zukommenden Quoten am Gesamtreingewinn der
Beschwerdeführerin jeweils übereinstimmend in der Weise berechnet, dass
dem Sitzkanton Solothurn ein Vorausanteil von 20% zugewiesen und der Rest
auf Grund der sog. Erwerbsfaktoren verteilt wurde.

    Für die Veranlagung im Jahre 1961 bestimmte die Steuerverwaltung
des Kantons Solothurn die Erwerbsfaktoren auf Grund der Gewinn- und
Verlustrechnung für 1960 und der Bilanz per 31. Dezember 1960 wie folgt:
                                    Solothurn     Wallis       Total
   Örtlich gebundene Aktiven            Fr.        Fr.          Fr.
   (Immobilien, Maschinen,

    Mobilien, Waren)                6.854.304   1.492.288    8.346.592

    Beteiligungen                    4.035.571     ---        4.035.571

    Mobile Konti (Kassa,

    Postcheck, Wertschriften,

    Darlehen), verteilt im

    Verhältnis der örtlich

    gebundenen Aktiven            15.111.997   2.070.490   17.182.487

    Gehälter und Löhne, mit

    10% kapitalisiert            100.679.944  23.447.774  124.127.718

    Mieten, mit 7% kapitalisiert       208.785      94.100      302.885
                                  ------------------------------------
                      zusammen    126.890.601  27.104.652  153.995.253
   in Prozenten                        82.40%      17.60%>     100%

    Auf Grund dieser Erwerbsfaktoren setzte die Steuerverwaltung des
Kantons Solothurn den Anteil dieses Kantons am steuerbaren Gesamtertrag
des Jahres 1960 von Fr. 2.763.387 auf 85,92% (Vorausanteil von 20% +
82,40 % des Restes) = Fr. 2.374.302, - fest und überliess dem Kanton
Wallis (17,60% von 80% =) 14,08% oder Fr. 389.085, - zur Besteuerung
(Veranlagung zur Kantonssteuer vom 21. August 1961 und entsprechende
Steuerrechnungen der Gemeinden Solothurn, Zuchwil und Derendingen).

    Die Steuerverwaltung des Kantons Wallis anerkannte die vom Kanton
Solothurn bestimmten Erwerbsfaktoren, lehnte aber (wie sie der solothurn.
Steuerverwaltung schon am 25. Oktober 1961 mitteilte) den Abzug eines
Vorausanteils für den Sitzkanton ab und setzte demnach den im Kanton
Wallis steuerbaren Anteil am Gewinn der Beschwerdeführerin auf 17,60%
von Fr. 2.763.387, - = Fr. 486.356, - fest (provisorische Veranlagung
vom 13. Juli 1962, als endgültig erklärt am 24. August 1962).

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 12. September 1962 ersucht
die Scintilla AG das Bundesgericht, die erwähnten Veranlagungen der
Kantone Solothurn und Wallis (sowie der Gemeinden Solothurn, Zuchwil
und Derendingen) mit Bezug auf die Ertrags- bzw. Gewinnsteuer für 1961
wegen Doppelbesteuerung aufzuheben und das Verhältnis der Berechtigungen
der beiden Kantone zur Steuererhebung festzusetzen. Zur Begründung wird
im wesentlichen auf den bereits geschilderten Sachverhalt verwiesen
und beigefügt, dass die Beschwerdeführerin zur Frage, ob der vom
Kanton Solothurn beanspruchte Vorausanteil von 20% ganz oder teilweise
gerechtfertigt sei, nicht Stellung beziehe, sondern lediglich bemerke,
dass die tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse in ihrem Betrieb sich
im Jahre 1961 gegenüber 1960 in keiner Weise geändert haben, sodass die
Haltung des Kantons Wallis, der den Vorausanteil von Solothurn jahrelang
anerkannt habe, als nicht motiviert erscheine.

    D.- Der Regierungsrat des Kantons Solothurn beantragt Abweisung der
Beschwerde, soweit sie sich gegen diesen Kanton richtet. Er macht geltend,
dass der Fabrikbetrieb in St. Niklaus ein reines Zulieferwerk ohne jede
Selbständigkeit sei und die Bedeutung der im Sitzkanton befindlichen
Geschäftsleitung in den Erwerbsfaktoren, d.h. in den höheren Löhnen im
Sitzkanton sowie in den diesem Kanton ganz zugewiesenen Beteiligungen,
nicht genügend berücksichtigt werde. Das ergebe sich eindeutig daraus,
dass dann, wenn man bei den Erwerbsfaktoren für den Kanton Solothurn
die niedrigeren Durchschnittslöhne von St. Niklaus einsetze und die
Beteiligungen im Verhältnis der örtlich gebundenen Aktiven verteile,
der Anteil des Kantons Solothurn 77,45% statt 82,40% und derjenige des
Kantons Wallis 22,55% statt 17,40% betragen, die Differenz also nur
rund 5% ausmachen würde, wovon 3,9% auf die Gehälter und Löhne und 1,1%
auf die Beteiligungen entfielen. Ein Vorausanteil von 20% zugunsten des
Sitzkantons sei daher vollauf gerechtfertigt und nicht übersetzt (LOCHER,
§ 8 II C 6 Nr. 12 und 19).

    E.- Der Staatsrat des Kantons Wallis beantragt die Abweisung der
Beschwerde, soweit sie sich gegen diesen Kanton richtet. Er ist der
Auffassung, dass die Bedeutung der Geschäftsleitung in den Erwerbsfaktoren
genügend zum Ausdruck komme.

    F.- Dem Regierungsrat jedes Kantons ist Gelegenheit gegeben worden,
zur Beschwerdeantwort des andern Stellung zu nehmen. Dabei hat jeder an
seinen früheren Ausführungen festgehalten.

    G.- Die Beschwerdeführerin erklärt in der Replik, dass sie die im
September 1960 erworbenen Beteiligungen im Jahre 1962 bereits wieder
veräussert habe und dass sie nicht nur eigene Erzeugnisse verkaufe,
sondern in den Jahren 1960 und 1961 auch Generalvertreterin für die
Schweiz für den Vertrieb gewisser von der Robert Bosch G.m.b.H. in
Stuttgart hergestellter Erzeugnisse gewesen sei.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Da die Beschwerdeführerin für das Jahr 1961 vom Kanton Solothurn
für 85,92% und vom Kanton Wallis für 17,60%, zusammen also für mehr als
100% ihres Reingewinns besteuert wird, liegt offensichtlich eine nach Art.
46 Abs. 2 BV unzulässige Doppelbesteuerung vor. Ferner ist unbestritten,
dass bei einem interkantonalen Unternehmen wie der Beschwerdeführerin,
die sich in erster Linie mit der Fabrikation und mit dem Verkauf eigener
Erzeugnisse und nur nebenbei mit dem Vertrieb fremder Produkte befasst,
die Quote des Gesamtreingewinns, die jeder Kanton besteuern darf, nach
der indirekten Methode auf Grund der sog. Erwerbsfaktoren zu bestimmen
ist. Streitig ist einzig, ob die Quoten ausschliesslich auf Grund der
Erwerbsfaktoren zu berechnen seien, oder ob vom Gesamtreingewinn ein
Vorausanteil zugunsten des Sitzkantons Solothurn abzuziehen und nur der
Rest nach Massgabe jener Faktoren zu verteilen sei.

Erwägung 2

    2.- Der Umstand, dass der Kanton Wallis mit dem Abzug eines
Vorausanteils von 20% für den Sitzkanton seit der Eröffnung des
Fabrikbetriebs in St. Niklaus bis zum Jahre 1960 einverstanden war, hindert
ihn nicht, sich diesem Abzug im Jahre 1961 zu widersetzen. Bei periodischen
Steuern kommt einer Veranlagungsverfügung nur für die betreffende Periode
Rechtskraft zu, und zwar auch insoweit, als sich der Entscheid auf die
interkantonale Steuerausscheidung bezieht. Jeder Kanton ist daher frei,
in einer spätern Periode tatsächliche oder rechtliche Verhältnisse anders
als früher zu würdigen (vgl. die von LOCHER, Doppelbesteuerungsrecht, §
2 IV C Nr. 2 und 3 zitierten Urteile).

Erwägung 3

    3.- Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist bei einem
interkantonalen Unternehmen der Sitzkanton dann berechtigt, einen Teil des
Gesamtgewinns vorweg zu besteuern, wenn die Tätigkeit der in diesem Kanton
befindlichen Zentralleitung und deren Einfluss auf das Geschäftsergebnis
infolge der für die Steuerausscheidung gewählten Methode nicht hinlänglich
zum Ausdruck kommt (statt vieler BGE 58 I 24, 61 I 343, 71 I 341, 81 I
265 sowie die bei LOCHER aaO § 8 II C 6 angeführten Urteile). Das trifft
insbesondere bei Anwendung der direkten Methoden, der Gewinnverteilung
nach Massgabe des Umsatzes oder der Gewinn- und Verlustrechnungen
des Hauptsitzes und der einzelnen Niederlassungen, häufig zu, da die
Tätigkeit der Zentralleitung sich nicht nur auf den Umsatz oder das
Geschäftsergebnis des Hauptsitzes auswirkt, sondern einen wesentlichen
Einfluss auch auf den Geschäftsgang der Niederlassungen ausübt. Bei der
Steuerausscheidung nach Massgabe der Erwerbsfaktoren wird dagegen häufig
nur ein kleiner Vorausanteil zuzusprechen oder ein solcher überhaupt
abzulehnen sein, da in diesen Fällen die Tätigkeit der Zentralleitung oft
im Faktor Kapital (durch ausschliessliche Zuweisung von Beteiligungen
an den Hauptsitz) oder im Faktor Arbeit (durch Kapitalisierung der am
Hauptsitz ausgerichteten Löhne des leitenden Personals, eventuell auch
der Tantièmen) vollständig oder doch teilweise zum Ausdruck kommt (Urteil
vom 20. September 1940 i.S. Sturzenegger AG, im Auszug bei LOCHER aaO §
8 II C 6 Nr. 21; vgl. auch BGE 71 I 341).

    Im vorliegenden Falle besteht kein Grund, die sich aus den
Erwerbsfaktoren ergebende Gewinnverteilung durch Zusprechung eines
Vorausanteils an den Sitzkanton Solothurn zu berichtigen. Da die Fabrik
in St. Niklaus keinerlei Selbständigkeit geniesst und vom Hauptsitz aus
geleitet wird, kommt der dort befindlichen kaufmännischen und technischen
Leitung im Rahmen des Gesamtbetriebs freilich erhöhte Bedeutung
zu. Dieser tragen jedoch die Erwerbsfaktoren hinreichend Rechnung,
da die kapitalisierten Gehälter und Löhne ein verhältnismässig hoher
Posten (rund 4/5) in den Erwerbsfaktoren sind und der Sitzkanton überdies
durch Zuweisung der gesamten (inzwischen allerdings wieder veräusserten)
Beteiligungen begünstigt ist.

    Der Einwand des Kantons Solothurn, mit den höheren Gehältern und Löhnen
im Sitzkanton und der Zuweisung der Beteiligungen werde die Bedeutung der
Geschäftsleitung nicht genügend berücksichtigt, hält nicht stich. Nach
der von ihm angestellten Rechnung würde der Anteil des Kantons Solothurn
immer noch 77,45% betragen, wenn man bei den Erwerbsfaktoren auch für den
Hauptsitz die niedrigeren Durchschnittslöhne von St.Niklaus einsetzt und
die Beteiligungen im Verhältnis der örtlich gebundenen Aktiven verteilt,
was zeige, dass die höheren Gehälter und Löhne des leitenden Personals
und die dem Hauptsitz zugewiesenen Beteiligungen nur eine Erhöhung des
Anteils von Solothurn von 77,45% auf 82,40%, also nur um rund 5% zur
Folge habe. Diese 5% sind jedoch, wie sich bei näherer Prüfung ergibt,
mehr als ein Vorausanteil von 20%. Wenn man nämlich von einem Anteil des
Kantons Solothurn nach Massgabe der Erwerbsfaktoren von 77,45% ausgeht
und ihm einen Vorausanteil von 20% einräumt, so berechnet sich sein Anteil
am Gesamtreingewinn wie folgt:

    Vorausanteil   20,00%

    77,45% des Restes      61,96%
   zusammen       81,96%

    Bei gleichen Löhnen und Verteilung der Beteiligungen, aber Zuweisung
eines Vorausanteils von 20% an den Sitzkanton ist dessen Anteil am
Gesamtreingewinn somit niedriger als auf Grund der tatsächlichen, höheren
Löhne des Hauptsitzes und der ihm zugewiesenen Beteiligungen, jedoch ohne
Vorausanteil, sodass anzunehmen ist, die Bedeutung des Hauptsitzes komme
in den Erwerbsfaktoren genügend zur Geltung und die Zusprechung eines
Vorausanteils erübrige sich.

    Nicht viel anders verhält es sich, wenn die inzwischen wieder
veräusserten Beteiligungen beim Hauptsitz belassen und nur die Gehälter
und Löhne ausgeglichen werden. In diesem Falle berechnet sich die Quote
Solothurns, da dann der Anteil nach Massgabe der Erwerbsfaktoren, wie der
Regierungsrat ausführt, 3,9% weniger, d.h. 78,50% statt 82,40% betragen
würde, wie folgt:

    Vorausanteil   20,00%

    78,50% des Restes      62,80%
   zusammen       82,80%

    Die Differenz zwischen diesen 82,80% und der unkorrigierten Quote von
82,40% ist so geringfügig, dass sich eine Berichtigung durch Zuweisung
eines Vorausanteils von auch nur 5 oder 10% keinesfalls rechtfertigt.

    Bei Fabrikationsunternehmen, deren Verhältnisse sich mit denjenigen der
Beschwerdeführerin vergleichen lassen, ist denn auch in der bisherigen
Rechtsprechung jeweils von der Zusprechung eines Vorausanteils
an den Sitzkanton abgesehen worden (BGE 36 I 19/20 und 26/27; nicht
veröffentlichtes Urteil vom 22. Dezember 1937 i.S. Gebrüder Meier, Erw. 8,
abgedruckt in ZBl 1938 S. 361). In den vom Regierungsrat des Kantons
Solothurn angerufenen Fällen (LOCHER aaO § 8 II C 6 Nr. 12 und 19), wo
Vorausanteile von 20% zugesprochen wurden, lagen die Verhältnisse anders
als hier, denn im Falle Mido SA (Urteil vom 8. April 1927) handelte es
sich um ein Unternehmen, bei dem sich im Sitzkanton nur die Leitung, der
gesamte Fabrikationsbetrieb dagegen im andern Kanton befand, während es
sich im Falle Genossenschaft "Elektra Fraubrunnen" (Urteil vom 4. März
1938) um ein Elektrizitätswerk handelte.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht: Die Beschwerde wird gegenüber dem
Kanton Solothurn in dem Sinne gutgeheissen, dass dieser Kanton bei der
Besteuerung des Gewinns im Jahre 1961 kein Präzipuum beanspruchen darf.
Die Beschwerde gegenüber dem Kanton Wallis wird abgewiesen.