Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 I 207



88 I 207

35. Auszug aus dem Urteil vom 21. November 1962 i.S. Wermelinger &
Co. gegen Studer und Niederberger sowie Regierungsrat des Kantons Luzern.
Regeste

    Art. 4 BV. Willkür. Beschränkung des Kündigungsrechts im
Geltungsbereich der Mietzinsüberwachung. Verhältnis von Art. 63 Abs. 1
zu Art. 64 VMK.

Sachverhalt

    A.- Die Firma Siegfried Wermelinger & Co. ist Eigentümerin
eines Miethauses in Littau, dessen Wohnungen der Mietzinsüberwachung
und Beschränkung des Kündigungsrechts im Sinne der Art. 42-65 der
Verordnung des Bundesrates vom 11. April 1961 über Mietzinse und
Kündigungsbeschränkungen (VMK) unterstehen. Die Beschwerdegegner Studer
und Niederberger sind Mieter je einer Fünfzimmerwohnung in diesem
Hause. Als ihnen die Vermieterin die Mietverträge auf den 15. September
1962 kündigte, erhoben sie Einsprache. Vor dem Amtsgehilfen von Luzern
warf die Vermieterin den Mietern vor, sie hätten den Hausfrieden durch
Streitigkeiten gestört; ferner behauptete sie, sie benötige die Wohnungen
für ihr im Geschäft aushelfende Mieter.

    Der Amtsgehilfe erklärte beide Kündigungen als unzulässig. Hiegegen
rekurrierte die Vermieterin. Der Regierungsrat des Kantons Luzern wies
die Rekurse mit Entscheid vom 10. September 1962 ab, im wesentlichen aus
folgenden Gründen: Entgegen der Auffassung der Vermieterin sei Art. 64 VMK
dem Art. 63 nicht in dem Sinne untergeordnet, dass er nur anwendbar sei,
wenn die Voraussetzungen des Art. 63 gegeben seien. Vielmehr seien Art. 63
und 64 so auszulegen, dass die Kündigung in jedem Falle nur zulässig sei,
wenn einer der in Art. 35 genannten Gründe vorliege. Dass Art. 63 und
64 systematisch auf gleicher Stufe stehen, ergebe sich aus den ihren
Marginalien vorangestellten Buchstaben B und C. Gegen die Auslegung der
Beschwerdeführerin spreche weiter, dass ein Mietvertrag entweder in der in
Art. 63 umschriebenen Absicht oder aber aus einem der in Art. 35 genannten
Gründe gekündigt werde, dass also der Grund des Art. 63 und die Gründe
gemäss Art. 64 bzw. 35 einander in der Regel ausschlössen. Die Aufnahme
der neuen lit. f in Art. 35 VMK habe im Bereiche der Mietzinskontrolle
wenig Sinn, da das Interesse des Vermieters bei der Interessenabwägung
schon nach Art. 34 zu berücksichtigen sei. Sie lasse sich nur durch
die Absicht erklären, bei der Kündigungsbeschränkung im Bereich der
Mietzinsüberwachung einfach auf Art. 35 verweisen zu können. Das setze
aber voraus, dass im gleichen Sinne wie bei Art. 34 das Interesse des
Vermieters berücksichtigt werden könne, wenn kein besonderer Grund nach
Art. 35 lit. a - e vorhanden sei. Darin komme unverkennbar der Wille zum
Ausdruck, die Bestimmungen über die Kündigungsbeschränkung im Bereich
der Mietzinskontrolle einerseits und im Bereich der Mietzinsüberwachung
anderseits einander anzugleichen. Es sei daher zu prüfen, ob die
Kündigungen nach Art. 35 VMK zulässig seien. Das sei indes nicht der Fall
(wird näher ausgeführt).

    B.- Gegen diesen Entscheid führt die Firma Siegfried Wermelinger
& Co. staatsrechtliche Beschwerde. Sie beruft sich auf Art. 4 BV
und bringt zur Begründung im wesentlichen vor: Der angefochtene
Entscheid sei willkürlich, weil er Art. 63 VMK nicht berücksichtige
und ausschliesslich auf Art. 64 abstelle. Art. 64 habe insofern nur
eine untergeordnete Bedeutung, als eine Kündigung, die nach Art. 63
als unzulässig erklärt werden könnte, trotzdem gerechtfertigt sei,
wenn einer der in Art. 64 bzw. 35 genannten Gründe vorliege. Die
beiden Beschwerdegegner hätten aber nie behauptet, geschweige denn
glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen des Art. 63 gegeben seien,
weshalb die Kündigungen nicht auf Grund von Art. 63 als unzulässig
erklärt werden dürfen. Wäre die Auffassung des Regierungsrates über das
Verhältnis zwischen Art. 63 und 64 VMK richtig, so wäre die Beschränkung
des Kündigungsrechts im Bereich der Mietzinsüberwachung genau gleich
gross wie im Bereich der Mietzinskontrolle, ja noch grösser. Das könne
aber unmöglich der Sinn dieser Bestimmungen sein, denn mit ihnen habe
die Mietzinskontrolle gelockert werden wollen. Mit der Einführung der
Mietzinsüberwachung habe der Gesetzgeber beabsichtigt, die staatlichen
Eingriffe "in das Wohnungswesen" zu lockern und den Kündigungsschutz nur
soweit aufrecht zu erhalten, als es zu einem reibungslosen Funktionieren
der Überwachung, d.h. zur Sicherung des Einspracherechts des Mieters gegen
Mietzinserhöhungen notwendig sei. Diese Absicht des Gesetzgebers werde
allerdings durch Art. 64 "etwas verwischt". Indes ergebe sich auch aus
der Botschaft des Bundesrates vom 23. August 1960 zum BB über Mietzinse
für Immobilien einwandfrei, dass eine Einsprache des Mieters gegen die
Kündigung auf jeden Fall abzulehnen sei, wenn eine Umgehungsabsicht
des Vermieters nicht glaubhaft erscheine. Nur eine solche Auslegung
entspreche dem Zweck der Vorschrift, die nicht mehr den Mieter im Besitze
seiner Wohnung schützen, sondern die Umgehung der Vorschriften über die
Mietzinsüberwachung verhindern wolle.

    D.- Der Regierungsrat des Kantons Luzern sowie die Beschwerdegegner
Studer und Niederberger beantragen Abweisung der Beschwerde.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab, soweit es auf sie eintritt.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

    Die VMK enthält neben den im wesentlichen der bisherigen Ordnung
entsprechenden Bestimmungen über die Beschränkung des Kündigungsrechtes im
Geltungsbereich der Mietzinskontrolle (Art. 31-41) besondere Vorschriften
über die Beschränkung des Kündigungsrechts im Geltungsbereich der mit der
VMK neu eingeführten Mietzinsüberwachung (Art. 62-65). Der vorliegende
Streit geht um die Tragweite der Art. 63 Abs. 1 und 64 und ihr Verhältnis
zueinander.

    Nach Art. 63 Abs. 1 kann eine Kündigung auf Begehren des Mieters
unzulässig erklärt werden, wenn glaubhaft erscheint, dass sie erfolgt ist,
um die Mietsache unter Umgehung des Einspracherechts des Mieters zu einem
höheren Mietzins oder unter Geltendmachung anderer zusätzlicher Forderungen
vermieten zu können. Anderseits bestimmt Art. 64, dass die Kündigung
gerechtfertigt ist, wenn einer der Gründe vorliegt, die in dem (für den
Geltungsbereich der Mietzinskontrolle aufgestellten) Art. 35 genannt sind.

    Der Regierungsrat legt die Art. 63 und 64 dahin aus, dass eine
Kündigung in jedem Falle nur zulässig sei, wenn einer der in Art. 35
genannten Gründe vorliege. Die Beschwerdeführerin dagegen ist der
Auffassung, dass eine Kündigung nur unter der Voraussetzung des Art. 63
Abs. 1 unzulässig erklärt werden könne, aber selbst in diesem Falle
zulässig sei, wenn einer der Gründe des Art. 35 vorliege. Dass diese
Auslegung die einzig mögliche und diejenige des Regierungsrates unhaltbar,
willkürlich sei, kann indes nicht gesagt werden.

    Weder aus dem Wortlaut noch aus der systematischen Stellung der Art. 63
und 64 ergibt sich oder folgt gar zwingend, dass Art. 64 in dem Sinne bloss
subsidiäre Bedeutung hätte, dass er nur anwendbar wäre auf Kündigungen, die
nach Art. 63 Abs. 1 unzulässig erklärt werden können. Da keine der beiden
Bestimmungen auf die andere Bezug nimmt und sie nach ihren Randtiteln und
den diesen vorangestellten Buchstaben B und C auf gleicher Stufe stehen,
lässt sich sehr wohl die dem angefochtenen Entscheid zugrunde liegende
Auffassung vertreten, dass eine Kündigung unzulässig erklärt werden könne,
wenn entweder die in Art. 63 Abs. 1 umschriebene Absicht des Vermieters
glaubhaft erscheine oder keiner der in Art. 35 genannten Gründe vorliege.

    Dass diese mit dem Wortlaut vereinbare Auslegung der Bestimmungen
ihrem Sinn und Zweck offensichtlich widerspreche, ist nicht dargetan. Die
Beschwerdeführerin behauptet, dass die Kündigungsbeschränkungen im
Bereich der Mietzinsüberwachung nicht mehr den Zweck haben, den Mieter
im Besitze seiner Wohnung zu schützen, sondern lediglich die Umgehung
der Vorschriften über die Überwachung verhindern sollen. Danach würde
also der Mieter im Geltungsbereich der Mietzinsüberwachung keinen
Kündigungsschutz mehr geniessen, wenn er nicht glaubhaft machen kann,
dass die Kündigung in der alleinigen Absicht erfolgt ist, einen höheren
Mietzins oder sonstwie eine zusätzliche Leistung von ihm zu verlangen. Für
eine so weitgehende Einschränkung des Kündigungsschutzes bieten die
Bestimmungen des VMK und des ihm zugrunde liegenden Bundesbeschlusses
über Mietzinse für Immobilien usw. vom 21. Dezember 1960 (AS 1961
S. 284) keinen Anhaltspunkt. Wenn dieser Bundesbeschluss bestimmt,
die Mietzinsüberwachung habe dem Mieter Gewähr "gegen ein unangemessenes
Ansteigen des Mietzinses und gegen ungerechtfertigte Kündigungen" zu bieten
(Art. 7 Abs. 1; vgl. auch Art. 13 Abs. 1), so dürfte damit ein umfassender,
nicht nur der Sicherung des Einspracherechts gegen Mietzinserhöhungen
dienender Kündigungsschutz gemeint sein. Dafür, dass die Art. 63 und 64
einen derartigen umfassenden Schutz gewähren, spricht auch, dass eine
im Zusammenhang mit einem zur Einsprache des Mieters berechtigenden
Verhalten vorgenommene Kündigung durch die Einsprache sistiert wird,
mit der rechtskräftigen Mietzinsfestsetzung dahinfällt und nur erneuert
werden kann, wenn "ein hinreichender Grund (Art. 64) zu einer solchen
(d.h. einer Kündigung) vorliegt" (Art. 57 VMK).

    Unbehelflich ist auch der Einwand der Beschwerdeführerin, nach
der Auffassung des Regierungsrates wäre der Kündigungsschutz im
Geltungsbereich der Mietzinsüberwachung genau gleich gross wie im
Geltungsbereich der Mietzinskontrolle, ja noch grösser, was unmöglich
richtig sein könne, da der Gesetzgeber mit der Mietzinsüberwachung,
wie sich aus der Entstehungsgeschichte ergebe, die staatlichen
Eingriffe in das Wohnungswesen habe lockern wollen. Einmal kommt den
Gesetzesmaterialien gemäss ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts
für die Gesetzesauslegung keine entscheidende Bedeutung zu (BGE 84 II
103 und dort zitierte neuere Urteile, 87 II 331, 87 III 94), sodass
Gesetzesmaterialien kaum geeignet sein dürften, eine dem Wortlaut und
der Systematik entsprechende oder doch damit vereinbare Auslegung als
geradezu willkürlich erscheinen zu lassen. Davon abgesehen sprechen
die Materialien hier nicht, jedenfalls aber nicht eindeutig gegen
die vom Regierungsrat vertretene Auslegung. Schon in der Botschaft zum
Verfassungszusatz vom 24. März 1960 (AS 1960 S. 993), aufwelchem die VMK
letztlich beruht, wurde betont, dass ein befriedigendes Funktionieren
der Mietzinsüberwachung nur in Verbindung mit einem wirksamen Schutz
der Mieter gegen ungerechtfertigte Kündigungen denkbar wäre (BBl 1959
II 483). Dass dies zu einer Ausdehnung des teilweise schon abgebauten
Kündigungsschutzes führen werde, lag auf der Hand und wurde bei der
Beratung im Nationalrat, die sich zur Hauptsache um andere Fragen drehte,
von den Berichterstattern der Kommissionsmehrheit und -minderheit wie auch
vom Vertreter des Bundesrates ausdrücklich erwähnt (StenBull NR 1960 S. 3,
9 und 78), während von einer Lockerung des Kündigungsschutzes nirgends
die Rede war. Die von der Beschwerdeführerin angerufenen Ausführungen
in der Botschaft des Bundesrates zum Bundesbeschluss über Mietzinse für
Immobilien usw. vom 21. Dezember 1960 (BBl 1960 II 711/12) betreffen vor
allem Fragen der Beweislast, die sich im Mieterschutzverfahren aus den
neuen Bestimmungen ergeben, erlauben keinen sichern Schluss auf den Umfang
des Kündigungsschutzes und enthalten keine Anhaltspunkte für eine Lockerung
desselben. Insbesondere tragen sie, obwohl sie sich auch mit dem Verhältnis
zwischen den (im wesentlichen den Art. 63 und 64 VMK entsprechenden)
Absätzen 2 und 3 der These 9 der eidgenössischen Preiskontrolle zu befassen
erklären, nichts zur Erhellung dieses Verhältnisses bei, das, wie nicht
zu leugnen ist, keineswegs völlig klar ist. Welche Auffassung bei freier
Prüfung als richtig den Vorzug verdient, ist hier nicht zu prüfen, da
sich nur fragt, ob die vom Regierungsrat vertretene Auffassung, wonach
eine Kündigung in jedem Falle nur bei Vorliegen eines der in Art. 35 VMK
genannten Gründe zulässig sei, dem Vorwurfe der Willkür standhält. Das ist
der Fall, denn sie verstösst, eben weil das Verhältnis zwischen Art. 63
und 64 nicht völlig klar ist, jedenfalls nicht gegen klares Recht, sondern
ist, wie dargelegt, mit dem Wortlaut und Sinn der Bestimmungen vereinbar
und erscheint, wie beigefügt werden mag, angesichts der Verhältnisse auf
dem Wohnungsmarkt auch sachlich als gerechtfertigt.