Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 I 107



88 I 107

17. Auszug aus dem Urteil vom 20. Juni 1962 i.S. AHV-Ausgleichskasse
"Musik und Radio" gegen H. A. G. und Rekursrichter für Schuldbetreibung
und Konkurs des Kantonsgerichts St. Gallen. Regeste

    Art. 88 OG. Legitimation öffentlichrechtlicher Körperschaften zur
staatsrechtlichen Beschwerde.

    Eine AHV-Ausgleichskasse kann gegen die Verweigerung der definitiven
Rechtsöffnung für von ihr in Betreibung gesetzte Beiträge staatsrechtliche
Beschwerde erheben.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Die staatsrechtliche Beschwerde ist nach der Umschreibung ihrer
Voraussetzungen in Verfassung (Art. 113 Ziff. 3 BV) und Gesetz (Art. 88 OG)
ein Rechtsbehelf zum Schutze der natürlichen und juristischen Personen
gegen Übergriffe der öffentlichen Gewalt und kann daher nicht dazu
benutzt werden, um umgekehrt Entscheidungen anzufechten, die gegen den
Inhaber dieser Gewalt ergangen sind. Das gilt nach der Rechtsprechung
des Bundesgerichts auch für Gemeinden und staatliche oder kommunale
Behörden, wenn sie als Inhaber staatlicher Gewalt handeln. Sie sind zur
staatsrechtlichen Beschwerde zwar legitimiert, wenn ein Erlass oder ein
Entscheid sie in gleicher Weise trifft wie eine Privatperson. Als Trägerin
öffentlicher Gewalt dagegen steht der Gemeinde das Beschwerderecht nur
zu, wenn sie ihre Autonomie, ihren eigenen selbständigen Wirkungskreis
gegenüber dem Staat als dem übergeordneten Träger öffentlicher
Gewalt verteidigen will (BGE 87 I 214 Erw. 2 mit Verweisungen). Diese
Grundsätze gelten auch für öffentlichrechtliche Körperschaften, die einen
im öffentlichen Interesse liegenden Zweck verfolgen und eine Aufgabe
erfüllen, die eigentlich dem Staat obliegen würde, deren Verfolgung er
aber ganz oder zum Teil den betreffenden Körperschaften übertragen hat;
denn sie sind wie ein Staatsorgan mit staatlicher Gewalt ausgestattet
und üben öffentliche Befugnisse aus (BGE 83 I 269 E. 2).

    Die Beschwerdeführerin ist eine Verbandsausgleichskasse im Sinne von
Art. 53 ff. AHVG. Ihr Kassenreglement ist gemäss Art. 56 Abs. 3 AHVG
und Art. 100 AHVV vom Eidg. Volkswirtschaftsdepartement genehmigt
worden,womit sie das Recht der Persönlichkeit erlangt hat. Sie hat
die in Art. 63 AHVG genannten öffentlichen Aufgaben zu erfüllen. Als
Körperschaft des öffentlichen Rechts steht ihr die staatsrechtliche
Beschwerde nach dem Gesagten unter den gegebenen Umständen nur dann zu,
wenn sie durch den angefochtenen Entscheid in gleicher Weise betroffen wird
wie eine Privatperson. Diese Voraussetzung erachtet die Rechtsprechung
unter anderem als erfüllt, wenn die Befugnisse und Pflichten des
Gemeinwesens als Eigentümer seines Finanz- oder Verwaltungsvermögens
oder sein Eigentumsrecht daran in Frage gestellt sind (vgl. nicht
veröffentlichte Urteile vom 3. Juli 1947 i.S. Einwohnergemeinde Luzern,
Erw. 1, vom 13. November 1947 i.S. Einwohnergemeinde Liestal, Erw. 2,
und vom 29. Juni 1960 i.S. Gemeinde Küblis, Erw. 1). Zu den Aufgaben
der Verbandsausgleichskassen wie der Ausgleichskassen überhaupt
gehört der Bezug der Beiträge und damit auch die Durchführung des
Betreibungsverfahrens gegen säumige Beitragspflichtige (Art. 63 lit. e
AHVG). In diesem Vollstreckungsverfahren tritt die Kasse dem Schuldner
in gleicher Weise gegenüber wie ein privater Betreibungsgläubiger; sie
hat die nämlichen Rechte und Pflichten wie er und wird demgemäss durch
die Verweigerung der definitiven Rechtsöffnung nicht anders betroffen als
ein Privater. Sie kann demzufolge wie ein solcher gegen einen derartigen
Entscheid staatsrechtliche Beschwerde erheben. (Aus den selben Gründen hat
das Bundesgericht in BGE 79 I 329 Erw. 1 die Schweiz. Verrechnungsstelle
zur staatsrechtlichen Beschwerde zugelassen gegen die Verweigerung der
definitiven Rechtsöffnung in einer Betreibung wegen Beiträgen, die auf
Grund von Clearing- und Verrechnungsabkommen an die Schweiz. Nationalbank
einzuzahlen waren.) Auf die Beschwerde ist mithin einzutreten.