Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 97



88 IV 97

27. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 16. November 1962
i.S. B. gegen Vize-Jugendanwaltschaft des Kantons Thurgau. Regeste

    Art. 91 Ziff. 1 und 2, Art. 92 StGB.

    1.  Für sittlich verwahrloste, sittlich verdorbene oder gefährdete
Jugendliche steht nach dem Gesetz die Anstaltserziehung im Vordergrund
(Erw. 2).

    2.  Verbindung von Anstaltserziehung und medikamentöser Behandlung
bei latenter Epilepsie (Erw. 3).

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Der heute 16-jährige B., der seinen Erziehern seit Jahren
Schwierigkeiten bereitete, entwendete in der Zeit vom 1. Oktober 1961 bis
12. Januar 1962 mehrere Motorräder und unternahm damit Fahrten, ohne im
Besitze eines Führerausweises zu sein. Bei seiner Verhaftung versuchte er,
sich mittels eines gefälschten Ausweises, falscher Namensangaben und einer
unrichtigen Sachdarstellung aus der Schlinge zu ziehen. Zudem erschwerte
er die Untersuchung durch Bestreitungen und Lügen.

    Ein von der Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen am 30. März 1962
abgegebenes Gutachten bezeichnet B. als debilen Psychopathen mit schwerer
erzieherischer Verwahrlosung, der an einer latenten Epilepsie leide,
und es empfiehlt, den Jugendlichen für drei bis vier Jahre zu einer
intensiven Nacherziehung in einem geeigneten Heim unterzubringen und ihn
dabei gleichzeitig wegen der latenten Epilepsie medikamentös zu behandeln.

    Am 12. Juli 1962 wies das Obergericht des Kantons Thurgau B. in
Anwendung von Art. 91 Ziff. 1 StGB in eine Erziehungsanstalt für
Jugendliche ein.

    B. wendet sich mit der Nichtigkeitsbeschwerde gegen die Anordnung
dieser Massnahme.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Welche der in Art. 91 StGB vorgesehenen Massnahmen im Einzelfall
den Vorrang verdient, entscheidet die zuständige Behörde nach ihrem
Ermessen (BGE 80 IV 150). Dieses hat die Vorinstanz, indem sie sich für
die Einweisung in eine Erziehungsanstalt für Jugendliche entschied, nicht
überschritten. Denn inwiefern es offensichtlich unvernünftig sein sollte,
aus dem bisherigen Verhalten des Beschwerdeführers einerseits und dem
offenkundigen Versagen seiner Mutter als Erzieherin anderseits den Schluss
zu ziehen, dass eine straffe und zielbewusste Führung des Jugendlichen
nur in einer geschlossenen Anstalt gewährleistet sei, ist nicht zu
sehen. Das Gesetz selber nennt in Art. 91 StGB die Anstaltserziehung
an erster Stelle, und es sieht im Falle der Familienversorgung die
Überlassung des Jugendlichen an die eigene Familie in letzter Linie vor
(Ziff. 2). Der Grund dieser Reihenfolge liegt in der Erfahrungstatsache,
dass eine Besserung in der Erziehung in der Regel nur durch einen Wechsel
der Erzieher und der Umgebung zu erwarten ist und dass insbesondere die
zweckmässige Behandlung einer schon eingetretenen oder sich abzeichnenden
Fehlentwicklung Anforderungen an die erzieherische Fähigkeit stellt, denen
die Familie häufig nicht gewachsen ist (s. das nicht veröffentlichte Urteil
des Kassationshofes vom 23. Januar 1959 i.S. Luder). Letzteres ist hier
unzweifelhaft der Fall, stellt doch die Vorinstantz verbindlich fest,
die Mutter des Beschwerdeführers habe über diesen keinerlei Autorität
und es beständen wegen ihren Männerbekanntschaften zwischen ihr und
ihrem Sohne erhebliche Spannungen. Es war daher, unter Vorbehalt von
Art. 92 StGB, sachlich gegeben, den Beschwerdeführer aus der eigenen
Familie herauszunehmen und ihn in eine Anstalt einzuweisen. Dass aber das
Obergericht sein Ermessen überschritten habe, indem es den Jugendlichen
nicht einer vertrauenswürdigen fremden Familie zur Erziehung übergab,
wird in der Beschwerde nicht geltend gemacht, offenbar mit Recht nicht.

Erwägung 3

    3.- Ist dem so, kann sich bloss noch fragen, ob beim Geisteszustand
des Beschwerdeführers die von der Vorinstanz angeordnete Einweisung in
eine Erziehungsanstalt für Jugendliche genüge oder ob nicht zusätzlich
zu dieser Massnahme oder eventuell an deren Stelle eine Massnahme nach
Art. 92 StGB hätte verfügt werden sollen. Denn nach dem psychiatrischen
Gutachten der Heil- und Pflegeanstalt Münsterlingen leidet B. an einer
latenten Epilepsie, die nach der Empfehlung des Experten behandelt
werden sollte. Die Vorinstanz hat hiezu nur insoweit Stellung genommen,
als sie sich der Auffassung des Gutachters mit Bezug auf das Bestehen der
genannten Krankheit anschloss. Dass sie sich zur Frage der Behandlung mit
keinem Worte äusserte, obschon Art. 92 StGB eine solche bei epileptischen
Jugendlichen ausdrücklich vorsieht, muss indessen nicht zur Aufhebung
ihres Urteils führen. Da nach Auffassung des Experten die hier notwendige
Behandlung in der Erziehungsanstalt erfolgen kann, besteht die vom
Obergericht angeordnete Massnahme an sich zu Recht. Sie wird aber mit
der vom Psychiater als dringend bezeichneten medikamentösen Behandlung
verbunden werden müssen. Mit dieser Ergänzung ist das angefochtene Urteil
zu bestätigen.