Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 72



88 IV 72

22. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 29. Juni 1962
i.S. Staatsanwaltschaft Graubünden gegen Rudin. Regeste

    Art. 59 Abs. 2 MFG. Die Bestimmungen der Art. 89 bis 99 StGB stehen
der Annahme nicht im Wege, dass wegen Rückfalles bei Führen eines
Motorfahrzeuges in angetrunkenem Zustande auch strafbar ist, wer die
frühere Verurteilung als Jugendlicher erlitt.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Am 10. Juli 1961 gegen Mitternacht setzte sich Rudin in
angetrunkenem Zustand ans Steuer seines Personenwagens und fuhr auf der
Kantonsstrasse von Chur nach Rhäzüns. Da er sich plötzlich unpässlich und
müde fühlte, hielt er sein Fahrzeug auf einem Abstellplatz hinter Rhäzüns
an, erbrach sich und schlief ein. Ungefähr drei Stunden später wurde er
dort von der Polizei aufgegriffen, die eine Blutentnahme anordnete und
Anzeige erstattete.

    Am 5. November 1955 war Rudin bereits als Jugendlicher vom
Jugendgericht Hinterrhein wegen Widerhandlung gegen Art. 59 Abs. 1 MFG
in eine bedingt aufgeschobene Strafe von fünf Tagen Einschliessung nach
Art. 95 f. StGB verfällt worden.

    B.- Der Kreisgerichtsausschuss Rhäzüns erklärte Rudin am 28. Dezember
1961 des Führens eines Motorfahrzeuges im angetrunkenen Zustand im Sinne
des Art. 59 Abs. 1 MFG schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingt
vollziehbaren Strafe von 14 Tagen Haft und zu einer bedingt vorzeitig
löschbaren Busse von Fr. 100.--. Das Gericht nahm an, es liege kein
Rückfall vor.

    Der Kantonsgerichtsausschuss von Graubünden bestätigte dieses Urteil
am 19. Februar 1962.

    C.- Die Staatsanwaltschaft Graubünden führt Nichtigkeitsbeschwerde mit
dem Antrag, das Urteil des Kantonsgerichtsausschusses sei aufzuheben und
die Sache zur Bestrafung Rudins nach Art. 59 Abs. 2 MFG an die Vorinstanz
zurückzuweisen.

    D.- Rudin beantragt Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Wer in angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug führt, wird nach
Art. 59 Abs. 1 MFG in Verbindung mit Art. 333 Abs. 2 StGB mit Haft bis zu
zwanzig Tagen oder mit Busse bis zu tausend Franken bestraft. In schweren
Fällen oder "bei Rückfall" wird gemäss Art. 59 Abs. 2 MFG auf Gefängnis
bis zu sechs Monaten oder auf Busse bis zu fünftausend Franken erkannt.

    Der Rückfall ist hier nicht allgemeiner Strafschärfungsgrund im Sinne
der Art. 67 und 108 StGB, sondern ein das Führen in angetrunkenem Zustande
auszeichnendes Tatbestandsmerkmal. Er ist in Art. 59 Abs. 2 MFG zu einem
besondern Straftatbestand erhoben und den (sonstigen) schweren Fällen
gleichgestellt, welche nach dieser Bestimmung als Vergehen zu ahnden sind
(BGE 74 IV 78, 77 IV 108, 83 IV 174). Mit Rückfall kann hier nur die
Wiederholung der Tat nach einer wegen Führens in angetrunkenem Zustande
erfolgten früheren Verurteilung gemeint sein (BGE 77 IV 109).

Erwägung 2

    2.- Davon geht auch die Vorinstanz aus. Sie hält aber dafür, im
Entscheid eines Jugendgerichtes sei keine strafrechtliche Verurteilung im
Sinne dieser Rechtsprechung zu erblicken. Das Strafgesetzbuch spreche in
den für Jugendliche geltenden Bestimmungen der Art. 89 bis 99 nirgends
von einer Verurteilung, sondern bloss in Art. 90 von der Beurteilung
des Jugendlichen. Dieser werde gemäss Art. 95 StGB nicht für schuldig,
sondern für fehlbar befunden. Auch würden ihm Strafen in Aussicht gestellt,
welche mit Ausnahme der Busse von denen für Erwachsene der Art nach
verschieden seien (Verweis, Einschliessung, erzieherische Massnahme). Das
Strafgesetzbuch - wie übrigens auch Art. 220 StPO - vermeide denn auch den
strengen Ausdruck Urteil und gebrauche das farblosere Wort Entscheid. Dazu
komme, dass das Bundesgericht in BGE 79 IV 1 die Einschliessung nicht
zu den Freiheitsstrafen zähle, die für den Fall, dass sie während der
letzten fünf Jahre vor Verübung der Tat verbüsst wurden, den bedingten
Strafvollzug nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB ausschlössen. Sie sei wohl
Strafe, dürfe aber mit den für das Erwachsenenstrafrecht vorgesehenen
Sanktionen nicht auf eine Ebene gehoben werden.

    Mit dieser Begründung lässt sich das angefochtene Urteil nicht
aufrechterhalten. Es trifft zwar zu, dass in den Art. 89 ff. StGB nicht
ausdrücklich von einer Verurteilung die Rede ist. Sachlich liegt aber
nichtsdestoweniger eine solche immer vor, wenn die zuständige Behörde den
Jugendlichen wegen einer vom Gesetz mit Strafe bedrohten Tat "fehlbar"
findet und über ihn eine Massnahme verhängt oder ihn bestraft. Die
Verhängung einer Massnahme setzt wie die Bestrafung voraus, dass der
Betroffene wegen einer strafbaren Handlung schuldig befunden werde; auch
wird die Massnahme wie die Strafe samt dem Schuldspruch ins Strafregister
eingetragen (Art. 361 StGB) und unter den gleichen Voraussetzungen wie
diese gelöscht (Art. 99 StGB). Es ist namentlich bei der Bestrafung nach
Art. 95 nicht einzusehen, dass eine Einschliessung keine strafrechtliche
Verurteilung sein soll. Art. 95 vermeidet zwar das Wort "schuldig"
und weist stattdessen die zuständige Behörde an, den Jugendlichen mit
Verweis, Busse oder Einschliessung zu strafen, wenn sie ihn "fehlbar"
findet. Allein Fehlbarkeit ist nichts anderes als Schuld (vgl. HAFTER,
Allg. Teil, S. 475; SCHWANDER, Das schweizerische StGB, S. 228 Nr. 497),
die übrigens nach allgemeinem für das Schuldstrafrecht geltendem Grundsatz
erst Strafe rechtfertigt. Von strafrechtlicher Verurteilung zu sprechen,
ist umsomehr am Platz, als das Gesetz selbst den mit Einschliessung
oder Busse bestraften Jugendlichen in Art. 96 Abs. 1 als Verurteilten
bezeichnet. Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass in Art. 97
das Wort Entscheid anstelle von Urteil verwendet wird. Jedenfalls
kommt dem Entscheid dann der Charakter einer Verurteilung zu, wenn
nachträglich eine Massnahme verhängt oder eine Strafe ausgefällt werden
muss. Ebensowenig führt zu einem andern Schluss, dass Art. 90 von der
Beurteilung des Jugendlichen spricht. Diese Bestimmung betrifft lediglich
die Untersuchung, deren Aufgabe es ist, insbesondere den objektiven
Sachverhalt festzustellen und die persönlichen Verhältnisse des Täters
zu erforschen, soweit das der Entscheid über die zweckmässige Behandlung
des Jugendlichen erfordert. Niemals kann es aber Sache der Untersuchung
sein, diesen Entscheid durch eine Verurteilung vorwegzunehmen (vgl. hiezu
Art. 344, 345 ff. und 349 StGB).

    Nicht einzusehen ist sodann, dass der Grundgedanke des
Jugendstrafrechts der Berücksichtigung der früheren Verfehlung
entgegenstehen und damit die Annahme eines Rückfalles im Sinne des Art. 59
Abs. 2 MFG verwehren sollte. Die schärfere Bestrafung des Rückfälligen
hat ihren Grund einzig darin, dass der Täter sich durch die Vorstrafe
nicht genügend abschrecken liess und neuerdings Schuld auf sich geladen
hat (HAFTER, Allg. Teil, S. 368). Dies trifft unbekümmert darum zu,
ob er die Tat als Jugendlicher oder als Erwachsener wiederholte.

    Schliesslich lässt sich auch aus BGE 79 IV 1 ff. nichts für eine
andere Betrachtungsweise ableiten. Damals war die Frage zu beurteilen,
ob die Einschliessung eine Freiheitsstrafe sei, die den bedingten
Strafvollzug nach Art. 41 Ziff. 1 Abs. 3 StGB ausschliesse. Darum geht es
hier nicht. Zu entscheiden ist vielmehr, ob die Wiederholung einer gemäss
Jugendstrafrecht geahndeten Tat nach Erreichung des 18. Altersjahrs den
besondern Straftatbestand des Rückfalles im Sinne des Art. 59 Abs. 2 MFG
begründe. Dies aber ist aus den angeführten Gründen zu bejahen. Zu Bedenken
besteht umsoweniger Anlass, als der Strafrahmen des Art. 59 Abs. 2 MFG
erlaubt, den Besonderheiten des Einzelfalles und auch Billigkeitsgründen,
wo sich solche stellen (BGE 77 IV 109, 83 IV 175), in weitem Masse Rechnung
zu tragen.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des
Kantonsgerichtsausschusses von Graubünden vom 19. Februar 1962 aufgehoben
und die Sache zur Bestrafung des Beschwerdegegners nach Art. 59 Abs. 2
MFG an die Vorinstanz zurückgewiesen.