Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 62



88 IV 62

19. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 18. Juni 1962
i.S. St. gegen Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 194 Abs. 1 StGB.

    1.  Verführen im Sinne dieser Bestimmung setzt nicht voraus, dass
der Unmündige aktiven oder ausdrücklichen Widerstand leiste (Bestätigung
der Rechtsprechung).

    2.  Auch bei fortgesetzter Begehung muss das objektive
Tatbestandsmerkmal der Verführung in jedem Einzelfall erfüllt sein.

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Das Bundesgericht hat den Begriff des Verführens gestützt auf den
Schutzzweck des Art. 194 Abs. 1 StGB und den Wortlaut der romanischen
Gesetzestexte in jahrelanger Rechtsprechung weit ausgelegt (BGE 70 IV
30, 85 IV 221 und zahlreiche nicht veröffentlichte Urteile). Darnach
verführt, wer auf den Unmündigen einen bestimmenden Einfluss ausübt und
ihm gegenüber eindeutig die treibende Kraft darstellt, und zwar auch
dann, wenn der Unmündige der Verlockung zu gleichgeschlechtlicher Unzucht
keinen erkennbaren Widerstand entgegensetzt. Mit dem im Strafgesetzbuch
niedergelegten Gedanken des Jugendschutzes vertrüge es sich schlecht, und
insbesondere wäre der in Art. 194 Abs. 1 verfolgte Zweck, Unmündige über
16 Jahren vor homosexuellen Verirrungen zu bewahren, in Frage gestellt,
wenn nur diejenigen Jugendlichen geschützt würden, die dank ihrer
Charakterveranlagung und sittlichen Erziehung der Verführung aktiven
Widerstand leisten, die vielen andern aber, die leicht beeinflussbar,
willensschwach oder sittlich gefährdet sind und deshalb unzüchtigen
Zumutungen leicht erliegen, des Schutzes, dessen sie am meisten bedürfen,
beraubt wären. Verführt werden können daher auch Unmündige, die zwar
geneigt sind, sich auf homosexuelle Handlungen einzulassen, selber aber
keine eigene Initiative ergreifen, sondern ihre letzten Hemmungen erst
auf Anstoss von aussen verlieren. In solchen Fällen bleibt trotz der
vorhandenen Bereitschaft des Jugendlichen noch Raum, auf ihn einen
bestimmenden Einfluss auszuüben und ihn dadurch ins Verderben zu führen.

    Die Entstehungsgeschichte des Art. 194 Abs. 1 StGB steht dieser
Auslegung nicht im Wege, wie der Beschwerdeführer behauptet. Bei der
Gesetzesberatung war nur umstritten, ob nicht auch die homosexuelle
Betätigung unter Erwachsenen, zumindest die beischlafsähnlichen Handlungen,
unter Strafe gestellt werden sollte. Diese Meinungsverschiedenheiten
führten dazu, dass der von der nationalrätlichen Kommissionsmehrheit
gutgeheissene bundesrätliche Entwurf, der die Bestrafung mündiger
Personen, die mit einem Unmündigen von über 16 Jahren widernatürliche
Unzucht treiben, vorsah, nochmals an die Kommission zurückgewiesen wurde
(Sten. Verh. Ber. NR S. 375-406). Die neue, mit dem heutigen Art. 194
Abs. 1 übereinstimmende Vorlage, die dem Vorschlag Hafters entsprechend
die Altersgrenze des Täters fallen liess, anderseits den Gedanken der
Verführung in den Vordergrund stellte, wurde hierauf gegen die Stimmen
der für eine erweiterte Bestrafung der Homosexualität Eintretenden
im Nationalrat mit grösserem Mehr und im Ständerat knapp angenommen
(Sten. Verh. Ber. NR S. 519-527; StR S. 185-191). Dass Jugendliche im
Alter von 16-20 Jahren vor homosexuellen Umtrieben wirksam geschützt
werden müssen, ist jedoch in den eidgenössischen Räten nie und von
keiner Seite bestritten worden. Insbesondere kann der Beratung nicht
entnommen werden, dass der Begriff der Verführung nach dem Willen des
historischen Gesetzgebers eng ausgelegt werden sollte. Gegen die Aufnahme
dieses Ausdruckes wurden im Gegenteil Bedenken laut, und es herrschte
offensichtlich die Meinung vor, dass die Entscheidung darüber, was unter
Verführung zu verstehen sei, dem Richter zu überlassen sei, was übrigens
auch LUCK, auf dessen Aufsatz (SJZ 1955 S. 84) sich der Beschwerdeführer
beruft, ausdrücklich anerkennt. Auch HAFTER, dessen Abhandlung über
Homosexualität den Gang der Gesetzesberatung entscheidend beeinflusst
hat, setzte nicht voraus, dass der Jugendliche dem Verführer aktiven
oder ausdrücklichen Widerstand entgegengesetzt haben müsse, sondern er
erachtete die Verführung schon dann als gegeben, wenn "der Jugendliche der
Initiative und den Einwirkungen des Täters erlegen ist" (ZStR 1929 S. 66).

    Der weitere Einwand, dass die in den romanischen Gesetzestexten
anstelle von "séduire" und "sedurre" verwendeten Ausdrücke "induire" und
"indurre" im Gesetze nicht einheitlich gebraucht würden und deshalb für
die Auslegung des Verführungsbegriffes ungeeignet seien, ist bereits
in BGE 85 IV 223 als unzutreffend abgelehnt worden. Der Begriff des
Verführens braucht nicht bei allen Tatbeständen, wo er Verwendung findet,
inhaltlich übereinzustimmen, sondern es muss der wahre Sinn dieses ohnehin
nicht eindeutigen Wortes in jedem Einzelfall auf dem Wege der Auslegung
ermittelt werden, weshalb z.B. die Auslegung des Art. 213 Abs. 3 StGB
nicht ohne weiteres auf Art. 194 Abs. 1 übertragbar ist, ganz abgesehen
davon, dass in Art. 213 Abs. 3 der französische und italienische Wortlaut
sich mit dem deutschen decken. Dem Beschwerdeführer kann auch nicht gefolgt
werden, wenn er aus den Worten des französischen Berichterstatters LOGOZ
("... séduite, c'est-à-dire entraînée, induite ...") ableitet, dieser
habe die in einem Atemzug aufgezählten drei Ausdrücke ohne begriffliche
Unterscheidung gebraucht und damit Verführung im eigentlichen Sinne
gemeint. Die Verwendung verschiedenartiger Ausdrücke zur Kennzeichnung
derselben Handlung lässt viel eher darauf schliessen, dass auch Logoz
nur eine abgeschwächte Form der Verführung vorgeschwebt hat, wie dies
dann in den romanischen Texten zum Ausdruck gebracht worden ist.

    An der bisherigen Rechtsprechung ist daher festzuhalten. Von ihr
abzuweichen, besteht umsoweniger Anlass, als die Gefahr, dass Jugendliche
in das Treiben Homosexueller hineingezogen werden, seit Erlass des Gesetzes
zugenommen hat.

Erwägung 2

    2.- ...

Erwägung 3

    3.- Dem Beschwerdeführer ist darin zuzustimmen, dass bei
wiederholter widernatürlicher Unzucht mit einem Unmündigen nicht schon
dann ein fortgesetztes Delikt vorliegt, wenn der Täter von Anfang an
entschlossen war, den Unmündigen bei sich bietender Gelegenheit erneut
zu verführen. Ausser dem generellen Vorsatz, der in den hier in Betracht
kommenden Fällen verbindlich und daher unanfechtbar festgestellt ist,
ist weiteres Erfordernis, dass der Tatbestand des Art. 194 Abs. 1 StGB
in jedem Einzelfall auch objektiv erfüllt ist, wozu auch die Verführung
gehört. Der Beschwerdeführer macht geltend, das Kantonsgericht habe das
Vorliegen einer Verführung beim zweiten und bei den folgenden Vorfällen
nicht nachgewiesen oder nicht oder nur ungenügend überprüft, so dass er
infolgedessen jeweils nur wegen des ersten Vorkommnisses hätte bestraft
werden dürfen.

    (Zusammengefasst.) Auf einen bestimmenden Einfluss des
Beschwerdeführers ist die spätere Hingabe der Verführten nicht nur in
denjenigen Fällen zurückzuführen, in denen der Beschwerdeführer erneut
durch Geschenke, Einladungen, sexuelle Reizung usw. auf die Jugendlichen
einwirkte, um sie zur Duldung unzüchtiger Handlungen gefügig zu machen,
sondern auch dort, wo die Jugendlichen, die er unter Ausnutzung ihres
Geldstrebens jedes Mal mit einem Geldbetrag entschädigte, ihn aus eigener
Initiative aufsuchten. Die regelmässigen und in kürzeren Zeitabständen
erfolgten Zahlungen waren hier nicht nur Entgelt für die geleisteten
Dienste, sondern zugleich auch Lockmittel, um die Jugendlichen zu
veranlassen, die Beziehungen mit ihm aufrechtzuerhalten und bei künftigen
Gelegenheiten ihm neuerdings zur Unzucht zur Verfügung zu stehen. Dadurch
hat der Beschwerdeführer das Verhalten seiner unmündigen Partner stets
von neuem bestimmt und sie immer wieder verführt.