Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 IV 100



88 IV 100

28. Urteil des Kassationshofes vom 22. Oktober 1962 i.S. Merz gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen. Regeste

    Art. 125, 18 Abs. 3 StGB. Fahrlässige Körperverletzung.

    a)  Der Bahnbeamte, der bahninterne Dienstvorschriften über das Ein-
und Ausschalten des Stromes auf Freiverladegleisen verletzt, handelt
nicht nur der Bahn, sondern auch der Allgemeinheit gegenüber pflichtwidrig
(Erw. 2 a).

    b)  Fahrlässigkeit des Bahnbeamten, wenn der verunfallte Bahnbenützer
seinerseits Bahnvorschriften missachtet und sich unvorsichtig verhalten
hat (Erw. 2 b).

    c)  Adäquater Kausalzusammenhang (Erw. 3).

Sachverhalt

    A.- Am 13. Februar 1961 hatten Chauffeur Huber und die Arbeiter Krapf
und Jenny für die St. Galler Firma Schützengarten AG auf dem Güterbahnhof
St. Fiden einen mit Strohballen beladenen Güterwagen zu entladen. Nachdem
sie sich um ca. 06.30 Uhr im Güterschuppen gemeldet und erfahren hatten,
dass der Fahrstrom des Gleises B 1 ausgeschaltet und die Leitung geerdet
sei, begannen sie, die Strohballen von dem auf diesem Gleis abgestellten
offenen Güterwagen auf ein Lastauto umzuladen, und zwar in der Weise,
dass sie am einen Ende des Güterwagens die Strohballen von oben nach
unten abluden und den Rest der Ladung mit Blachen zugedeckt liessen. Als
sie etwa einen Drittel des Güterwagens geleert und damit den Lastwagen
beladen hatten, fuhren sie um 07.15 Uhr mit der ersten Fuhre weg.

    Inzwischen hatte Hans Merz seinen Dienst als Rangierarbeiter
angetreten. Er wurde von einem andern Bahnbeamten darauf aufmerksam
gemacht, dass auf Gleis B 1 Stroh abgeladen werde und dort der Strom
nicht eingeschaltet werden dürfe. Als Merz gegen 07.50 Uhr sah, dass
der Lastwagen fortgefahren und der Rest der Strohladung zugedeckt war,
glaubte er, dass keine Gefahr mehr bestehe. Er schaltete den Fahrstrom
ein und manövrierte mit dem Traktor zwei Wagen vom Gleis B 1 nach Gleis B
3. Hierauf wollte er zwei andere Wagen vom Gleis B 3 auf die Waage in Gleis
B 1 bringen. Bevor er dieses Manöver ausführte, holte er auf Wunsch eines
Bahnkunden im Gleis A 8 einen Waggon, um ihn auf Gleis B 5 zu verstellen.

    Während dieses eingeschobenen Manövers kehrte der Lastwagen der
Schützengarten AG zurück. Die Verlademannschaft nahm an, der Strom der
Leitung B 1 sei immer noch ausgeschaltet, und machte sich wieder an die
Arbeit. Als Jenny im obersten Teil der Ladung die Blachen lösen wollte, kam
er mit der unter Spannung stehenden Fahrleitung in Berührung und blieb mit
dem Rücken am Fahrdraht hängen. Als darauf der Strom sofort ausgeschaltet
wurde, fiel Jenny auf den gepflästerten Boden, wodurch er zu den erlittenen
schweren Verbrennungen auch noch am Kopf verletzt wurde. Als Folge dieses
Unfalles musste ihm das linke Bein oberhalb des Knies amputiert werden.

    B.- Das Kantonsgericht St. Gallen erklärte Merz am 4.  Juni 1962 der
fahrlässigen schweren Körperverletzung schuldig und verurteilte ihn zu
einer Busse von Fr. 100.--. Es erblickt die Fahrlässigkeit darin, dass
Merz den Strom nicht sofort wieder abstellte, als er beim ersten Manöver
mit dem Traktor das Gleis B 1 verliess.

    C.- Merz führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag, er sei
freizusprechen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Das von der Generaldirektion der SBB am 21. Februar 1925 erlassene
Reglement über die Fahrleitungsanlagen und über Massnahmen zur Verhütung
und Behebung von Störungen (R 323.2) schreibt in Abschnit B, Ziff. 8
Abs. 3, vor, dass die zu Rampen-, Schuppen- oder Freiverladegleisen
gehörenden Hörnerschalter nur kurz vor der Einfahrt eines elektrischen
Triebfahrzeuges in die betreffenden Gleise eingeschaltet werden dürfen und
dass sie sofort wieder auszuschalten sind, sobald das Triebfahrzeug wieder
ausgefahren ist; Ausnahmen sind nur in bestimmten Fällen, bei welchen
eine dauernde Ausschaltung der Hörnerschalter aus betriebstechnischen
Gründen von Nachteil ist, zulässig.

    Das Gleis B 1, auf dem sich der Unfall ereignete, ist ein
Freiverladegleis im Sinne dieser Bestimmung. Ferner steht fest, dass
Merz entgegen der Vorschrift den Strom nicht ausschaltete, als er mit
dem Traktor das Gleis B 1 verliess, um zwei Wagen nach dem Gleis B 3 zu
verschieben, obschon er für die Beendigung dieses Manövers wie auch für
den nachfolgenden Transport von zwei Wagen aus Gleis A 8 ins Gleis B 5
und zu Beginn des dritten Manövers den Strom in der Fahrleitung B 1 nicht
benötigte. Dass der Ausschaltung des Stromes betriebstechnische Gründe
entgegenstanden, wird vom Beschwerdeführer selber nicht behauptet. Er
hat daher der erwähnten Dienstvorschrift zuwidergehandelt.

Erwägung 2

    2.- Der Beschwerdeführer macht geltend, beim Reglement 323.2 handle es
sich nur um eine betriebsinterne Weisung, die Drittpersonen nicht berühre.
Die Verletzung solcher Dienstvorschriften begründe daher keine Ansprüche
Dritter, und sie genüge auch nicht, um das Bahnpersonal strafrechtlich
zur Verantwortung zu ziehen. Fahrlässigkeit könnte dem Beschwerdeführer
nur zu Last gelegt werden, wenn er das vorschriftswidrige Verhalten der
Verladearbeiter hätte voraussehen können, was nicht zutreffe.

    a) Die II. Zivilabteilung des Bundesgerichts hat in zwei
Eisenbahnhaftpflichtfällen erklärt, bahninterne Betriebsvorschriften
wie diejenige über die Ausschaltung der Hörnerschalter begründeten
gegenüber Dritten keine Pflicht, sodass diese aus deren Verletzung keine
Rechte ableiten könnten (nicht veröffentlichte Urteile i.S. Wüest c. SBB
vom 13. Dezember 1934 und i.S. Imhof c. SBB vom 13. Mai 1937). Diese
Rechtsprechung, die sich mit Schadenersatzklagen Dritter gegenüber der
SBB befasst, hindert jedoch den Strafrichter nicht, bei der Beurteilung
der strafrechtlichen Verantwortlichkeit eines Bahnbeamten, der zu
einem Unfall beigetragen hat, auch Dienstvorschriften, die einzig
das Verhalten des Bahnpersonals regeln, zu berücksichtigen. Dass dies
zulässig ist, wurde in der bisherigen Rechtsprechung als selbstverständlich
angenommen (BGE 77 IV 180, 79 IV 169, 84 IV 20 und nicht veröffentlichte
Entscheidungen). Wie der Kassationshof in BGE 77 IV 180 ausgeführt hat,
verletzt z.B. der Tramführer, der einer von der Bahn aufgestellten
Geschwindigkeitsbeschränkung zuwiderhandelt, seine Pflicht nicht nur im
Verhältnis zur Bahn, sondern allgemein, insbesondere dem Strassenbenützer
gegenüber. Ähnlich verhält es sich im vorliegenden Falle. Die Vorschriften
des Reglements 323.2 über das Ein- und Ausschalten des Stromes auf
Freiverladegleisen wurden nicht allein um der internen Ordnung willen,
sondern in erster Linie im Interesse der Allgemeinheit, insbesondere
zum Schutze der Bahnbenützer vor den Gefahren des elektrischen Stromes
erlassen, weshalb ihre Verletzung strafrechtlich nicht bedeutungslos
sein kann. Daran ändert nichts, dass interne Dienstanweisungen jederzeit
abgeändert oder aufgehoben werden können; sie sind nichtsdestoweniger
während ihrer Geltung für das Bahnpersonal in gleicher Weise verbindlich
wie Verhaltensregeln, die für das Bahnpersonal in allgemeinen Erlassen
vorgesehen sind.

    b) Richtig ist, dass nicht unbedingt jede Verletzung von
Dienstvorschriften, die zur Verletzung oder Tötung eines Menschen oder zu
einer Störung des Eisenbahnverkehrs oder -betriebes führt, den Vorwurf der
Fahrlässigkeit rechtfertigt. Art. 18 Abs. 3 StGB setzt voraus, dass die
Vorsicht, die der Täter nicht beobachtet hat, objektiv (nach den Umständen)
geboten und subjektiv (nach den persönlichen Verhältnissen) zumutbar
war und dass er die Möglichkeit des eingetretenen Erfolges vorausgesehen
(nicht berücksichtigt) hat oder hätte voraussehen (bedenken) können.

    Den Fahrleitungsdraht über dem Freiverladegleis B 1 unter Strom zu
setzen, war gefährlich, weil Freiverladegleise von Bahnkunden benützt
werden und der Beschwerdeführer vor seinem Dienstantritt festgestellt
hat, dass ein offener Strohwagen entladen wurde. Um bei solchen
Verladearbeiten Starkstromunfälle zu verhüten, stehen Fahrleitungen
über Freiverladegleisen in der Regel nicht unter Strom (Ziff. 2 der
Vorschriften der SBB-Generaldirektion vom 21. Oktober 1941 betreffend
Verhütung von Starkstromunfällen bei Verladearbeiten) und ist dieser,
wenn das Gleis durch ein elektrisches Triebfahrzeug befahren werden muss,
sofort nach dessen Ausfahrt aus dem Gleise wieder auszuschalten (R 323.2
Abschnitt B Ziff. 8 Abs. 3). Von dieser Vorschrift abzugehen, deren Zweck
auch dem Beschwerdeführer als verantwortlicher Rangierarbeiter klar war,
bestand kein Anlass. Merz selber vermag keine Gründe dafür anzugeben,
dass die sofortige Ausschaltung des Stromes zu Unzukömmlichkeiten geführt
hätte. Nach seinen eigenen Aussagen wusste er überdies schon bei der
Ausfahrt des Traktors aus Gleis B 1, dass er nach Beendigung des ersten
Manövers noch zwei weitere auszuführen hatte und erst am Schluss des
dritten den Fahrleitungsdraht über Gleis B 1 wieder benötigte. Unter
diesen Umständen drängte sich die vorgeschriebene Sicherungsmassnahme
auf. Von ihr abzusehen war auch nicht mit Rücksicht darauf gerechtfertigt,
dass die Bahnkunden ihrerseits zur Vorsicht verpflichtet sind, namentlich
vor Beginn des Verlades und nach jedem vorübergehenden Unterbruch der
Verladearbeiten beim zuständigen Bahnpersonal eine ausdrückliche Erlaubnis
zum Besteigen der Güterwagen einzuholen haben (Ziff. 107 Abs. 2 der
Güterbeförderungsvorschriften). Diese Verpflichtung ist derjenigen,
die das Bahnpersonal zum Schutze der Bahnkunden zu befolgen hat, nicht
übergeordnet, sondern sie besteht selbständig neben dieser, sodass die
Missachtung der einen zum vornherein nicht mit dem Hinweis auf das Bestehen
einer doppelten Sicherung entschuldigt werden kann; andernfalls würde
der Wert einer mehrfachen Sicherung zum voraus in Frage gestellt. Der
Beschwerdeführer durfte daher nicht einzig im Vertrauen darauf, die
Verladearbeiter würden die ihnen obliegenden Verhaltungsmassregeln
befolgen, auf die Erfüllung seiner eigenen Pflichten verzichten. Dies
war umso weniger zulässig, als es, wie er selber erklärt, nicht selten
vorkommt, dass das Personal der Bahnkunden die sie betreffenden Weisungen
der Bahn nicht oder nicht genügend beachtet, sei es, weil es z.B. die
Gefahr, bei den auszuführenden Arbeiten mit dem Starkstrom in Berührung zu
kommen, verkennt oder unterschätzt, sei es, weil es z.B. vom Arbeitgeber
nicht oder nicht eindrücklich genug über die einzuhaltenden Vorschriften
unterrichtet wurde. Der Beschwerdeführer, der die Verlademannschaft
des in Frage stehenden Strohwagens nicht kannte und nicht sicher war,
ob sie den Arbeitsunterbruch gemeldet hatte und wie lange dieser dauern
werde, hatte unter diesen Umständen mit der Möglichkeit zu rechnen, dass
die Arbeiter vor der Wiederausschaltung des Stromes zurückkehren und die
Verladearbeit wieder aufnehmen könnten, ohne dass sie vorher eine neue
Erlaubnis hiezu einholten. Nach der für den Kassationshof gemäss Art. 277
bis Abs. 1 BStP verbindlichen und deshalb nach Art. 273 Abs. 1 lit. b nicht
anfechtbaren tatsächlichen Feststellung des Kantonsgerichts war sich Merz
der Gefahr, die dadurch entstand, dass er nach der Ausfahrt des Traktors
aus Gleis B 1 nicht sofort den Strom wieder ausschaltete, auch bewusst. Ob
er voraussehen konnte, dass sich die Ereignisse genau so abspielen würden,
wie sie sich tatsächlich zugetragen haben, ist unerheblich; es genügt,
dass er sich der Möglichkeit der Verletzung eines der Verladearbeiter
als Folge der Nichtausschaltung des Stromes bewusst war (vgl. BGE 79
IV 170/1). Der Beschwerdeführer hat sich demnach, indem er trotz dieses
Bewusstseins die objektiv gebotene und ihm zumutbare Ausschaltung des
Stromes unterliess, fahrlässig verhalten.

Erwägung 3

    3.- Das pflichtwidrige Verhalten des Beschwerdeführers war,
wie feststeht, eine der natürlichen Ursachen der eingetretenen
Körperverletzung. Dieser Kausalzusammenhang war auch rechtserheblich,
denn das Nichtausschalten des Stromes in der zum Freiverladegleis B 1
gehörenden Fahrleitung, die nur ausnahmsweise unter Spannung steht, schloss
nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge die Gefahr in sich, dass Bahnkunden
oder deren Arbeiter beim Verladen eines Güterwagens mit der Fahrleitung
in Berührung kommen und Verletzungen der eingetretenen Art erleiden
konnten. Dass Jenny und seine Begleiter ebenfalls unvorsichtig waren und
damit selber zum Unfall beigetragen haben, ist unerheblich. Die Adäquanz
des Kausalzusammenhangs zwischen der Unvorsichtigkeit des Beschwerdeführers
und dem eingetretenen Erfolg wäre nur dann ausgeschlossen, wenn die von
den Verladearbeitern gesetzte Mitursache derart unsinnig gewesen wäre,
dass sie ausserhalb normalen Geschehens läge (BGE 86 IV 155 ff., 87 IV 65,
159). Dies ist nicht der Fall. Dass Bahnbenützer den Bahnvorschriften aus
Unkenntnis, Vergesslichkeit, Leichtsinn oder dergleichen nicht nachleben
und sich dadurch den Gefahren des Bahnbetriebes wie derjenigen des
elektrischen Stromes aussetzen, ist nichts Ungewöhnliches. Gerade weil
erfahrungsgemäss mit solchem Verhalten gerechnet werden muss, ist zum
Schutze der Bahnkunden im Reglement 323.2 die erwähnte Bestimmung über
das Ausschalten des Stromes durch das Bahnpersonal aufgestellt worden. Die
Unvorsichtigkeit der Verlademannschaft war unter den gegebenen Umständen
kein so aussergewöhnliches Ereignis, dass es objektiv, nach allgemeiner
Lebenserfahrung (BGE 87 IV 159/160, 87 II 128), nicht hätte erwartet werden
können. Dass sich der Unfall wahrscheinlich auch ereignet hätte, wenn die
Verlademannschaft früher, schon im Verlaufe des ersten Rangiermanövers,
zurückgekehrt wäre, ist ohne Belang, da es nicht darauf ankommt, auf
welchem andern Gleis sich der Beschwerdeführer aufhielt, als Jenny auf
Gleis B 1 den Güterwagen bestieg, sondern entscheidend ist, dass der
Beschwerdeführer nicht den Strom ausschaltete, als der Traktor das Gleis
B 1 verliess.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.