Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 II 405



88 II 405

57. Urteil der II. Zivilabteilung vom 22. November 1962 i.S. Bezirksrat
Zürich gegen Z. Regeste

    Entmündigung gemäss Art. 370 ZGB.

    Langjähriges gewohnheitsmässiges Delinquieren stellt lasterhaften
Lebenswandel im Sinne von Art. 370 ZGB dar.

    Sind Grund und Voraussetzungen zu daheriger Bevormundung gegeben, so
wird diese durch bereits bestehende strafrechtliche Vorbeugungsmassnahmen -
bedingte Entlassung mit Schutzaufsicht, Androhung der Verwahrung - nicht
überflüssig gemacht.

Sachverhalt

    A.- M. Z., geb. 1924, wurde nach einer harten Jugend in sozial
ungünstigen Verhältnissen und sehr mangelhafter Erziehung schon mit 17
Jahren wegen Diebstahls straffällig und kam in eine Erziehungsanstalt
(1941), hielt sich in der Folge in keiner Stelle dauernd und zog sich
in den Jahren 1943, 1949 und 1950 wegen Eigentumsdelikten kürzere
Freiheitsstrafen zu, ferner 1951 in B. wegen Nötigung, Körperverletzung
und Freiheitsberaubung, zusammen mit seinem Bruder begangen, sowie
Diebstahls 1 3/4 Jahre Gefängnis. Nach einigen Jahren unsteter Betätigung
in verschiedenen Branchen folgten 1955 in L. eine neue Gefängnisstrafe von
6 Monaten wegen wiederholten Diebstahls etc., 1958 und 1959 in A. Strafen
wegen Verkehrsvergehens und im Dezember 1960 als Nr. 9 des Strafregisters
die Verurteilung durch das Obergericht Z. zu 22 Monaten Gefängnis wegen
banden- und gewerbsmässigen Diebstahls.

    Nach dieser Straftat beantragte die Vormundschaftsbehörde der Stadt
Zürich dem Bezirksrat nur die Entmündigung wegen Freiheitsstrafe gemäss
Art. 371 ZGB und wollte von einer solchen gemäss Art. 370 ZGB absehen,
unter Androhung mehrjähriger Verwahrung bei neuerlichem Delinquieren. Der
Bezirksrat Zürich erachtete jedoch eine Entmündigung wegen lasterhaften
Lebenswandels gemäss Art. 370 ZGB für begründet und sprach sie aus. Zufolge
Opposition des Interdizenden erhob der Bezirksrat Klage auf Bestätigung
seiner Massnahme.

    Mit Urteil vom 7. Dezember 1961 wies das Bezirksgericht Zürich die
Klage ab, ebenso das Obergericht Zürich mit Urteil vom 20. März 1962. Es
bejahte einen lasterhaften Lebenswandel und die Führungsbedürftigkeit des
Interdizenden und hielt eine Notstands- und Verarmungsgefahr für möglich,
war jedoch der Auffassung, es sei dem Schutz- und Führungsbedürfnis
des Beklagten bereits hinlänglich Rechnung getragen, da angesichts
seiner guten Vorsätze, seines guten Betragens in der Strafanstalt,
des günstigen Einflusses der Ehefrau, des ihm durch sie und die Kinder
gebotenen Haltes die Rückfallsgefahr geringer geworden sei und er nach
bedingter Entlassung mit dreijähriger Probezeit unter Schutzaufsicht
gestellt worden sei. Von der Begehung ähnlicher Delikte könnte der
Interdizend durch eine Vormundschaft nicht abgehalten werden, denn auch
der eifrigste Vormund könne sein Mündel nicht ununterbrochen bewachen. Die
Drohung mit der Verwahrungsanstalt werde sich als viel wirksameres Mittel
erweisen. Seine leichte Beeinflussbarkeit dürfte sich auch im guten Sinne
auswirken; er habe Vertrauen zu seinem Schutzaufsichtsbetreuer gefasst
und sich in beruflicher Hinsicht stark eingesetzt. Es sei höchst fraglich,
ob ein Vormund mehr ausrichten könnte. Nachdem das Obergericht auch die
Entmündigung des weit stärker belasteten Bruders und Mitdelinquenten
W. abgelehnt habe, rechtfertige es sich, dem Beklagten nochmals eine
Chance zu geben. Wohl bestehe keine völlige Sicherheit, dass er das in
ihn gesetzte Vertrauen nicht missbrauchen werde; doch müsse in einem
solchen Zweifelsfall zu seinen Gunsten entschieden werden, zumal keine
Anhaltspunkte ersichtlich seien, dass er sich dem Einfiuss des Betreuers
zu entziehen trachte oder eine Besserung nur simuliere. Der Beklagte müsse
sich auch bewusst sein, dass ihm bei nochmaligem Versagen nicht nur die
Entmündigung nach Art. 370 ZGB, sondern die mehrjährige Verwahrung drohe.

    B.- Mit der vorliegenden Berufung beantragt der Bezirksrat Zürich,
es sei sein Entmündigungsbeschluss zu bestätigen und dem Interdizenden
die elterliche Gewalt gegenüber den Kindern zu entziehen. Er hält daran
fest, das langdauernde Delinquieren, das auf einer Neigung des Charakters
beruhe, stelle lasterhaften Lebenswandel im Sinne des Art. 370 ZGB dar,
und dieser habe im Zeitpunkt des Entmündigungsbeschlusses des Bezirksrats
(3. März 1961) angedauert; der seitherige Verlauf sei unerheblich.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Vorinstanzen weichen in der Qualifikation der bisherigen
Lebensführung des Interdizenden im Grunde von der Auffassung des
Bezirksrates und der Vormundschaftsbehörde nicht wesentlich ab, wohl
aber bezüglich der praktischen Zweckmässigkeit und Notwendigkeit der
streitigen Massnahme. Als lasterhaft hat nach der Rechtsprechung zu
Art. 370 ZGB jedes Verhalten zu gelten, das in erheblichem Masse gegen
die Rechtsordnung oder die guten Sitten verstösst. Für die Annahme, dass
der Lebenswandel lasterhaft sei, genügt eine einzelne Verfehlung nicht,
sondern es muss sich um ein fortgesetztes, gewohnheitsmässiges Verhalten
der erwähnten Art handeln, von dem anzunehmen ist, dass es auch in Zukunft
andauern würde, wenn keine vormundschaftlichen Massnahmen ergriffen würden
(BGE 88 II 402 und dortige Zitate).

    Mit einem solchen Falle hat man es hier zu tun. Die zahlreichen
Verurteilungen haben nicht vermocht, den Interdizenden dauernd zu bessern,
jedenfalls wird dies durch die letzte, klaglos verlaufene Zeit noch nicht
bewiesen. Auch die Entmündigungsvoraussetzungen sind gegeben. Bei weiterem
Delinquieren wäre mit neuen Freiheitsstrafen und der Schädigung oder
Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz zu rechnen. Ein Bedürfnis nach
persönlicher Betreuung und Überwachung besteht nicht nur im Interesse
der Vermeidung wirtschaftlicher Nachteile, sondern auch im Hinblick
auf die Bewahrung der Persönlichkeit vor dem moralischen und sozialen
Niedergang. Endlich wurden durch die Vermögensdelikte immer auch Dritte
geschädigt.

Erwägung 2

    2.- Die Vorinstanzen lehnen die Entmündigung ab, weil die bereits
bestehenden strafrechtlichen Vorbeugungsmassnahmen - Schutzaufsicht und
Androhung der Verwahrung - den erwähnten Zwecken genügten und ein Vormund
kaum grössere Wirkungsmöglichkeiten hätte, die Bevormundung mithin auf
eine Zweispurigkeit der Massnahmen hinausliefe.

    Freilich bestand zur Zeit der Einführung des ZGB mit seinem
Bevormundungsgrund des Art. 370 das Schweizerische Strafgesetzbuch mit
seinen Präventivmassnahmen der Verwahrung, der bedingten Entlassung bei
Freiheitsstrafen und der Schutzaufsicht noch nicht. Es fragt sich daher
in der Tat, ob diese Massnahmen das Anwendungsgebiet des Art. 370 ZGB,
soweit dauerndes Delinquieren darunter fällt, eingeschränkt haben. Dies
ist indessen zu verneinen. Die Vormundschaft ist in ihren Wirkungen
umfassender, ergreift die ganze Persönlichkeit des Mündels und gibt
dem Vormund weitgehende Eingriffsmöglichkeiten (Art. 406, 407, 412
ZGB). Mit Bezug auf alle Bevormundungsgründe hat die Rechtsprechung
immer angenommen, dass bei gegebenen Voraussetzungen die Entmündigung
ausgesprochen werden muss, auch wenn die Schutz- und Fürsorgeaufgabe
z.B. von Angehörigen aus freien Stücken besorgt wird (BGE 50 II 437);
die Vormundschaft wird also nicht durch anderweitige Wahrung ihrer
Zwecke überflüssig gemacht. Ferner wurde - allerdings mit Bezug auf
die Entmündigung gemäss Art. 369 ZGB - wiederholt entschieden, dass bei
gegebenem Bevormundungsgrund die Entmündigung auszusprechen ist, selbst
wenn diese Massnahme den Geisteszustand ungünstig beeinflussen kann,
dass also psychotherapeutische Rücksichten keine Rolle spielen sollen
(Urteile vom 24. März 1959 i.S. Bossart, vom 4. April 1959 i.S. Ruf,
vom 13. September 1960 i.S. Zürcher). Ebensowenig vermag eine unter der
Drohung des Entmündigungsverfahrens eingetretene momentane Besserung
eines Interdizenden der Entmündigung (nach Art. 370 ZGB) den Boden zu
entziehen; und wenn eine Bewährungsfrist als wünschbar erscheint, so ist
nicht deswegen die Entmündigung zu unterlassen oder zu verschieben, sondern
die Bewährungsprobe ist unter bestehender Vormundschaft zu bestehen (BGE 86
II 6, 85 II 461; Urteile vom 28. März 1961 i.S. Stierli, vom 14. April 1961
i.S. Schneider). Wenn selbstverständlich in jedem konkreten Fall bei der
Beurteilung der Notwendigkeit und Zweckmässigkeit einer Bevormundung das
Bestehen strafrechtlicher Präventiv- und Fürsorgemassnahmen berücksichtigt
werden kann, so soll doch das zivilrechtliche Institut nicht zu bloss
subsidiärer Geltung zurückgedrängt werden. Wie der Bezirksrat zutreffend
ausführt, stehen dem Vormund, wenn er seinen Schutzbefohlenen auch nicht
vor jedem Rückfall bewahren kann, doch viele Einflussmöglichkeiten zur
Verfügung, um die moralische Aufrichtung und soziale Wiedereingliederung
des Bevormundeten zu erleichtern und zu fördern. Im vorliegenden Falle hat
übrigens die Vormundschaftsbehörde nicht die Bestellung eines überlasteten
Amtsvormundes, sondern eines besonders ad hoc ausgesuchten Vormundes in
der Person eines ehemaligen Beamten des Fürsorgeamtes in Aussicht genommen,
der sowohl die Erfahrung als auch die Zeit zu individueller Betreuung des
Mündels haben soll. Auch bleibt grundsätzlich immer noch die Möglichkeit,
die Vormundschaft der Ehefrau zu übertragen (vgl. Prof. MERZ in ZSR NF
Band 81 I S. 34 ff.). Jedenfalls sind in casu die Konflikte, die aus
einer partiellen Doppelspurigkeit der Massnahmen entstehen könnten, nicht
derart, dass die Ordnung des ZGB als zum Teil überholt und überflüssig
zurückzutreten hätte. Es ist daher dem Begehren der antragstellenden
Behörden stattzugeben und die Bevormundung, für welche die gesetzlichen
Voraussetzungen zweifellos gegeben sind, auszusprechen.

    Die Bevormundung hat den Entzug der elterlichen Gewalt von Gesetzes
wegen zur Folge (Art. 285 Abs. 1 ZGB).

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, das angefochtene Urteil aufgehoben
und in Bestätigung des Beschlusses des Bezirksrats Zürich vom 3. März
1961 der Berufungsbeklagte wegen lasterhaften Lebenswandels gestützt
auf Art. 370 ZGB entmündigt und ihm die elterliche Gewalt über seine
Kinder ..... entzogen.