Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 II 400



88 II 400

56. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 8. November 1962
i.S. D. gegen Bezirksrat Zürich. Regeste

    Entmündigung wegen lasterhaften Lebenswandels (Art. 370 ZGB). Begriff
desselben. Einordnung des Falles, dass das Verhalten der zu entmündigenden
Person einen dauernden Hang zur Kriminalität zeigt. Gefährdung der
Sicherheit Anderer durch Vermögensdelikte. Ist von der Entmündigung
abzusehen, weil sie wegen ablehnender Einstellung des zu Entmündigenden
keinen Erfolg verspricht oder weil eine mildere Massnahme ausreicht? Sind
bei einer zu einer längern Freiheitsstrafe verurteilten Person die
Voraussetzungen für die Entmündigung nach Art. 370 ZGB gegeben, so ist
diese Bestimmung und nicht Art. 371 ZGB anzuwenden.

Sachverhalt

    D. wurde am 21. November 1957 vom Obergericht des Kantons Zürich
wegen Gehilfenschaft zu einem Abtreibungsversuch, wiederholten Betrugs,
wiederholter Urkundenfälschung, Betrugsversuchs und Veruntreuung zu einem
Jahr Gefängnis verurteilt. Der bedingte Strafvollzug wurde ihm verweigert,
weil er seine deliktische Tätigkeit während der Strafuntersuchung
fortgesetzt hatte. Die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich betrachtete
auf Grund der ihr übermittelten Strafakten die Voraussetzungen einer
Entmündigung wegen lasterhaften Lebenswandels an sich als gegeben,
begnügte sich aber mit einer Verwarnung, da D. bei seiner Einvernahme
vom 21. August 1958 Einsicht zeigte und Besserung versprach.

    Am 25. August 1958 aus der Strafhaft entlassen, versah D. am
14. November 1959 ein seiner Arbeitgeberin entwendetes Postcheckformular,
in das er den Betrag von Fr. 14'214.-- einsetzte, mit der nachgeahmten
Unterschrift seines Chefs und löste den Check ein. Den ihm ausbezahlten
Betrag verwendete er für sich. Wegen dieser Tat verurteilte ihn
das Schwurgericht des Kantons Zürich am 6. Mai 1961 zu zwei Jahren
Gefängnis. Die Vormundschaftsbehörde der Stadt Zürich verhörte ihn
darauf am 8. und 28. August 1961. Am 8. September 1961 beantragte sie dem
Bezirksrat die Entmündigung gemäss Art. 371 ZGB (wegen Freiheitsstrafe)
in der Meinung, die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 370 ZGB
seien zwar erfüllt, doch sei es, da D. zur Zeit ganz uneinsichtig sei,
aus psychologischen Gründen ratsam, erst im Herbst 1962 in Kenntnis der
Wirkungen des Strafvollzugs zu prüfen, ob weitere vormundschaftliche
Massnahmen zu treffen seien. Der Bezirksrat Zürich sprach jedoch am
15. September 1961 die Entmündigung gemäss Art. 370 ZGB wegen lasterhaften
Lebenswandels aus.

    D. verlangte am 6. Oktober 1961 gerichtliche Entscheidung über
seine Entmündigung. Die hierauf vom Bezirksrat eingereichte Klage auf
Entmündigung gemäss Art. 370 ZGB wurde vom Bezirksgericht Zürich am
8. März 1962 abgewiesen, weil diese - objektiv zwar gerechtfertigte -
Massnahme namentlich wegen der ablehnenden Einstellung D.s den erhofften
Erfolg nicht erzielen, sondern nachteilig wirken würde.

    Das Obergericht des Kantons Zürich, an das der Bezirksrat appellierte,
hat dagegen mit Urteil vom 22. Juni 1962 den Entmündigungsbeschluss des
Bezirksrats bestätigt.

    Das Bundesgericht weist die Berufung D.s ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- In der Sache selbst bestreitet der Berufungskläger mit Recht
nicht, dass seine Entmündigung wegen lasterhaften Lebenswandels im Sinne
von Art. 370 ZGB als gerechtfertigt erscheint, wenn auf die tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz abgestellt wird, wie dies nach Art. 63
Abs. 2 OG zu geschehen hat.

    a) Als lasterhaft hat nach Rechtsprechung und Lehre zu Art. 370 ZGB
nicht nur ein unmoralisches Verhalten in geschlechtlicher Beziehung,
sondern jedes Verhalten zu gelten, das in erheblichem Masse gegen
die Rechtsordnung oder die guten Sitten verstösst. Für die Annahme,
dass der Lebenswandel lasterhaft sei, genügt eine einzelne Verfehlung
nicht, sondern es muss sich um ein fortgesetztes, gewohnheitsmässiges
Verhalten der erwähnten Art handeln, von dem anzunehmen ist, dass es auch
in Zukunft andauern würde, wenn keine vormundschaftlichen Massnahmen
ergriffen würden (BGE 69 II 18, 83 II 275; EGGER, 2. Aufl., N. 45 und
46, und KAUFMANN, 2. Aufl., N. 23 und 24 zu Art. 370 ZGB; KEEL, Die
Bevormundungsfälle, in "Das Vormundschaftsrecht", Veröffentlichungen
der schweiz. Verwaltungskurse an der Handelshochschule St. Gallen,
Band 1, S. 36; SUTER, Verschwendung, Misswirtschaft, Trunksucht und
lasterhafter Lebenswandel als Entmündigungsgründe, S. 60 f.). Mit einem
solchen Falle hat man es hier zu tun. In den Jahren 1955 bis 1957 hat der
Berufungskläger immer wieder gegen das Strafgesetz verstossen. Während
der Strafuntersuchung, die wegen seiner ersten Vergehen gegen ihn eröffnet
wurde, hat er sich nicht gebessert, sondern zahlreiche weitere Straftaten
begangen. Die erste Verurteilung hielt ihn nicht davon ab, rückfällig
zu werden, und selbst die zweite Bestrafung hat bei ihm offenbar keine
Sinnesänderung bewirkt; hatte er doch die Stirn, noch am 28. August 1961,
bei der zweiten Vernehmung durch die Vormundschaftsbehörde im vorliegenden
Verfahren, jede Schuld zu bestreiten und zu erklären, das Urteil des
Schwurgerichts sei für ihn unverständlich. Sein Verhalten während der
letzten Jahre zeigt also einen dauernden Hang zur Kriminalität. Die
Vorinstanz hat ihm daher zu Recht einen lasterhaften Lebenswandel im
Sinne von Art. 370 ZGB vorgeworfen.

    b) Ein Verhalten, das unter Art. 370 ZGB fällt, kann nach dieser
Bestimmung die Entmündigung nur rechtfertigen, wenn die betreffende
Person sich oder ihre Familie dadurch der Gefahr eines Notstandes oder
der Verarmung aussetzt, zu ihrem Schutze dauernd des Beistandes und der
Fürsorge bedarf oder die Sicherheit Anderer gefährdet. Von diesen drei
Voraussetzungen (die nicht zugleich erfüllt sein müssen) ist hier auf
jeden Fall die zuletzt genannte gegeben. Durch seine Vergehen gefährdet
der Berufungskläger das Vermögen Dritter und damit die Sicherheit Anderer
(EGGER N. 51 z. Art. 370 ZGB). Es braucht daher nicht geprüft zu werden, ob
die aus den Delikten entstehende Pflicht, den Geschädigten Schadenersatz zu
leisten und die Kosten der Strafverfahren zu bezahlen, den Berufungskläger
der Gefahr eines Notstandes oder der Verarmung aussetze, wie die Vorinstanz
dies ausserdem angenommen hat.

    c) Die Entmündigung nach Art. 370 ZGB ist nur dann sinnvoll,
wenn dadurch dem Entmündigungsgrund oder wenigstens seinen Folgen
entgegengetreten werden kann und andere, weniger einschneidende Massnahmen
nicht genügen (BGE 46 II 211 E. 4, 69 II 19 E. 3). Das Obergericht hat
dies nicht verkannt. Es durfte sehr wohl annehmen, dass ein Vormund beim
Berufungskläger trotz der ablehnenden Einstellung, die er zur Zeit noch
an den Tag legt, durch geeignete Betreuung und Beeinflussung (Ermutigung
zur Arbeit, Kontrolle der Verwendung der Freiheit usw.) eine Wendung
zum Bessern anbahnen könne. Zur Erfüllung dieser Aufgabe erscheint die
mit dem Amt eines Vormundes verbundene Autorität als unerlässlich; ein
blosser Berater wäre von vornherein nicht in der Lage, den Berufungskläger
vor einem neuen Rückfall zu bewahren (vgl. hiezur MAGET, Le choix de la
mesure tutélaire adéquate dans les cas des art. 369 à 372 CC, S. 161). Die
Betrachtungsweise der Vormundschaftsbehörde und des Bezirksgerichts,
welche die Entmündigung nach Art. 370 ZGB im Ergebnis von der Zustimmung
des zu Entmündigenden abhängig macht, ist mit dem Wortlaut und dem Sinne
des Gesetzes unvereinbar. Wenn der Berufungskläger nach seiner Entlassung
aus der Strafanstalt Schwierigkeiten haben wird, sich wieder in das
Erwerbsleben und die menschliche Gesellschaft einzugliedern, so wird
dies nicht auf die Entmündigung, sondern vor allem auf seine Vorstrafen
zurückzuführen sein.

    d) Der Umstand, dass für den zu zwei Jahren Gefängnis verurteilten
Berufungskläger der Entmündigungsgrund von Art. 371 ZGB zutrifft, steht
der Anwendung von Art. 370 ZGB nicht entgegen. Sind bei einer zu einer
längern Freiheitsstrafe verurteilten Person die Voraussetzungen für eine
Entmündigung nach Art. 370 ZGB gegeben, so ist sie nach dieser Bestimmung
und nicht nach Art. 371 ZGB zu entmündigen; denn eine solche Person
bedarf eines Vormundes vor allem auch nach der endgültigen Entlassung
aus der Strafhaft, in welchem Zeitpunkt eine auf Grund von Art. 371 ZGB
angeordnete Vormundschaft gemäss Art. 432 ZGB ohne weiteres aufhört,
so dass bei Konkurrenz von Art. 370 und 371 diese letztere Bestimmung
zurückzutreten hat (vgl. MAGET aaO S. 169; SPECKER, Der Strafverhaft als
Entmündigungsgrund, ZSR 1946 S. 307; SPITZER'Zur Anwendung von Art. 371
ZGB, SJZ 1946 S. 10 oben; vgl. KAUFMANN N. 27 zu Art. 370 ZGB).