Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 II 364



88 II 364

50. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabtellung vom 11. September 1962
i.S. Neuchemie, Neuenschwander & Co., gegen Poll und Mitbeteiligte.
Regeste

    Kauf, Mängelrüge, Prüfungsort. Art.201 OR

    Zweck der Bestimmungen über die Gewährleistung (Erw. 2).

    Die Prüfung hat grundsätzlich am Ablieferungsort zu erfolgen (Erw. 3).

    Ein anderer Prüfungsort kann sich ergeben

    - kraft Parteivereinbarung (Erw. 4);

    - aus dem "üblichen Geschäftsgang" (Erw. 5);

    - aus dem Zweck der Vorschriften über die Mängelrüge (Erw. 6).

Auszug aus den Erwägungen:

    1. ... Die Klägerin (die Firma Neuchemie) macht geltend, die Annahme
des Obergerichts Nidwalden, dass Basel der Empfangs- und Prüfungsort der
gelieferten Ware (1000 kg Novalgin) gewesen und die Mängelrüge verspätet
erhoben worden sei, verstosse gegen Art. 201 OR.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 201 OR soll der Käufer, sobald es nach dem üblichen
Geschäftsgang tunlich ist, die Beschaffenheit der empfangenen Sache prüfen
und, falls sich Mängel ergeben, für die der Verkäufer Gewähr zu leisten
hat, diesem sofort Anzeige machen. Versäumt dies der Käufer, so gilt die
gekaufte Sache als genehmigt, soweit es sich nicht um Mängel handelt,
die bei übungsgemässer Untersuchung nicht erkennbar waren.

    Diese Vorschriften sind im Interesse der Verkehrssicherheit beim
Kaufgeschäft aufgestellt und bezwecken eine rasche Klarstellung der
tatsächlichen und rechtlichen Verhältnisse. Der Verkäufer soll möglichst
rasch Gewissheit darüber erhalten, ob die Ware genehmigt worden ist, und es
soll ihm von Beanstandungen so rechtzeitig Kenntnis verschafft werden, dass
er sich durch eigene Prüfung ein Urteil über die Begründetheit der Rüge
bilden kann. Der Käufer soll sich über die Bemängelung rasch entscheiden
müssen, um missbräuchliche Ausnützung von Konjunkturschwankungen zu
Lasten des Verkäufers zu verhüten (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 22, BECKER,
N. 1, je zu Art. 201 OR).

Erwägung 3

    3.- Für den Entscheid über die Rechtzeitigkeit der von der Klägerin
am 23. Februar 1955 erhobenen Mängelrüge ist die Frage des Prüfungsortes
von massgebender Bedeutung. Ist gemäss der Auffassung der Vorinstanz
Basel als Prüfungsort zu betrachten, wo die Verkäuferin (die Digitapol
AG), die Ware in zwei Teilsendungen vom 6. Dezember 1954 und 22. Januar
1955 dem Spediteur der Klägerin ablieferte, so war die Mängelrüge der
Klägerin verspätet. Das bestreitet auch die Klägerin nicht. Sie begründet
ihren Standpunkt, die Mängelrüge sei rechtzeitig erfolgt, ausschliesslich
damit, Prüfungsort sei nicht Basel, sondern Buenos Aires gewesen, wohin
sie die Ware durch ihren Spediteur an ihre Abnehmerin hatte weiterleiten
lassen. Dass eine Prüfung der Ware erst in Buenos Aires stattfand, ist
nicht streitig.

    a) Art. 201 OR knüpft die Prüfung an den Empfang der Ware. Das
Gegenstück hiezu bildet auf seiten des Verkäufers deren Ablieferung. Daher
fällt der Prüfungsort in der Regel mit dem Ablieferungsort zusammen. Dieser
befindet sich dort, wo die Verfügungsgewalt über die Sache vom Verkäufer
an den Käufer übergeht, so dass dieser in die Lage versetzt wird, die
Beschaffenheit der Ware selber zu prüfen oder durch einen Dritten prüfen
zu lassen (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 19, und BECKER, N. 2, je zu Art. 201 OR).

    b) Ablieferungsort war im vorliegenden Falle unzweifelhaft
Basel. Dorthin hat die Digitapol AG die Ware transportiert und auf Weisung
der Klägerin der von dieser beauftragten Basler Lagerhausgesellschaft
ausgehändigt. Damit war der Gewahrsam der Lieferantin an der Ware
dahingefallen; sie hatte sich nicht mehr weiter um diese zu kümmern
und sich insbesondere nicht mit deren Weitertransport zu befassen.
Vielmehr war mit der Ablieferung an die von der Klägerin beauftragte
Lagerhausgesellschaft die Verfügungsgewalt über die Ware auf die Klägerin
übergegangen und diese auch tatsächlich in die Lage versetzt, über die
Ware zu verfügen. Damit hatte sie diese im Sinne des Gesetzes "empfangen"
(OSER/SCHÖNENBERGER, Art. 201 OR N. 19).

    c) Damit ist jedoch noch nicht entschieden, dass im vorliegenden Falle
Basel auch als Prüfungsort anzusehen sei. Die Regel, wonach Ablieferungs-
und Prüfungsort zusammenfallen, lässt im Einzelfalle Ausnahmen zu. So folgt
aus der dispositiven Natur der Vorschriften über die Mängelrüge, dass die
Parteien einen andern als den Ablieferungsort als Prüfungsort bestimmen
können. Ferner kann sich eine Abweichung vom normalen Prüfungsort aus
der Vorschrift ergeben, dass die Untersuchung der Ware durch den Käufer
zu erfolgen habe, "sobald es nach dem üblichen Geschäftsgang tunlich
ist". Ebenso kann der Zweck der Prüfung, der in der raschen Klarstellung
der Verhältnisse besteht, eine Ausnahme von der Regel rechtfertigen
(OSER/SCHÖNENBERGER, OR Art. 201 N. 21).

    Es ist daher zu prüfen, ob hier derartige Gründe vorliegen, die ein
Abgehen von der Regel, wonach der Ablieferungsort als Prüfungsort zu
gelten hat, als geboten erscheinen lassen.

Erwägung 4

    4.- Eine ausdrückliche Abmachung des Inhalts, dass die Ware erst in
Buenos Aires zu prüfen sei, wird von der Klägerin nicht behauptet. Dagegen
will sie aus den konkreten Umständen auf eine stillschweigende Zustimmung
der Digitapol AG zu einer Verlegung des Prüfungsortes nach Buenos Aires
schliessen. Sie weist darauf hin, dass die Digitapol AG zugestandenermassen
wusste, dass die Ware nach Buenos Aires geliefert werden sollte, und
beruft sich weiter auf ein Schreiben der Lieferantin vom 29. November 1954,
in welchem diese in Bezug auf die streitige Sendung ausführte:

    "... dass wir alles in Bewegung setzen, um am 6.12.54 wenn möglich
500 kg. Novaminsulfon bei Ihrem Spediteur (Basler Lagerhausgesellschaft)
abzuliefern. Um keine Zeit zu verlieren, werden wir diese Sendung
voraussichtlich per Lastwagen nach Basel transportieren. Die Restsendung
von 500 kg. werden wir dann sobald dieses Quantum hergestellt ist ebenfalls
dort abliefern."

    Zweifellos kann sich aus den konkreten Umständen des Einzelfalles
der Schluss aufdrängen, dass sich der Verkäufer stillschweigend mit einem
andern Prüfungsort als dem Ablieferungsort einverstanden erklärt habe. Das
trifft z.B. zu, wenn der Verkäufer die Ware direkt an den Abnehmer
des Käufers liefert, so dass eine Prüfung überhaupt erst durch diesen
erfolgen kann (BECKER, OR Art. 201 N. 12; nicht veröffentl. Urteil der
I. Zivilabteilung des Bundesgerichts vom 9. Mai 1955 i.S. Wofry c. Bader).

    Im vorliegenden Falle hatte die Digitapol AG die Ware nicht an den
(ihr unbekannten) Drittabnehmer zu liefern, sondern an die Klägerin,
die sie ihrerseits durch ihren Spediteur an ihren Kunden in Argentinien
weiterleitete.

    Das Wissen der Lieferantin der Klägerin darum, dass die erste
Teilsendung eilig war und von der Klägerin bzw. deren Spediteur nach
Buenos Aires versandt werden musste, genügt für sich allein noch nicht,
um ein stillschweigendes Einverständnis mit Buenos Aires als Prüfungsort
anzunehmen. Es müssten vielmehr noch weitere besondere Umstände gegeben
sein, die diesen Schluss nahelegen würden. Solche liegen hier nicht
vor. Im Gegenteil hatte die Digitapol AG ein grosses Interesse daran,
möglichst bald zu erfahren, ob ihre Ware angenommen werde oder nicht, da
sie doch nach der Ablieferung der ersten 500 kg die Fabrikation fortsetzen
musste, um das Restquantum bereitzustellen. Die sofortige Weitersendung
der Ware durch das Basler Lagerhaus schloss keineswegs aus, dass die
Klägerin der Sendung einige Muster entnehmen und diese prüfen lassen
konnte. Angesichts der bedeutenden finanziellen Interessen, die auf dem
Spiele standen, brauchte die Digitapol AG auch nicht davon auszugehen,
dass die Klägerin die erste Teillieferung unbesehen nach Argentinien
weitersenden werde. Bei dieser Sachlage geht es daher nicht an, auf ein
stillschweigendes Einverständnis der Digitapol AG mit Buenos Aires als
Prüfungsort zu schliessen.

Erwägung 5

    5.- Es fragt sich weiter, ob daraus, dass das Gesetz bezüglich der
Prüfungsfrist auf den "üblichen Geschäftsgang" abstellt, die in Buenos
Aires erfolgte Prüfung noch als rechtzeitig, bew. Buenos Aires als
Prüfungsort zu betrachten sei, wie die Klägerin geltend macht.

    Mit dem Hinweis auf den üblichen Geschäftsgang will das Gesetz auf
die im Geschäftsleben bestehenden praktischen Verhältnisse abstellen (BGE
81 II 59), wobei diese nach objektiven kaufmännischen Gesichtspunkten zu
würdigen sind (BlzR 48 Nr. 207).

    Die Betrachtung unter diesen Gesichtspunkten ergibt, dass der Klägerin
ohne weiteres zuzumuten war, sei es selbst, sei es durch Auftrag an die
Basler Lagerhausgesellschaft, aus der dort abgelieferten Ware Muster zu
ziehen und deren Prüfung zu veranlassen. Dies hätte für die Klägerin keine
besonderen Umtriebe verursacht und keine Verzögerung der Weiterversendung
bewirkt.

    Ein solches Vorgehen hätte sich der Klägerin auch noch aus
verschiedenen weiteren Gründen aufdrängen sollen. Sie wusste, dass
die Digitapol AG mit der Fabrikation der zweiten 500 kg weiterfahren
musste. Sie wusste ferner gemäss den verbindlichen tatsächlichen
Feststellungen der Vorinstanz, dass die Digitapol AG bisher noch nie
Novalgin fabriziert hatte. Endlich ist auf Grund der Tatsachenfeststellung
der Vorinstanz davon auszugehen, dass die Klägerin vor dem Abschluss des
Geschäfts den Betrieb der Digitapol AG besichtigt hatte und somit darüber
im Bild war, dass es sich um einen primitiv eingerichteten Kleinbetrieb
handelte, dessen Einrichtungen sie denn auch im Prozess selber als
ungenügend bezeichnet hat.

    Im Hinblick auf alle diese Umstände muss angenommen werden, dass die
Klägerin nach objektiven kaufmännischen Gesichtspunkten die Musterziehung
und Prüfung unverzüglich in Basel hätte vornehmen müssen und dass die
erst nach Eintreffen der Ware in Buenos Aires erfolgte Prüfung daher
verspätet war.

    Die Berufung der Klägerin auf verschiedene, in der Doktrin
erwähnte ältere Entscheide (BGE 26 II 793, 38 II 547) ist demgegenüber
unbehelflich. Gewiss kann es nach dem üblichen Geschäftsgang zulässig
sein, dass ein in der Schweiz domizilierter Käufer eine durch ihn aus
dem Ausland bezogene Ware nicht schon bei der dort erfolgten Auslieferung
an seinen Spediteur prüft, sondern - bei sofortiger Weitersendung durch
diesen - erst am Bestimmungsort in der Schweiz. Hier handelt es sich aber
um einen Vertrag, der zwischen zwei in der Schweiz ansässigen Firmen
abgeschlossen wurde, bei welchem die Ablieferung durch den Verkäufer
an den Spediteur des Käufers in der Schweiz erfolgte, der die Ware dann
nach Übersee verfrachtete. Das macht für die Frage des Prüfungsortes einen
wesentlichen Unterschied aus, weshalb die in der angerufenen Rechtsprechung
entwickelten Grundsätze nicht auf den vorliegenden, anders gelagerten
Tatbestand übertragen werden können.

Erwägung 6

    6.- Wird endlich auf den in Erw. 2 dargelegten Zweck der Vorschriften
über die Mängelrüge abgestellt und die Frage des Prüfungsortes unter diesem
Gesichtspunkte betrachtet, so kann wiederum nicht zweifelhaft sein, dass
die Prüfung bei Ablieferung der Ware in Basel hätte erfolgen sollen. Die
mehrwöchige Verzögerung der Prüfung bei Annahme von Buenos Aires als
Prüfungsort vertrüge sich nicht mit der im Interesse der Sicherheit des
Geschäftsverkehrs gebotenen raschen Klarstellung der tatsächlichen und
rechtlichen Verhältnisse.

Erwägung 7

    7.- Hat somit schon auf Grund der vorstehenden Erwägungen Basel
als Prüfungsort zu gelten, so kommt nichts darauf an, ob in der
chemisch-pharmazeutischen Branche eine allgemeine Handelsusanz bestehe,
wonach beim Kauf von Produkten zur Ausfuhr ins Ausland, insbesondere nach
Übersee, der Käufer die Ware vor dem Weiterversand zu prüfen habe. Damit
wird die Rüge der Klägerin gegenstandslos, dass die Vorinstanz in der
Frage der Beweislast für das Bestehen einer Handelsusanz dieses Inhalts
die Vorschriften von Art. 8 ZGB verletzt habe.

    Da Basel Prüfungsort war, ist es sodann auch belanglos, ob die Ware auf
dem Transport von Basel nach Buenos Aires Schaden gelitten habe und ob die
Vorinstanz gemäss der Behauptung der Klägerin auch in diesem Zusammenhang
die Beweislast unrichtig verteilt habe.

Erwägung 8

    8.- Nach dem Gesagten ist somit davon auszugehen, dass die erst
nach Eintreffen der Ware in Buenos Aires erfolgte Prüfung und Mängelrüge
verspätet waren. Beim Unterbleiben der Mängelrüge innert nützlicher Frist
gilt aber die mangelhafte Ware als genehmigt (Art. 201 Abs. 2 OR), und es
sind Wandelungs-, Preisminderungs- und Schadenersatzklage ausgeschlossen
(BECKER, OR Art. 201 N. 27).