Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 II 331



88 II 331

46. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 20. September 1962
i.S. Sonderegger gegen Wild

AG Regeste

    Wohnrecht (Art.776-778ZGB). Einsprache des Wohnberechtigten gegen
einen auf dem selben Grundstück geplanten Neubau mit geringem Abstand
vom Wohnhause.

    Ein Streit zwischen dem Eigentümer des Grundstücks und einem daran
Dienstbarkeitsberechtigten ist nicht nach Nachbarrecht, sondern nach den
die betreffende Dienstbarkeit beherrschenden Normen zu beurteilen (Erw. 4).

    Stillschweigender übereinstimmender Wille beim Abschluss des Vertrages.
Tatfrage (Erw. 5).

    Aus dem Wohnrecht sich ergebende Ansprüche. Entsprechende Anwendung
des Art. 745 Abs. 2 und grundsätzlich auch der Art. 730 ff., namentlich
des Art. 737 Abs. 3 ZGB, sowie von Normen des Mietrechtes. - Das Wohnrecht
erschöpft sich nicht in der Benutzung der ihm unterstehenden Räume. Der
Wohnberechtigte kann ausserdem verlangen, dass die den Wohnungsgenuss
mitbestimmenden Vorteile nicht in wesentlichem Masse geschmälert werden,
welche die Wohnung bei der Einräumung seines Rechtes bot und er nach Treu
und Glauben als für seine Lebenszeit gesichert betrachten durfte. (Erw. 6.)

Sachverhalt

    A.- Am 23. Oktober 1954 verkaufte Jakob Sonderegger, geboren 1875,
die Liegenschaft Parzelle Nr. 722 in Heerbrugg, Gemeinde Balgach,
mit dem Wohnhaus Nr. 33, der Wild AG zum Preise von Fr. 75'000. -
unter Vereinbarung eines ihm vorbehaltenen Wohnrechts laut folgender
Vertragsklausel:

    "4. Die Parteien vereinbaren folgende Personaldienstbarkeit: Der
jeweilige Eigentümer der Parzelle 722, derzeit die Käuferin Firma Wild
Heerbrugg AG, räumt dem Verkäufer Jakob Sonderegger das lebenslängliche
und unentgeltliche Wohnrecht an der von ihm zur Zeit benützten Wohnung
im Hause Nr. 33 ein."

    Dieses Wohnrecht ist im Grundbuch eingetragen.

    Das erwähnte Wohnhaus, ein quadratischer Bau von etwa 9 Metern
Seitenlänge, steht im nordöstlichen Winkel der (abgesehen von einem
Schopfanbau) bisher nicht überbauten Liegenschaft, die ungefähr ein
Rechteck bildet mit Seitenlängen von etwa 40 m im Norden und Süden und etwa
60 m im Osten und Westen, bei einer gesamten Fläche von 2370 m2. Das Haus
ist etwa 3 bzw. 5 m von den im Norden und im Osten vorbeiführenden Strassen
entfernt; die Süd- und die Westfassade gehen auf freies Vorgelände mit
Entfernungen von etwa 30 bzw. 60 m bis zu den auf den Nachbargrundstücken
stehenden Gebäuden.

    B.- Sonderegger konnte sein Wohnrecht in den folgenden Jahren
ausüben. Die Wild AG gestand ihm auch den Obstnutzen der auf der
Liegenschaft stehenden Bäume zu. Als im Jahre 1960 einige Bäume gefällt
wurden, entschädigte sie ihn mit Fr. 80. - für jeden Baum.

    C.- Die Wild AG hat die Absicht, auf der Parzelle Nr.  722 einen
viergeschossigen Neubau ("wissenschaftliches Gebäude") zu erstellen,
der sich in der Längsrichtung von Süden nach Norden erstrecken soll. Die
Mittelachse geht westlich vom alten Dreifamilienhaus durch, das Jakob
Sonderegger bewohnt. Doch kommt die Nordwand des projektierten Neubaues
von etwa 15 m Breite in ihrem östlichen Teil auf eine Länge von etwa 2 m
in einem Abstand von bloss 1,5 m an den westlichen Teil jenes Wohnhauses
heran, wo sich ein Zimmerfenster der von Sonderegger benutzten Wohnung
befindet.

    D.- Gegen das entsprechende Baubewilligungsgesuch vom 27. Juni 1961
erhob Sonderegger eine sog. privatrechtliche Baueinsprache gemäss Art. 100
des St. Galler Einführungsgesetzes zum ZGB. Er machte geltend, der geplante
Bau beeinträchtige in schwerer Weise das ihm zustehende Wohnrecht.

    E.- Das Bezirksgericht Unterrheintal hiess die Klage der Wild AG auf
Beseitigung der Baueinsprache gut, ebenso das Kantonsgericht St. Gallen
mit Urteilen vom 15. Februar/22. Mai 1962.

    F.- Der Beklagte hat Berufung an das Bundesgericht eingelegt mit dem
erneuten Antrag auf Abweisung der Klage und Schutz der Baueinsprache.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

    1./3. - .....

Erwägung 4

    4.- Zu beurteilen bleibt die Einrede, der geplante Neubau würde die
Ausübung des dem Beklagten zustehenden Wohnrechtes in unzulässiger Weise
beeinträchtigen.

    Das Kantonsgericht prüft diese Einrede zunächst unter dem
Gesichtspunkt einer gesetzlichen Eigentumsbeschränkung, wie sie sich aus
dem Nachbarrecht oder aus öffentlichrechtlichen Normen ergeben könnte. Es
verneint eine Verletzung solcher Eigentumsbeschränkungen und daher auch
eine Verantwortlichkeit der Klägerin nach Art. 679 ZGB. In dieser Hinsicht
ist dem angefochtenen Urteil nun gewiss beizustimmen. Dass das Vorhaben der
Klägerin gegen öffentlichrechtliche Bauvorschriften verstosse, steht nicht
in Frage. Und das Nachbarrecht ist im Verhältnis eines Grundeigentümers
zu einem am Grundstück dinglich Berechtigten überhaupt nicht anwendbar,
weil man es hiebei nicht mit einem nachbarrechtlichen Verhältnis zu tun
hat. Streitigkeiten zwischen dem Grundeigentümer und einem am selben
Grundstück Dienstbarkeitsberechtigten sind vielmehr auf dem Boden des
Dienstbarkeitsrechtes zu entscheiden (vgl. LIVER, N. 119 ff. zu Art. 737
ZGB). Im übrigen kann, wie das Bundesgericht mehrmals entschieden hat,
das blosse Vorhandensein einer Baute niemals Einwirkungen im Sinne des
Nachbarrechts (Art. 684 ZGB) hervorbringen (vgl. BGE 88 II 263 ff.,
Erw. 3, mit Hinweisen).

    Für die Beurteilung der vorliegenden Baueinsprache spielt auch der
vom Beklagten angerufene Besitzesschutz (Art. 928 ZGB), der freilich
auch einem Dienstbarkeitsberechtigten kraft seines Besitzes zusteht
(Art. 919 Abs. 2 ZGB), keine Rolle. Hat doch die Klägerin jede verbotene
Eigenmacht vermieden und den rechtmässigen Weg des Baubewilligungsgesuches
beschritten. Dementsprechend geht es in dem durch die Baueinsprache
veranlassten Rechtsstreit lediglich um die Abgrenzung der Rechtsbereiche
des Grundeigentümers und eines Wohnberechtigten. Es liegt also, wiewohl
das Klagebegehren dies nicht ausspricht, eine Feststellungsklage vor. Ob
als deren Gegenstand die positive Feststellung des Rechtes der Klägerin zu
gelten habe, ihr Bauvorhaben auszuführen (wie das Kantonsgericht annimmt),
oder vielmehr die negative Feststellung des Fehlens eines diesem Vorhaben
entgegenstehenden Rechtsverhältnisses, kann dahingestellt bleiben. Für
die Verteilung der Beweislast und damit für den Ausgang des Rechtsstreites
ist dies ebenso bedeutungslos wie die dem Grundeigentümer einerseits und
dem Wohnberechtigten anderseits zugefallene Parteirolle (vgl. H. KUHN, Die
Beweislast, S. 78; GULDENER, Schweizerisches Zivilprozessrecht, 2. Auflage,
S. 344 N. 39). Da der Beklagte dem Bauvorhaben der Klägerin ein zu seinen
Gunsten bestehendes besonderes Rechtsverhältnis entgegenhält, ist er
grundsätzlich für diesen Hinderungsgrund beweispflichtig (Art. 8 ZGB;
vgl. M. KUMMER, N. 164 ff. zu diesem Artikel).

Erwägung 5

    5.- Der als Rechtsgrundausweis heranzuziehende Vertrag (Art. 971 Abs. 2
ZGB) umschreibt den Inhalt des "lebenslänglichen und unentgeltlichen"
Wohnrechts nicht näher. Auszugehen ist somit von der gesetzlichen
Umschreibung (Legaldefinition) des Wohnrechts in Art. 776/77 ZGB. Der
Beklagte hatte freilich in erster Instanz behauptet, die Klägerin habe
ihm bei den Vertragsverhandlungen zugesichert, zu seinen Lebzeiten
solle sich nichts ändern; er könne nach wie vor in gleicher Weise in
seiner Liegenschaft wohnen und sie samt dem Garten benützen. Zum Beweis
hiefür wurde der Eid des Beklagten angeboten. Wenn das Kantonsgericht
ein dahingehendes Vorbringen und Beweisanerbieten verneint, so liegt ein
offenkundiger Irrtum vor, es wäre denn, der Beklagte habe in oberer Instanz
ausschliesslich eine dahingehende stillschweigende Meinung der Parteien
beim Vertragsabschluss geltend gemacht (wie sie in der Appellationsschrift
behauptet wird). Wie es sich damit verhält, kann indessen auf sich beruhen
bleiben, da die Baueinsprache jedenfalls aus andern Gründen zu schützen
ist. Und zwar braucht hiebei nicht einmal von einer stillschweigenden
übereinstimmenden Vertragsmeinung im soeben erwähnten Sinn ausgegangen
zu werden, die das Kantonsgericht beweiswürdigend - für das Bundesgericht
bindend (Art. 63 Abs. 2 OG) - als unbewiesen erachtet, da die vom Beklagten
hiefür angerufenen Indizien (die Überlassung der Baumfrüchte an ihn,
die Zahlung einer Entschädigung durch die Klägerin für zwei gefällte
Obstbäume und ihre Anfrage, ob er mit Rücksicht auf ihr Bauvorhaben gegen
Entschädigung auf sein Wohnrecht verzichten würde) nicht geeignet seien,
eine solche beidseitige Willensmeinung beim Vertragsabschlusse darzutun.

Erwägung 6

    6.- Auch abgesehen von derartigen Nebenabreden oder Willensmeinungen
beim Abschluss des Kauf- und Dienstbarkeitsvertrages von 1954 bedeutet der
Neubau, wie er geplant ist, einen Einbruch in den dem Beklagten durch das
Wohnrecht vorbehaltenen Rechtsbereich. Das angefochtene Urteil verkennt
die Tragweite dieses Rechtes und die sich daraus ergebende Beschränkung
der Betätigungsfreiheit der Grundeigentümerin. Zwar fasst es im Anschluss
an die nachbarrechtlichen Ausführungen, die, wie dargetan, für die
Entscheidung ausser Betracht fallen, die Eigenart des Wohnrechts ins
Auge. Dabei wird aber zu Unrecht wiederum auf Art. 679 ZGB hingewiesen,
und es wird eine Verletzung des Wohnrechts verneint, weil der geplante
Neubau das vom Beklagten bewohnte Haus immerhin weiterbestehen lasse, so
dass der eigentliche Gegenstand des Wohnrechts dem Beklagten nicht entzogen
werde. Diese Betrachtungsweise übersieht die dem Wohnrecht allgemein für
die Lebensgestaltung des Berechtigten zukommende Bedeutung und die sich
in dieser Hinsicht ausserdem aus den örtlichen Verhältnissen ergebenden
Besonderheiten. In tatsächlicher Hinsicht gibt sich das Kantonsgericht
freilich Rechenschaft von den Änderungen, die der geplante Neubau für
die Ausübung des Wohnrechts, also für das Wohnen im alten Hause, mit sich
brächte. Dem Urteil ist darüber zu entnehmen was folgt:

    "Es kann kein Zweifel darüber bestehen - und der Augenschein hat dies
deutlich gezeigt -, dass die Lebensbedingungen des Beklagten durch die
Erstellung des geplanten Neubaues eine gewisse Veränderung und zwar eine
Verschlechterung erfahren werden. Seine Befürchtungen hinsichtlich der
Aussicht, die er heute von seiner Wohnung aus geniesst, und hinsichtlich
der Besonnung erscheinen als begründet. Ein vierstöckiges Gebäude, das
sich in einem Abstand von nur 1,5 m vor dem Fenster des südwestlich
gelegenen Zimmers seiner Wohnung erheben wird, wird sich visuell als
Barrikade auswirken und zur Folge haben, dass dieses Zimmer nicht mehr
wie bis anhin den ganzen Tag der Sonne ausgesetzt, sondern während vieler
Stunden des Tages in Schatten getaucht sein wird. Auch akustisch wird der
Neubau gewisse Einwirkungen auf die Wohnung des Beklagten mit sich bringen,
obschon er keinen eigentlichen Fabrikbetrieb, sondern zur Hauptsache
Büroräumlichkeiten, Zeichnungssäle und wissenschaftliche Laboratorien
aufnehmen soll. Zweifellos werden mit der Erstellung der Neubaute
verschiedene Annehmlichkeiten, welche die Wohnung des Beklagten heute
bietet, wegfallen mit der Folge, dass, wenn es sich um eine Mietwohnung
handelte, der dannzumal noch erzielbare Mietzins niedriger wäre als der
Mietzins, der heute für die Wohnung geboten würde."

    Das Kantonsgericht hält dafür, diese Änderungen seien dem Beklagten
zuzumuten. Er könne nach wie vor allein über die zu seiner Wohnung
gehörenden Räume verfügen, sei also nicht etwa genötigt, ein Zimmer
abzutreten oder andern Personen die Mitbenützung zu gestatten. In diesem
ungehinderten Benützungsrecht erschöpfe sich aber das Wohnrecht. Ein
Anspruch auf fortdauernden Genuss der Annehmlichkeiten, wie sie die
Wohnung bisher bot, stehe dem Beklagten nicht zu. Dieser Ansicht ist
nicht in allen Teilen beizutreten. Gewiss gibt es Annehmlichkeiten
einer Wohnung, mit deren Wegfall der Wohnungsinhaber zu rechnen hat,
sei es infolge baulicher Änderungen benachbarter Liegenschaften, sei
es auch infolge einer Umgestaltung des Grundstücks selbst, auf dem
sich die Wohnung befindet. Andere Annehmlichkeiten und Vorteile einer
Wohnung können aber je nach den örtlichen Verhältnissen und dem Zweck
der Wohnungswahl als derart wesentlich erscheinen, dass sie den Wert
der Wohnung - mindestens für den derzeitigen Inhaber - beeinflussen und
einen Teil des ihm eingeräumten Wohnungsgenusses ausmachen. Trifft dies
zu, so darf der Hauseigentümer Beeinträchtigungen, die sich von einem
Nachbargrundstück aus ergeben könnten, nicht ohne weiteres dulden,
sofern ihm gegenüber dem Nachbar ein sicheres Abwehrrecht zusteht.
Namentlich aber hat er sich eigener baulicher Vorkehren zu enthalten,
die jenen Rechtsbereich des Wohnungsinhabers verletzen würden. In
dieser Hinsicht ist die rechtliche Stellung eines Wohnberechtigten
ähnlich derjenigen eines Mieters (vgl. L. BRUNNER, Mietrecht, 2. Auflage,
S. 28 ff.). So gut wie der Eigentümer gegenüber einem Mieter jede eigene
störende Einwirkung zu unterlassen hat, namentlich bauliche Änderungen
unterlassen soll, soweit sie die vertragliche Benützung der Mieträume
verhindern oder schmälern würden, und so gut er ferner Licht und Aussicht
verhindernde Bauten in der Nachbarschaft im Rahmen des Nachbarrechts zu
verhindern hat (vgl. OSER/SCHÖNENBERGER, N. 9 zu Art. 254 OR), ist er
auch einem Wohnberechtigten gegenüber zu solcher Schonung und Rücksicht
verpflichtet. Das grundsätzlich nach den Bestimmungen über die Nutzniessung
zu beurteilende Wohnrecht (Art. 776 Abs. 2 ZGB) gewährt entsprechend
der auf das Wohnen beschränkten Benützungsbefugnis den vollen Wohngenuss
(vgl. Art. 745 Abs. 2 ZGB). Im übrigen sind, da der die "Nutzniessung
und andere Dienstbarkeiten" betreffende Gesetzesabschnitt (Art. 745 bis
781) keinen allgemeinen Teil enthält, die in Art. 781 bloss für die
"andern Dienstbarkeiten" als anwendbar erklärten Bestimmungen über die
Grunddienstbarkeiten heranzuziehen, wobei freilich nicht aus dem Auge zu
lassen ist, dass Nutzniessung und Wohnrecht (im Unterschied zum Baurecht
und zum Quellenrecht) nicht Gegenstand einer Grunddienstbarkeit sein
können (vgl. LIVER, N. 18 der Vorbemerkungen zu den Art. 730 bis 744
ZGB). Auf alle Dienstbarkeiten ist namentlich Art. 737 ZGB anwendbar,
nach dessen Abs. 3 der Belastete nichts vornehmen darf, was die Ausübung
der Dienstbarkeit verhindert oder erschwert (vgl. LIVER, Einleitung zum
21. Titel des ZGB, N. 57, ferner N. 76).

    Die vom Kantonsgericht festgestellten Auswirkungen des Neubaues
würden nun zwar nicht die Benützung der dem Wohnrecht unterstehenden
Räume als solche hindern oder erschweren. Sie würden aber den Genuss
des Wohnrechts, wie der Beklagte ihn beim Vertragsabschluss nach seinen
Lebensumständen und nach den örtlichen Verhältnissen erwarten durfte und
daher weiterhin beanspruchen kann, in erheblichem, nicht zumutbarem Masse
verringern. Es handelte sich für den Beklagten, wie die Klägerin wusste,
darum, seinen Lebensabend in dem von ihm damals bereits bewohnten Hause zu
verbringen. Für den Wohnungsgenuss ist aber - nicht bloss im Hinblick auf
die Annehmlichkeiten des häuslichen Lebens, sondern auch um der Gesundheit
und des seelischen Wohlbefindens willen - auch die nähere Umgebung des
Hauses von Bedeutung. Eine bis auf 1,5 Meter an das Fenster eines Zimmers
der Südseite seiner Wohnung herankommende, sich als Barrikade vor dem
Blick erhebende Gebäudewand braucht der Beklagte nicht zu dulden. Dies um
so weniger, als der Entzug des Sonnenlichtes "während vieler Stunden des
Tages", wie ihn das Kantonsgericht in tatsächlicher Hinsicht massgebend
feststellt, die Wohnung nicht bloss weniger anziehend machen würde, sondern
sich ungünstig auf das gesundheitliche Befinden des Bewohners auswirken
müsste. Während das Wohnhaus heute noch, namentlich nach Süden und Westen
hin, gewissermassen im Grünen steht, befände es sich bei Ausführung des
Bauprojektes der Klägerin nahe an einem Gebäude gewerblichen Charakters
mit einer in östlicher Richtung in das Profil des Wohnhauses ragenden
und sich nach Westen ausdehnenden Nordfassade. Zudem ist anzunehmen,
der Wohnberechtigte habe sich bisher auch im Garten aufhalten dürfen,
wie es üblicherweise den Hausbewohnern gestattet wird. Die Klägerin hat
dem Beklagten ja sogar den Nutzen sämtlicher Bäume überlassen und ihn
später für zwei gefällte Obstbäume entschädigt. Das geplante Gebäude würde
aber jenes Südzimmer fast unbewohnbar machen und praktisch den grössten
Teil des Hausumschwunges in Anspruch nehmen. Dazu kämen akustische
Einwirkungen, die vom Neubau ausgingen, zu schweigen von den Lärm-
und Staubeinwirkungen der Bauzeit. Im übrigen hebt das kantonale Urteil
mit Recht die Beeinträchtigung des Mietwertes der Wohnung des Beklagten
hervor. Eine solche Schmälerung des Wohnungsgenusses braucht sich aber der
Beklagte ebensowenig gefallen zu lassen wie ein Mieter. Miete und Wohnrecht
unterscheiden sich hauptsächlich dadurch voneinander, dass jene auf
einem obligatorischen, diese auf einem dinglichen Rechtsverhältnis beruht
(vgl. LEEMANN, N. 9 zu Art. 776 ZGB). Sie verschaffen dem Berechtigten
gleichermassen ein Recht auf Benutzung, dessen Ausübung sich nicht in der
Verwendung der zum Wohnen dienenden Räume und Anlagen erschöpft, sondern
den Anspruch auf Licht und Sonne, auf Freiheit von schädlichen Einwirkungen
der Nachbarschaft und auf gewisse in der gegebenen Wohnlage begründete
Vorteile und Annehmlichkeiten in sich schliesst. Im vorliegenden Fall würde
der geplante Neubau in Lebensverhältnisse des Beklagten eingreifen, die
er nach Treu und Glauben als durch sein Wohnrecht gesichert halten durfte.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird gutgeheissen, die Urteile des Kantonsgerichts St.
Gallen, I. Zivilkammer, vom 15. Februar 1962 und vom 22. Mai 1962 werden
aufgehoben und die Klage wird abgewiesen.