Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 88 III 42



88 III 42

7. Auszug aus dem Entscheid vom 29. März 1962 i.S. Tenger. Regeste

    1.  Umfang der Verordnungsbefugnis des Bundesgerichts nach Art. 15
Abs. 2 SchKG.

    2.  Bildet eine Forderung gegen den Gemeinschuldner den Gegenstand
eines bereits vor der Konkurseröffnung hängig gewordenen Rechtsstreites,
so ist darüber kein Kollokationsverfahren einzuleiten. Verzichtet die
zweite Gläubigerversammlung auf Weiterführung eines solchen Rechtsstreits
durch die Masse, so bleibt die Abtretung der Rechte der Masse an einzelne
Gläubiger im Sinne des Art. 260 SchKG vorbehalten (Art. 207 SchKG, 63 KV).

    Der Prozessgewinn des obsiegenden Zessionars ist in einem solchen
Falle nach Art. 250 Abs. 3 SchKG zu berechnen.

Sachverhalt

    A.- Gegen die am 24. Mai 1961 in Konkurs geratene Emil E. Bloch
A.-G. in Glattbrugg-Opfikon hatte die "Amag" Automobil und Motoren A.-G. in
Zürich am 6. Januar 1960 beim Handelsgericht des Kantons Zürich Klage
wegen unlauteren Wettbewerbes angehoben. Das Handelsgericht wies die Klage
ab, doch hob das Kassationsgericht des Kantons Zürich dieses Urteil auf
Nichtigkeitsbeschwerde der Klägerin hinsichtlich des auf Schadenersatz
im Betrage von Fr. 10'000.-- nebst Verzugszins gehenden Klagebegehrens 3
auf. Die Klägerin zog die übrigen Klagebegehren ausdrücklich zurück. Bevor
es aber zur neuen Beurteilung des Schadenersatzbegehrens kam, musste
der Rechtsstreit wegen des Konkurses der Beklagten gemäss Art. 207 SchKG
eingestellt werden.

    B.- Die auf den 19. September 1961 einberufene zweite
Gläubigerversammlung war nicht beschlussfähig. Mit einem Rundschreiben
vom 1. Dezember 1961 beantragte das den Konkurs verwaltende Konkursamt
Bassersdorf den Gläubigern den Verzicht auf Geltendmachung näher
bezeichneter streitiger "Guthaben und sonstiger Ansprüche", auch solcher
auf Weiterführung von Prozessen, insbesondere des beim Handelsgericht
hängigen Passivprozesses. Dieser Antrag sei zum Beschluss erhoben, sofern
nicht die Mehrheit der Gläubiger bis zum 15. Dezember 1961 Einspruch
erhebe (was nicht geschah). Binnen der nämlichen Frist wären allfällige
Abtretungsbegehren zur Geltendmachung der Ansprüche auf eigene Rechnung
und Gefahr zu stellen.

    C.- Über dieses Vorgehen beschwerte sich der Konkursgläubiger
Dr. Tenger. Er verlangte die Aufhebung des vom Konkursamt in die
Wege geleiteten Verzichtsbeschlusses hinsichtlich der Weiterführung
des Rechtsstreites mit der "Amag", eventuell die Einräumung
einer weitern Frist zur Stellung eines Begehrens um Abtretung des
Prozessführungsrechtes. Die untere Aufsichtsbehörde wies die Beschwerde
ab und räumte dem Beschwerdeführer eine Frist von zwei Wochen zur
Stellung eines Abtretungsbegehrens ein. Der Rekurs an die obere kantonale
Aufsichtsbehörde war erfolglos. Deren Entscheid vom 9. März 1962 zieht
der Beschwerdeführer an das Bundesgericht weiter.

Auszug aus den Erwägungen:

    Die Schuldbetreibungs- und Konkurskammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Rekurrent hält dafür, die von der Konkursverwaltung
eingeleitete Beschlussfassung der Gläubiger mit Vorbehalt von
Abtretungsbegehren gemäss Art. 260 SchKG für den Fall eines
Verzichtsbeschlusses entspreche zwar der in Art. 63 KV getroffenen
Regelung, sei aber als gesetzwidrig zu betrachten. Art. 260 SchKG sehe
eine Verwertungsmassnahme besonderer Art vor; Gegenstand der Verwertung
könnten aber nur Ansprüche bilden, die zum Aktivbestand der Konkursmasse
gehören, niemals die Führung eines Passivprozesses. In dieser Hinsicht
habe vielmehr ein Kollokationsverfahren Platz zu greifen.

    Dem ist nicht beizustimmen. Die Frage, ob eine durch Verordnung des
Bundesgerichts gestützt auf Art. 15 Abs. 2 SchKG aufgestellte Regel
einer Gesetzesnorm widerspreche, lässt sich zwar nicht ohne weiteres
mit dem Hinweis auf die Verordnungsbefugnis als solche verneinen, wie
es in BGE 50 III 40 geschah. Denn diese Befugnis besteht (mit Vorbehalt
weitergehender Delegationsnormen wie derjenigen des Art. 36 Abs. 3 BankG,
deren Verfassungsmässigkeit indessen bezweifelt werden kann, vgl. FRITZSCHE
SchK II 405) nur zur Vollziehung des SchKG. Ob gewisse von gesetzlichen
Normen abweichende Verordnungsregeln die Geltung gewohnheitsrechtlicher
Ausnahmen erlangen können, ist eine andere Frage (bejahend FAVRE, Cours
de droit des poursuites, S. 52/53, und FRITZSCHE, SchK I S. 37, während
andere Autoren der Entstehung solchen Gewohnheitsrechtes nur im Rahmen
echter Gesetzeslücken Raum geben wollen; vgl. HÖHN, Gewohnheitsrecht
im Verwaltungsrecht, 1960, S. 29 ff.). Wie es sich damit verhält,
kann hier offen bleiben, da Art. 63 KV entgegen den Ausführungen des
Rekurrenten zweifellos den Rahmen des SchKG nicht überschreitet und
daher keine Veranlassung besteht, ihn nicht anzuwenden oder dem hiefür
zuständigen Gesamtgericht (Art. 11 Abs. 1 lit. d OG) seine Aufhebung oder
Änderung zu beantragen. Gewiss steht Art. 260 SchKG im Abschnitt über
die Verwertung und hat daher, jedenfalls in erster Linie, nur Ansprüche
im Auge, die zum Aktivbestand der Masse gehören. Allein Art. 63 KV hat
seine gesetzliche Grundlage hauptsächlich in einer andern Norm, nämlich in
Art. 207 SchKG. Diese Vorschrift trifft nun aber mit Bezug auf Prozesse
des Gemeinschuldners, die bereits bei der Konkurseröffnung hängig waren,
eine besondere Ordnung, woraus sich einerseits eine Einschränkung der
Normen betreffend die Kollokation, anderseits eine Erweiterung des
Anwendungsgebietes des Art. 260 SchKG ergibt. Dass Art. 207 auch für
Passivprozesse des Gemeinschuldners gilt, ist in Abs. 1 ausdrücklich
bestimmt. Somit ist über Konkursforderungen, die Gegenstand eines solchen
Prozesses bilden, kein Kollokationsverfahren durchzuführen. Vielmehr hat
normalerweise die zweite Gläubigerversammlung darüber zu beschliessen, ob
der Prozess durch die Konkursmasse weiterzuführen sei oder nicht, und es
muss alsdann der Prozessausgang dafür massgebend sein, ob und in welchem
Masse die streitig gewesene Forderung im Konkurse zu berücksichtigen
sei. Die in diesem Sinn in Art. 63 KV getroffene Regelung beruht auf einer
dem wahren Gehalt des Art. 207 SchKG entsprechenden Auslegung dieser
Norm. Da danach eben der Ausgang des bereits gegen den Gemeinschuldner
angehobenen Prozesses entscheidend ist, darf in der Tat im Kollokationsplan
keine eigentliche Verfügung getroffen und der Anfechtung durch (neue)
Klage gemäss Art. 250 SchKG unterstellt werden. Dass aber dann, wenn
die zweite Gläubigerversammlung den Verzicht der masse beschliesst
(oder wenn ein solcher Beschluss auf dem Zirkularwege gefasst wird),
immerhin den einzelnen Gläubigern vorbehalten bleiben soll, selber statt
der Konkursmasse den Prozess weiterzuführen, entspricht den Grundsätzen
sowohl des Art. 250 wie auch des Art. 260 SchKG. Der Rekurrrent will es
denn auch keineswegs beim Verzichtsbeschluss der Gläubigergesamtheit
bewenden lassen. Er möchte das Eintrittsrecht der einzelnen Gläubiger
lediglich auf anderer Grundlage, als wie es der angefochtene Entscheid
gemäss Art. 63 KV vorsieht, Platz greifen lassen. Wie dargetan, ist jedoch
ein Kollokationsverfahren mit Art. 207 SchKG unvereinbar. Es lag daher
nahe, in Art. 63 KV auf Art. 260 SchKG zu verweisen, wie denn das Recht
der Masse, einen Rechtsstreit des Gemeinschuldners weiterzuführen, sich
sehr wohl durch eine solche Abtretung auf einen oder mehrere einzelne
Gläubiger übertragen lässt, auch wenn es ein Passivprozess ist. Findet
Art. 260 SchKG im Bereich des Art. 207 SchKG dergestalt analoge Anwendung
ausserhalb des Gebietes der Aktivenverwertung, so ist dann natürlich,
dem Gegenstand dieser Abtretung entsprechend, der Prozessgewinn des
Zessionars der Masse gemäss Art. 250 Abs. 3 SchKG zu bestimmen, wie
die Vorinstanz mit Hinweis auf BGE 61 III 173, 71 III 92, 83 III 76
richtig entschieden hat (vgl. ferner J. FREY, Der Prozessgewinn nach
schweizerischem Schuldbetreibungs- und Konkursrecht, BlSchK 11 S. 33 ff.,
besonders S. 42).

Erwägung 2

    2.- ..... (Frist zur Stellung von Abtretungsbegehren.)

Entscheid:

Demnach erkennt die Schuldbetr.- u. Konkurskammer:

    Der Rekurs wird abgewiesen.