Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 I 97



87 I 97

15. Auszug aus dem Urteil vom 8. März 1961 i.S. Bron gegen Waadt-Unfall
und Obergericht des Kantons Luzern. Regeste

    Art. 4 BV; Art. 80 und 131 SchKG; Art. 60 VVG.

    Das Urteil, das den Versicherungsnehmer zu Schadenersatzleistungen an
den Geschädigten verpflichtet, stellt für den Geschädigten, der sich die
Ansprüche des Versicherungsnehmers gegen den Haftpflichtversicherer hat
abtreten lassen und diesen nun dafür betreibt, keinen Rechtsöffnungstitel
dar.

Sachverhalt

                      Aus dem Tatbestand:

    Frau Doris Kaufmann war auf Grund der luzernischen Verordnung über
die Fahrradversicherungen und die Radfahrerausweise vom 13. Dezember
1951 bei der Waadtländischen Unfallversicherung auf Gegenseitigkeit
(WaadtUnfall) gegen die Folgen der Haftpflicht aus dem Gebrauch ihres
Fahrrads versichert. Bei einem Fahrradunfall fügte sie Blaise Bron Schaden
zu. Das Obergericht des Kantons Luzern verpflichtete Frau Kaufmann am
30. März 1960, Bron Fr. 5000.-- nebst Zinsen zu entrichten. Gestützt
auf dieses Urteil betrieb Bron Frau Kaufmann für einen Restbetrag von
Fr. 1544.30 auf Pfandverwertung, wobei er unter Berufung auf Art. 60
Abs. 1 VVG die Forderung der Schuldnerin an die Waadt-Unfall als Pfand
in Anspruch nahm. Im Verwertungsverfahren wies das Betreibungsamt die
betreffende Forderung auf Grund von Art. 131 Abs. 1 SchKG dem Gläubiger
an Zahlungsstatt an.

    Bron setzte die auf ihn übergegangene Forderung gegen die Waadt-Unfall
in Betreibung. Als diese Recht vorschlug, kam er um die definitive
Rechtsöffnung ein. Das Begehren ist vom Amtsgerichtsvizepräsidenten II
von Luzern-Stadt und auf Rekurs hin vom Obergericht abgewiesen worden,
weil kein Urteil vorliege, das die Waadt-Unfall verpflichte, Bron den in
Betreibung gesetzten Betrag zu zahlen, und es somit an einem tauglichen
Rechtsöffnungstitel fehle.

    Bron ficht den Rekursentscheid mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen
Verletzung des Art. 4 BV an.

Auszug aus den Erwägungen:

             Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Haftpflichtversicherung der Radfahrer untersteht nicht den
Sondervorschriften der Automobilhaftpflicht (im massgebenden Zeitpunkt
Art. 48-51 MFG), sondern dem VVG als dem gemeinen eidgenössischen Recht
(STREBEL, N. 7 zu Art. 31 MFG). Im Gegensatz zu Art. 49 Abs. 1 MFG,
der ein Forderungsrecht unmittelbar gegen den Versicherer vorsieht,
gewährt Art. 60 Abs. 1 VVG dem Geschädigten lediglich ein Pfandrecht
am Ersatzanspruch, der dem Versicherungsnehmer aus der Versicherung
gegen die Folgen gesetzlicher Haftpflicht zusteht. Dem Geschädigten
können daher gegenüber dem Versicherer nicht mehr Rechte zukommen als dem
Versicherungsnehmer selbst; er muss sich demgemäss (anders als nach Art. 50
Abs. 1 MFG) alle Einreden entgegenhalten lassen, die der Versicherer
gegenüber dem Versicherungsnehmer erheben kann (BGE 56 II 457; JAEGER,
N. 29 zu Art. 60 VVG). Lässt sich der Geschädigte in der Betreibung auf
Pfandverwertung die Ersatzforderung übertragen, an der er nach Art. 60
Abs. 1 VVG ein Pfandrecht besitzt, so rückt er in die Rechtsstellung des
Versicherungsnehmers ein; er erwirbt auch dadurch nicht mehr Rechte als
diesem zustehen.

    In seinem Urteil vom 30. März 1960 hat das Obergericht den
Schadenersatzbetrag festgesetzt, den Frau Kaufmann dem Beschwerdeführer
aus unerlaubter Handlung schuldet. Über die Deckung des Schadens
hatte das Obergericht sich nicht auszusprechen; es hatte nicht über die
Ansprüche zu befinden, die der als haftpflichtig Erklärten auf Grund des
Versicherungsvertrags gegen die Beschwerdegegnerin zustehen. Das Urteil
entfaltet demzufolge zwischen Frau Kaufmann bzw. dem Beschwerdeführer als
deren Rechtsnachfolger einerseits und der Beschwerdegegnerin andererseits
keine Rechtskraft. Es ist deshalb nicht nur nicht willkürrlich, sondern
richtig, wenn das Obergericht das Urteil vom 30. März 1960 in der gegen
die Beschwerdegegnerin erhobenen Betreibung nicht als Rechtsöffnungstitel
anerkannt hat. Würde anders entschieden, so würde die Beschwerdegegnerin
auf die Einreden aus Art. 81 SchKG beschränkt und es würden ihr
die Einwendungen abgeschnitten, die ihr aus dem Versicherungsvertrag
zustehen. Das Bundesgericht hat denn auch das Urteil SVA Bd. V Nr. 293,
worauf sich der Beschwerdeführer zur Stützung seiner Ansicht beruft,
in BGE 56 II 457 ausdrücklich als irrig bezeichnet (im nämlichen Sinne
JAEGER, N. 29 zu Art. 60 VVG, Fussnote e).

Erwägung 2

    2.- Die Rüge, das Obergericht habe ausser Acht gelassen, dass
die Beschwerdegegnerin nach dem Versicherungsvertrag "an Statt" des
Versicherten die Schadenersatzansprüche von Drittpersonen zu befriedigen
habe, ist neu und daher in einer staatsrechtlichen Beschwerde, welche
die Erschöpfung des kantonalen Instanzenzugs voraussetzt, unzulässig
(BGE 73 I 112, 84 I 164 Erw. 1 mit Verweisungen). Sie hielte überdies
einer materiellen Prüfung nicht stand. Nach Art. 1 der allgemeinen
Versicherungsbedingungen obliegt der Beschwerdegegnerin die Befriedigung
von Schadenersatzansprüchen Dritter nur "im Rahmen der gegenwärtigen
Versicherungsbedingungen". Ob sie entgegen ihrer Bestreitung gemäss
den Versicherungsbedingungen, insbesondere in Anbetracht der darin
festgesetzten Höchst-Versicherungssummen, zu weiteren als den bereits
erbrachten Leistungen verpflichtet sei, bildet nach dem Gesagten nicht
Gegenstand des Urteils des Obergerichts vom 30. März 1960. Dieses ist
deshalb nicht geeignet, in diesem Punkte Recht zu schaffen.

Entscheid:

              Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.