Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 I 358



87 I 358

58. Auszug aus dem Urteil vom 20. September 1961 i.S. Züllig gegen
Stadtrat von Frauenfeld und Regierungsrat des Kantons Thurgau. Regeste

    Art. 85 lit. a OG, Stimmrechtsbeschwerde.

    Der Umstand, dass eine Einzelverfügung gegen einen vom Volk
angenommenen Erlass verstösst, hat nicht zur Folge, dass die
Einzelverfügung der Volksabstimmung zu unterbreiten wäre.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Wird im "übrigen Gemeindegebiet" die Erstellung
nichtlandwirtschaftlicher Gebäude beabsichtigt, so ist nach § 25 Abs. 1
der Bauordnung (BO) der Munizipalgemeinde Frauenfeld vom 5./6. Juni 1952
"vorerst ein Bebauungsplan auszuarbeiten oder das Quartierplanverfahren
gemäss Baureglement durchzuführen". Nach § 9 Abs. 1 des Baureglements
(BR) der Munizipalgemeinde Frauenfeld vom 28. Dezember 1919 hat "in
der Regel" der Stadtrat den Bebauungs- oder Quartierplan aufzustellen;
die Grundeigentümer sind indes gemäss § 9 Abs. 3 BR berechtigt, von sich
aus einen Quartierplan auszuarbeiten, der dem Stadtrat zur Genehmigung
zu unterbreiten ist.

    Mit Bezug auf die im "übrigen Gemeindegebiet" gelegene Flur
"Oberwiesen" konnten sich die Grundeigentümer nicht zur Ausarbeitung eines
Quartierplans zusammenfinden; der Stadtrat war daher berechtigt, einen
Bebauungsplan im Sinne des § 25 Abs. 1 BO zu erlassen. Der Beschwerdeführer
bestreitet das nicht. Er macht vielmehr geltend, der Stadtrat habe in
seinem Beschluss vom 7. Dezember 1960 gar keinen Bebauungsplan im Sinne der
genannten Bestimmung aufgestellt, sondern in Wirklichkeit die Bauordnung
und den Zonenplan abgeändert; dazu sei der Stadtrat nicht befugt gewesen,
da Erlasse, die vom Volk angenommen worden seien, nur mit Zustimmung der
Stimmberechtigten abgeändert werden dürften.

    Um diese Einwendung prüfen zu können, ist die Aufgabe, die Tragweite
und die Natur des Beschlusses vom 7. Dezember 1960 abzuklären. Die
Zweite Zuckerfabrik AG beabsichtigt, im "übrigen Gemeindegebiet" von
Frauenfeld eine Werkanlage zu errichten. Da nach § 25 Abs. 1 BO andere als
landwirtschaftliche Gebäude in jenem Gebiet erst erstellt werden dürfen,
wenn für das Umgelände ein Bebauungsplan besteht, sah sich der Stadtrat zur
Ausarbeitung eines solchen veranlasst. Der "Bebauungsplan Oberwiesen" den
er mit Beschluss vom 7. Dezember 1960 angenommen hat, weist die Eigenheit
auf, dass er sich nicht an eine Vielheit von Grundeigentümern wendet,
sondern nur an einen einzigen: die Zweite Zuckerfabrik AG Wohl besitzt
diese noch nicht alle Parzellen des vom Plan umfassten Geländes, doch setzt
der Beschluss stillschweigend voraus, dass es ihr gelingen wird, das ganze
Plangebiet zu erwerben. Die im Plan enthaltenen Baunormen sind denn auch
ausschliesslich für die Zweite Zuckerfabrik AG massgebend; die weiteren
Grundeigentümer, die heute noch im Plangebiet über Land verfügen, können
keinen Anspruch erheben, nach den im Beschluss vorgesehenen Ausmassen
zu bauen. Sollte die Zweite Zuckerfabrik AG aus irgend einem Grunde ihr
Bauvorhaben nicht ausführen können, so fiele der "Bebauungsplan Oberwiesen"
als gegenstandslos dahin (vgl. Zbl 1944 S. 200; ZIMMERLIN, Bauordnung der
Stadt Aarau, S. 59). Alle diese Umstände kennzeichnen den Beschluss vom
7. Dezember 1960 als blosse Einzelverfügung; es handelt sich der Sache
nach um einen (verbindlichen) Vorentscheid über die Zulässigkeit der
geplanten Bauten (vgl. IMBODEN Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung,
Nr. 68 S. 206 Bemerkung II).

    Beim Erlass dieser Einzelverfügung war der Stadtrat an die
Bauordnung und den Zonenplan gebunden, soweit er nicht im Rahmen des
§ 41 BO eine Ausnahme von den darin niedergelegten Regeln bewilligen
durfte. Vorbehaltlich einer solchen Bewilligung darf der Inhalt des vom
Stadtrat ausgearbeiteten "Bebauungsplans" mithin nicht gegen die Bauordnung
und den Zonenplan verstossen. Sollte das gleichwohl zutreffen, so hiesse
das nicht, dass der Stadtrat damit die Bauordnung und den Zonenplan
geändert hätte. So wenig der Richter, der ein gesetzwidriges Urteil fällt,
das Gesetz ändert, so wenig vermag die Verwaltungsbehörde das Gesetz, die
Verordnung oder eine für sie verbindliche generelle Verfügung zu ändern,
indem sie eine diesen Anordnungen widersprechende Einzelverfügung trifft;
denn eine Norm (worunter in diesem Zusammenhang auch die generelle
Verfügung zu verstehen ist) kann nur durch eine Norm der selben oder
einer höheren Rangstufe abgeändert oder aufgehoben werden, nicht dagegen
durch einen Akt niedrigeren Ranges. Das äussert sich namentlich auch
darin, dass ein inhaltlich normwidriger Verwaltungsakt auf Anfechtung
des materiell Beschwerten hin (oder im Falle der Nichtigkeit von Amtes
wegen) aufzuheben ist. In einem Falle scheint allerdings die Norm hinter
den von ihr abweichenden Verwaltungsakt zurückzutreten: dann nämlich,
wenn der Verwaltungsakt nach dem positiven Recht nicht anfechtbar ist,
oder wenn er zwar anfechtbar war, die Anfechtung jedoch unterblieb, weil
die Frist versäumt wurde oder der Adressat kein Interesse an der Aufhebung
der Verfügung hatte. Auch in diesem Falle bewahrt die Norm indes in Tat
und Wahrheit ihre Geltung, und der gegen sie verstossende Verwaltungsakt
bleibt fehlerhaft, was unter Umständen dazu führen kann, dass er von
der verfügenden Amtsstelle oder der Aufsichtsbehörde zurückgenommen wird
(GIACOMETTI, Verwaltungsrecht, Bd. I, S. 433/34).

    Selbst wenn der am 7. Dezember 1960 erlassene "Bebauungsplan
Oberwiesen" seinem Inhalt nach gegen die Bauordnung oder den Zonenplan
verstossen sollte, hätten diese somit in vollem Umfange weiter
Bestand. Weil der Erlass blosser Einzelverfügungen klarerweise in die
Zuständigkeit des Stadtrats fällt, war der Beschluss vom 7. Dezember
1960 nicht der Gesamtgemeinde zu unterbreiten. Der Beschwerdeführer ist
demnach durch die Unterlassung einer Volksbefragung nicht in seinem Recht
auf Teilnahme an den Gemeindeabstimmungen verletzt worden.