Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 I 3



87 I 3

2. Auszug aus dem Urteil vom 25. Januar 1961 i.S. M. gegen L. und
Obergericht des Kantons Thurgau. Regeste

    Art. 4 BV. Rechtsverweigerung durch überspitzten Formalismus
im Zivilprozess. Auslegung von § 283 Abs. 1 thurg. ZPO, wonach die
Berufungserklärung gegen Urteile der Bezirksgerichte bei deren Kanzlei
abzugeben ist. Unhaltbarrkeit der Annahme, dass eine am letzten Tag der
Berufungsfrist der Post übergebene Berufungserklärung deshalb, weil sie
an das Bezirksgericht und nicht an die Bezirksgerichtskanzlei adressiert
war, nicht rechtzeitig bei der zu ihrer Entgegennahme zuständigen Behörde
eingegangen und auf sie daher nicht einzutreten sei.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    A.- Nach der thurg. ZPO vom 19. Oktober 1926 beurteilt das Obergericht
(bzw. dessen Rekurskommission) die Berufungen gegen die Urteile der
Bezirksgerichte (§§ 63 und 65). Über die Berufungserklärung bestimmt §
283 ZPO:

    "Die Partei, die von der Berufung Gebrauch machen will, hat die
Berufungserklärung innert der Verwirkungsfrist von 10 Tagen bei der
erstinstanzlichen Gerichtskanzlei abzugeben und innert der Verwirkungsfrist
von 30 Tagen, von der Eröffnung des motivierten Urteils an gerechnet,
bei der Kanzlei des Obergerichts ..... die Durchführung der Berufung
zu erklären.

    In der Eingabe an das Obergericht ist anzugeben, in welchen Punkten
das erstinstanzliche Urteil angefochten wird, welche Nova geltend gemacht
werden und welche Anträge gestellt werden."

    Das Bezirksgericht Bischofszell hält seine Sitzungen in Bischofszell
ab. Hier wohnt auch sein Präsident, während der Gerichtsschreiber in
Weinfelden wohnt und dort die Gerichtskanzlei führt.

    B.- Der Beschwerdeführer M. führte vor Bezirksgericht Bischofszell
einen Zivilprozess gegen L. und war dabei durch Rechtsanwalt Dr.
X. vertreten. Am 7. März 1960 wurde diesem das am 24. Februar gefällte
Urteil zugestellt mit der Rechtsmittelbelehrung, dass dagegen innert 10
Tagen "bei der Gerichtskanzlei Bischofszell in Weinfelden" die Berufung
an das Obergericht erklärt werden könne. Dr. X. gab am 17. März 1960,
dem letzten Tag der Frist, in Zürich eine Berufungserklärung zur Post,
die "An das Bezirksgericht Bischofszell, Bischofszell" adressiert war und
dem Bezirksgerichtspräsidenten zugestellt wurde. Dieser leitete sie am
18. (oder 19.) März an die Gerichtskanzlei in Weinfelden weiter mit der
Bemerkung, nach einer Weisung des Obergerichts gelte die Einreichung beim
Gerichtspräsidium statt bei der Kanzlei doch als rechtzeitig erfolgt. Am
2. April 1960 erklärte Dr. X. beim Obergericht die Durchführung der
Berufung.

    Mit Beschluss vom 11. Oktober 1960 trat indessen das Obergericht auf
die Berufung wegen Verspätung nicht ein.

    C.- Mit der staatsrechtlichen Beschwerde stellt M. den Antrag,
diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben. Als Beschwerdegrund wird
Verletzung von Art. 4 BV durch Willkür, Verweigerung des rechtlichen
Gehörs und rechtsungleiche Behandlung geltend gemacht.

    D.- Das Obergericht und der Beschwerdegegner L.  beantragen die
Abweisung der Beschwerde.

    Das Bundesgericht heisst die Beschwerde gut und hebt den angefochtenen
Beschluss auf.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- Nach § 283 Abs. 1 ZPO ist die Berufungserklärung innert zehn Tagen
"bei der erstinstanzlichen Gerichtskanzlei" abzugeben. Dementsprechend
lautete die Rechtsmittelbelehrung im Urteil des Bezirksgerichts
Bischofszell vom 24. Februar 1960 dahin, dass innert zehn Tagen die
Berufung an das Obergericht "bei der Gerichtskanzlei Bischofszell in
Weinfelden" erklärt werden könne. Der Anwalt des Beschwerdeführers
hat dies, wie in der Beschwerde zugegeben wird, übersehen und daher
die am letzten Tag der Frist zur Post gegebene Berufungserklärung "an
das Bezirksgericht Bischofszell, Bischofszell" adressiert. Es ist somit
ungenau, wenn im angefochtenen Entscheid wiederholt die Gerichtskanzlei dem
"Gerichtspräsidium" gegenübergestellt wird, als ob die Berufungserklärung
an dieses adressiert gewesen wäre; sie war vielmehr an das Bezirksgericht
als solches gerichtet. Richtig ist dagegen, dass sie von der Post
zunächst dem Gerichtspräsidenten in Bischofszell zugestellt und dann
von diesem nach Ablauf der Frist an die Gerichtskanzlei in Weinfelden
weitergeleitet wurde. Das Obergericht ist der Auffassung, unter diesen
Umständen sei sie nicht rechtzeitig bei der nach § 283 Abs. 1 ZPO zu
ihrer Entgegennahme zuständigen Behörde eingegangen. Diese Auffassung
beruht auf der Annahme, die erstinstanzliche Gerichtskanzlei bilde keinen
"organischen Bestandteil" des Gesamtgerichts, sondern sei eine von diesem
bewusst getrennte, selbständige Amtsstelle, Instanz oder Behörde. Es
fragt sich, ob diese Betrachtungsweise dem vom Beschwerdeführer erhobenen
Vorwurfe der Willkür und Rechtsverweigerung standhält.

    a) Im Kanton Thurgau besteht in jedem Bezirk ein Bezirksgericht mit
einem Präsidenten und vier Richtern (§ 51 lit. b KV, § 17 GOG), das "in
oder ausser seiner Mitte" den Bezirksgerichtsschreiber wählt (§ 20 GOG)
und seine Sitzungen am Bezirrkshauptort abhält (§ 22 GOG). Da dort ausser
dem Sitzungssaal keine Amtsräume zur Verfügung stehen, üben Präsident,
Richter und Gerichtsschreiber ihre amtliche Tätigkeit ausserhalb der
Sitzungen an ihrem privaten oder geschäftlichen Domizil aus. Dass sich der
Wohnsitz des Gerichtsschreibers und die von ihm geführte Gerichtskanzlei
meistens ausserhalb des Bezirks befindet, ist darauf zurückzuführen, dass
die Stelle des Gerichtsschreibers kein Vollamt ist und in der Regel von
einem Rechtsanwalt versehen wird, der in den übrigen Bezirken die Advokatur
ausübt. Die Post ist angewiesen, Sendungen, die an das Bezirksgericht
adressiert sind, dem Gerichtspräsidenten zuzustellen, während die an die
Gerichtskanzlei adressierten Sendungen dem Gerichtsschreiber an dessen
Domizil zugestellt werden.

    b) Weder diese tatsächlichen Verhältnisse noch die erwähnten
Vorschriften gestatten indessen den daraus vom Obergericht gezogenen
Schluss, dass das Bezirksgericht, sein Präsident und sein Schreiber keinen
Amtssitz haben, dass sie infolgedessen keine organische Einheit bilden
und dass die Gerichtskanzlei daher eine selbständige Amtsstelle sei.
Allerdings ist in der KV, in der ZPO und im GOG nirgends ausdrücklich vom
Amtssitz der Bezirksgerichte die Rede. Indes muss das Bezirksgericht wie
jedes Gericht notwendigerweise einen Amtssitz haben, an dem es von den
Rechtssuchenden erreicht werden kann, bezeichnet doch die ZPO, wie das
Obergericht in seinem Entscheid selber ausführt, in zahlreichen Fällen
weder den Präsidenten noch den Schreiber, sondern einfach "das Gericht"
als Adressaten von Eingaben (§§ 15-18, 34, 36, 103). Daraus, dass in
jedem Bezirk ein Bezirksgericht besteht und dieses seine Sitzungen am
Bezirkshauptort abhält, muss mangels einer gegenteiligen Bestimmung
in der KV und im GOG geschlossen werden, dass sich sein Amtssitz am
Bezirkshauptort befindet. Daran vermag nichts zu ändern, dass dort
ausser dem Sitzungssaal keine Amtsräume zur Verfügung stehen und der
Gerichtsschreiber in der Regel, manchmal aber auch der Gerichtspräsident,
in andern Ortschaften wohnen und ihre amtlichen Funktionen ausserhalb
der Sitzungen dort ausüben. Dass die Post angewiesen ist, die einfach
an das Gericht adressierten Eingaben dem Gerichtspräsidenten und nicht,
was rechtlich nicht ausgeschlossen wäre, dem Gerichtsschreiber an dessen
Wohnort zuzustellen, stellt eine interne organisatorische Massnahme dar,
die notwendig ist, weil die Bezirksgerichte ausser dem Sitzungssaal
keine Amtsräume besitzen, aber keine Bedeutung hat für die Frage, ob das
Bezirksgericht einen Amtssitz habe und wo sich dieser befinde. Aus dem
angeblichen Fehlen eines Amtssitzes lässt sich demnach nicht ableiten,
dass die Gerichtskanzlei eine selbständige Amtsstelle sei.

    c) Ebensowenig folgt dies daraus, dass die VO des Obergerichts vom
16. März 1948 über die Geschäftsführung der untern gerichtlichen Behörden
in getrennten Abschnitten besondere Anweisungen an die Bezirksgerichte,
die Bezirksgerichtspräsidenten und die Bezirrksgerichtsschreiber enthält
und dass die Schreiber gegen eine vom Staat ausgerichtete Entschädigung
selber für die notwendigen Büroräume und das Kanzleipersonal zu sorgen
haben. Letzteres ist lediglich eine interne organisatorische Massnahme,
während die Bestimmungen der VO (wie schon die einschlägigen Vorschriften
der ZPO und des GOG) nur zeigen, dass Gericht, Präsident und Schreiber
verschiedene Funktionen haben, aber niemals den vom Obergericht daraus
gezogenen Schluss zulassen, dass es sich um voneinander getrennte
Amtsstellen handle. Der Gerichtsschreiber übt am Gericht eine dienende
oder ergänzende Tätigkeit aus und ist ganz unzweifelhaft ebenso wie der
Präsident ein organischer Bestandteil des Gerichts. Es kann daher nicht
von einer Verselbständigung der Gerichtskanzlei im Sinne einer vom Gericht
verschiedenen Amtsstelle gesprochen werden.

    d) Geht man aber hievon aus, so ist die Auslegung, die das Obergericht
dem § 283 Abs. 1 ZPO gibt, unhaltbar. Der Sinn dieser Bestimmung ist,
dass die Berufung beim Gericht, das die Entscheidung erlassen hat (iudex a
quo), und die Durchführung bei der Rechtsmittelinstanz (iudex ad quem) zu
erklären ist (MAX MÜLLER, Die Berufung im thurg. Zivilprozess S. 63). Die
Abgabe der einen und andern Erklärung bei der vorgeschriebenen Instanz
ist zweifellos Gültigkeitserfordernis. Soweit aber in § 283 Abs. 1 ZPO
noch angeordnet wird, die Erklärungen seien bei der Kanzlei der beiden
Gerichte abzugeben, handelt es sich nicht mehr um die Bestimmung der
für die Entgegennahme zuständigen Behörde, sondern nur um die Angabe,
wie die Erklärung zu adressieren ist. Das kommt im Wortlaut von § 283
ZPO selber zum Ausdruck, indem die nach Abs. 1 "bei der Kanzlei des
Obergerichts" abzugebende Durchführungserklärung in Abs. 2 ausdrücklich
als Eingabe "an das Obergericht" bezeichnet wird. Soweit daher Abs. 1
vorschreibt, dass die Berufungs- und die Durchführungserklärung bei der
Kanzlei des Bezirks- bzw. des Obergerichts einzureichen sei, enthält
er eine blosse Ordnungsvorschrift zur Erleichterung des Verkehrs mit
dem Gericht, deren Missachtung niemals den Verlust des Rechts zur
Ausübung der Berufung nach sich ziehen kann. Das ist vom Obergericht
für die Durchführungserklärung in einem Urteil vom 30. September 1947
anerkannt worden, muss aber folgerichtig auch für die Berufungserklärung
gelten. Wenn sich auch, wie im angefochtenen Entscheid dargelegt wird,
die Organisation des Bezirksgerichts von derjenigen des Obergerichts
unterscheidet, so bildet doch die eine wie die andere einen organischen
Bestandteil des Gesamtgerichts, sodass die an das Gericht als solches
adressierte Eingabe vernünftigerweise auch als an dessen Kanzlei gerichtet
zu gelten hat. Das Prozessrecht ist zwar ein streng formales Recht; es
soll aber der Durchsetzung des materiellen Rechtes dienen und diese nicht
erschweren. Das Bundesgericht hat daher in neueren Entscheiden wiederholt
erklärt, dass auch auf dem Gebiete des Prozessrechts ein überspitzter,
mit keinen schutzwürdigen Interessen zu rechtfertigender Formalismus, der
die Durchsetzung des materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert,
einer formellen Rechtsverweigerung gleichkommt und vor Art. 4 BV keinen
Bestand hat (BGE 81 I 118, 85 I 209, 86 I 10). Ein solcher unzulässiger
Formalismus liegt auch hier vor. Dagegen vermag die im angefochtenen
Entscheid angestellte Überlegung nicht aufzukommen, dass dann, wenn die
Berufung beim Gerichtspräsidium (oder beim Gericht als solchem) angebracht
wird, die Gerichtskanzlei vor Ausstellung der Rechtskraftbescheinigung
eine Rückfrage beim Gerichtspräsidenten zu machen hätte, was wegen der
örtlichen Trennung unpraktisch wäre und zu unliebsamen Verzögerungen
führen würde. Abgesehen davon, dass derartige Überlegungen im Zeitalter
des Telefons nicht ins Gewicht fallen, vermögen sie auf keinen Fall
den vom Obergericht vertretenen übertriebenen Formalismus mit seinem
weitreichenden Rechtsnachteil für die Prozessparteien zu rechtfertigen.

    Da die Annahme des Obergerichts, die am letzten Tag der Frist dem
"Bezirksgericht Bischofszell" eingereichte Berufungserklärung sei nicht
bei der zuständigen Instanz abgegeben worden und daher verspätet, sich als
unhaltbar erweist und der angefochtene Entscheid schon aus diesem Grunde
aufgehoben werden muss, brauchen die weiteren Rügen des Beschwerdeführers
nicht geprüft zu werden.