Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 I 153



87 I 153

25. Auszug aus dem Urteil vom 21. Juni 1961 i.S. Hässig gegen
Flurgenossenschaft Dorf-Säge-Gründen-Boden und Regierungsrat des Kantons
Appenzeil A. Rh. Regeste

    Art. 4 BV. Rechtliches Gehör in Verwaltungssachen. Der Enteignete hat
einen Anspruch darauf, angehört zu werden, bevor die zuständige Behörde
dem Enteigner die vorzeitige Besitzeinweisung bewilligt.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Die Flurgenossenschaft Dorf-Säge-Gründen-Boden führt auf Grund des
appenzell-ausserrhodischen EG ZGB und des kantonalen Gesetzes betreffend
die Zwangsabtretung (ZAG) vom 27. April 1902 ein Enteignungsverfahren gegen
Hässig durch. Nach dem Schätzungsentscheid hob dieser einen ordentlichen
Prozess über die Höhe der Entschädigung an. Im Verlauf dieses Verfahrens
kam die Flurgenossenschaft gestützt auf Art. 19 ZAG um die Bewilligung
des sofortigen Arbeitsbeginns ein. Der Regierungsrat entsprach diesem
Begehren, ohne Hässig zuvor angehört zu haben. Hässig beanstandet dies
mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung des Art. 4 BV.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

    Der Regierungsrat räumt ein, dass er über das Gesuch der
Flurgenossenschaft um Bewilligung des sofortigen Arbeitsbeginns Beschluss
fasste und es guthiess, ohne dass er den davon betroffenen Grundeigentümern
zuvor Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben hätte. Der Beschwerdeführer
erblickt darin eine Verletzung des in Art. 4 BV gewährleisteten Anspruchs
auf rechtliches Gehör. Diese Einwendung ist begründet.

    Das Eigentum an der abzutretenden Sache geht nach dem kantonalen
Recht erst nach Abschluss des Enteignungsverfahrens auf den Enteigner
über. Gemäss Art. 19 ZAG kann der Regierungsrat jedoch in Fällen der
Dringlichkeit dem Enteigner im Schätzungsverfahren oder im nachfolgenden
Prozess den sofortigen Beginn der Arbeiten gestatten. Damit geht ein
wesentlicher (vgl. BGE 85 I 280) Teil der aus dem Eigentum fliessenden
Befugnisse, das Recht, die Liegenschaft zu benutzen und darauf zu bauen,
vor dem Eigentumswechsel auf den Enteigner über. Dieser weitgehende
Eingriff in die Rechtsstellung des Enteigneten ist nur zulässig, wenn
bestimmte zu seinem Schutze dienende Vorbedingungen erfüllt sind. In
diesem Sinne macht Art. 19 ZAG die vorzeitige Besitzeinweisung in
materieller Beziehung davon abhängig, dass die Dringlichkeit des Werks
nachgewiesen ist, dass nur noch die Entschädigungssumme streitig ist,
dass deren Festsetzung dadurch in keiner Weise erschwert wird, und dass
der Enteigner eine genügende Sicherheit geleistet hat.

    In formeller Hinsicht stellt das kantonale Recht keine Anforderungen,
doch greift hierin das Bundesrecht ein. Über die Bewilligung des sofortigen
Baubeginns entscheidet der Regierungsrat in einem Zwischenverfahren,
das einen Bestandteil des Enteignungsverfahrens bildet; die Verfügung
ergeht somit in einem Verwaltungsprozess. Art. 4 BV verleiht dem
Bürger - wenigstens dem Grundsatze nach - auch im Verfahren in
Verwaltungssachen einen Anspruch darauf, vor der Ausfällung eines ihn
beschwerenden Entscheids angehört zu werden. Dieser Anspruch ist dort,
wo über besonders einschneidende Eingriffe in die persönliche Freiheit
oder in höchstpersönliche Rechte des Bürgers zu befinden ist, wo die
Verwaltungsbehörde eine Zivilrechtsstreitigkeit zu beurteilen hat und wo
sie auf Grund einer ihr zum Schutze öffentlicher Interessen eingeräumten
Befugnis in die Gestaltung eines Privatrechtsverhältnisses eingreift, in
gleich umfassender Weise gewährleistet wie im Zivil- und im Strafprozess
(BGE 30 I 280; 43 I 165/6; 50 I 277; 53 I 113; 65 I 268; 67 I 78; 83 I
239, 241; 85 I 76 mit Verweisungen). In den übrigen Verwaltungssachen,
zu denen auch die Enteignung gehört (vgl. BGE 74 I 249 Erw. 5), hat
der Bürger dagegen nach der Rechtsprechung nur dann schon unmittelbar
auf Grund des Art. 4 BV einen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn das
öffentliche Interesse nicht dringend eine sofortige Verfügung verlangt,
und wenn die Behörde insoweit an den einmal getroffenen Entscheid gebunden
ist, dass sie ihn auf die Gegenvorstellungen des Bürgers hin nicht mehr
uneingeschränkt in Wiedererwägung ziehen kann (BGE 74 I 249 Erw. 4 a.
E., 75 I 226, 85 I 76).

    Ist über die vorzeitige Besitzeinweisung zu befinden, so ist keine
der Voraussetzungen gegeben, unter denen auf eine vorgängige Anhörung
des Betroffenen verzichtet werden darf. Der geringe zeitliche Aufschub
der Verfügung, den die Anhörung des Enteigneten nach sich zieht,
lässt sich umso eher verantworten, als der Enteigner ohnehin in der
Regel wegen der technischen und der organisatorischen Vorbereitungen
das Werk nicht sogleich ausführen kann. Andererseits ist auch nicht
dargetan, dass der Regierungsrat nach der Bewilligung des sofortigen
Arbeitsbeginns nochmals frei auf die getroffene Verfügung zurückkommen
könnte. Zwar macht er in der Beschwerdeantwort geltend, es hätte dem
Beschwerdeführer offen gestanden, um eine Wiedererwägung einzukommen; er
legt sich aber nicht darauf fest, dass das Gesetz oder die Verwaltungsübung
dem Enteigneten im Dringlichkeitsverfahren einen Rechtsanspruch darauf
gewähre, mit Gegenvorstellungen im Rahmen eines Wiedererwägungsgesuchs
oder Einspruchs gehört zu werden. Das ist auch nicht anzunehmen. Auf die
vorzeitige Besitzeinweisung hätte der Regierungsrat jedenfalls dann nicht
mehr zurückkommen können, wenn gestützt auf diese Verfügung bereits mit
der Ausführung der Arbeiten begonnen worden wäre (BGE 78 I 406/7, 79 I
6 lit. b).

    Ebenso wenig kann dem Beschwerdeführer entgegengehalten werden, er sei
schon in früheren Verfahrensabschnitten zu Worte gekommen und sei darum
nicht nochmals anzuhören. In der Einsprache gegen die Statutenänderung,
den aufgelegten Plan und den Kostenvoranschlag konnte er das Vorliegen
eines öffentlichen Interesses am beschlossenen Werk bestreiten und
die Linienführung der Strasse sowie die Verlegung der Kosten bemängeln
(Art. 122 f. EG ZGB, Art. 16 Abs. 2 ZAG); vor der Schätzungskommission
konnte er sich über den Wert des abzutretenden Landes verbreiten (Art. 22
Abs. 1 ZAG); weder im einen noch im andern Zusammenhang hatte er sich
darüber auszusprechen, ob die Vorbedingungen erfüllt seien, die Art. 19
ZAG für die Bewilligung des sofortigen Arbeitsbeginns aufstellt. Es
lässt sich daher nicht umgehen, ihn im Verfahren der Dringlicherklärung
zu dieser bisher nicht behandelten Frage Stellung nehmen zu lassen. Um
diesem sich aus der Verfassung ergebenden Erfordernis Rechnung zu
tragen, schreiben denn auch das eidgenössische (Art. 76 Abs. 1) und die
Mehrzahl der neueren kantonalen Enteignungsgesetze (Art. 37 Ziff. 2 des
waadtländischen Gesetzes vom 22. November 1917, Art. 81 a Abs. 2 des
Genfer Gesetzes vom 10. Juni 1933, Art. 31 Abs. 1 des Urner Gesetzes vom
4. Mai 1952) ausdrücklich vor, dass der Enteignete vor der vorzeitigen
Besitzeinweisung anzuhören ist.

    Der Regierungsrat hat mithin dadurch, dass er den Beschwerdeführer zur
Frage der vorzeitigen Besitzeinweisung nicht zu Worte kommen liess, gegen
Art. 4 BV verstossen. Sein Entscheid ist, weil insofern verfassungswidrig,
aufzuheben, damit die versäumte Anhörung nachgeholt werden kann.