Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 IV 87



87 IV 87

20. Urteil des Kassationshofes vom 21. April 1961 i.S. Moro gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Landschaft. Regeste

    Art. 238 Abs. 2 StGB. Erheblich ist die Gefährdung, wenn eine
nicht leichte Körperverletzung oder nicht geringer Sachschaden droht
(Erw. 1). Bei einer Schnellbremsung können die Zugsinsassen auch dann
konkret gefährdet sein, wenn keiner von ihnen zu Schaden kommt (Erw. 2).

Sachverhalt

    A.- Das doppelspurige Strassenbahngeleise der Basler Verkehrsbetriebe
läuft von Münchenstein Richtung Basel auf gerader Strecke links der
Emil Frey-Strasse entlang. Dabei kreuzt es die Dillackerstrasse, eine
weniger als 4 m breite Gemeindestrasse, die rechtwinklig in die Emil
Frey-Strasse mündet. Am 28. November 1958, ca. 1715 Uhr, näherte sich der
Radfahrer Moro auf der Dillackerstrasse der Einmündung, in der Absicht,
die Emil Frey-Strasse zu überqueren. Da auf dieser, insbesondere aus
Richtung Basel, reger Autoverkehr herrschte, stieg Moro vom Fahrrad ab,
um eine günstige Gelegenheit zur Durchfahrt abzuwarten, wobei er, das
Fahrrad rechts neben sich haltend, auf dem der Einmündung näher gelegenen
Geleise stehen blieb. Bei der regnerischen, nebligen Witterung achtete
er in der Dunkelheit nicht, dass auf dem Geleise, auf dem er stand,
ein aus einem grossen Vierachser-Motorwagen, einem Vierachser- und
Zweiachseranhängerwagen bestehender Tramzug mit einer Geschwindigkeit
von 30 km/Std. Richtung Basel heranfuhr. Der Führer des Tramzuges
seinerseits vermochte wegen der schlechten Sicht den Radfahrer erst auf
eine Entfernung von 3-5 m zu erkennen. Er betätigte sofort die Strom-
und Sandbremsen, konnte aber nicht verhindern, dass Moro vom Motorwagen
erfasst, weggeschleudert und schwer verletzt wurde. Der Tramzug, der 26
m nach der Kollisionsstelle zum Stillstand kam, blieb ohne Sachschaden;
von den mitfahrenden Passagieren wurde niemand verletzt.

    B.- Das Obergericht des Kantons Basel-Landschaft verurteilte
am 26. August 1960 den Führer des Tramzuges wegen fahrlässiger
Körperverletzung und den Radfahrer Moro wegen fahrlässiger Störung des
Eisenbahnverkehrs (Art. 238 Abs. 2 StGB) zu einer Busse von je Fr. 40.-.

    C.- Moro verlangt mit der Nichtigkeitsbeschwerde, er sei
freizusprechen. Er bestreitet, dass durch sein Verhalten Menschenleben
oder fremdes Eigentum erheblich gefährdet worden sei.

Auszug aus den Erwägungen:

              Der Kassationshof zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Fahrlässige Störung des Eisenbahnverkehrs setzt nach Art. 238
Abs. 2 StGB voraus, dass die Gefährdung von Menschen oder fremden Eigentums
eine erhebliche sei.

    Erheblich ist die Gefährdung nicht bloss, wenn der Schaden bei
voller Auswirkung der Gefahr sehr gross oder ausgesprochen schwer wäre;
sie ist es auch, wenn der mögliche Schaden nicht mehr als klein oder
leicht bezeichnet werden kann. Leib und Leben von Menschen sind daher
nicht erst dann erheblich gefährdet, wenn eine schwere Körperverletzung
im Sinne von Art. 122 StGB droht. Der Ausdruck "erheblich" geht weniger
weit als das Wort "schwer"; er besagt nur, dass der Schaden von einiger
Bedeutung sein müsse. Der italienische Gesetzestext spricht zwar von
"grave pericoloso". Dass darunter aber nicht nur Fälle zu verstehen sind,
in denen schwere Körperverletzungen (lesioni gravi) im Sinne des Art. 122
zu erwarten sind, ergibt sich aus dem französischen Text, wo ebensowenig
wie im deutschen Text von schwerer Gefahr die Rede ist, sondern bloss von
"danger sérieux". Eine erhebliche Gefährdung liegt somit auch vor, wenn
nur mit einfachen Körperverletzungen gemäss Art. 123 StGB zu rechnen ist,
hievon ausgenommen diejenigen Fälle, in denen die Körperschädigung eine
leichte ist.

    Dieses Ergebnis entspricht dem Rechtszustand, wie er bereits vor
der Inkraftsetzung des Strafgesetzbuches bestanden hat. Zum Begriff der
erheblichen Gefährdung ist schon in der früheren Rechtsprechung zu Art. 67
Abs. 2 des revidierten Bundesstrafrechts, aus dem er übernommen wurde
(Sten. Bull NatR 1929 S. 441 ff.; BGE 72 IV 69), erklärt worden, er dürfe
nicht eng ausgelegt werden, und es genüge, wenn der mögliche Schaden von
gewisser Erheblichkeit sei (BGE 54 I 58, 298). Dass Gefährdungen, bei denen
bloss mittelschwere Körperverletzungen einzutreten pflegen, auch nach dem
Strafgesetzbuch genügen sollen, wird noch durch den weiten Strafrahmen des
Art. 238 Abs. 2 bekräftigt, der wahlweise Gefängnis oder Busse vorsieht.

Erwägung 2

    2.- Art. 238 erfordert wie Art. 237 StGB eine konkrete Gefährdung
(BGE 72 IV 27). Eine solche ist nicht immer ausgeschlossen, wenn trotz
scheinbar voller Auswirkung der Gefahr die Verletzung einer Person oder
die Schädigung fremden Eigentums ausbleibt. Nach der Rechtsprechung
liegt eine konkrete Gefährdung auch dann vor, wenn der Eintritt eines
schädigenden Ereignisses nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ernstlich
wahrscheinlich war, dieser Erfolg aber durch Zufall nicht eingetreten ist
(BGE 85 IV 137 und dort angeführte Urteile).

    So verhielt es sich im vorliegenden Falle. Der Beschwerdeführer
hat durch sein vorschriftswidriges Stehenbleiben auf dem Geleise, was
schon auf Grund von Art. 4 Abs. 1 und Art. 8 des Bahnpolizeigesetzes zur
Ausfällung einer Busse hätte führen können, den Führer des Tramzuges
zu einer Schnellbremsung gezwungen. Eine solche Notbremsung, die eine
Blockierung der Räder zur Folge hat, bewirkt ein brüskes, ruckweises
Anhalten, das erfahrungsgemäss dazu geeignet ist, dass Bahnpassagiere,
die nicht darauf gefasst sind, an harte vorstehende Gegenstände geworfen
werden, zu Fall kommen oder durch herabfallende Gepäckstücke einen Schlag
erhalten. Dabei liegt, wie die Erfahrung weiter lehrt, die Gefahr nahe,
dass die betroffenen Wageninsassen erhebliche Körperschäden erleiden
können (vgl. BGE 54 I 364 Erw. 2, 366; 58 I 218). Mit solchen Folgen
ist nicht nur zu rechnen, wenn aus hoher, sondern auch wenn aus mässiger
Fahrgeschwindigkeit heraus eine Schnellbremsung eingeleitet wird. Nach
einem Bericht des Eidg. Amtes für Verkehr, der in einem Urteil des
Zürcher Obergerichtes angeführt wird, kann die mit der Schnellbremsung
verbundene Unfallgefahr nicht nach der Fahrgeschwindigkeit abgegrenzt
werden; bei einer Schnellbremsung aus geringer Geschwindigkeit heraus
sei die Gefährdung der Reisenden unter Umständen sogar grösser (SJZ 1955
S. 298). Damit wird auf die auch bei Zusammenstössen von Motorfahrzeugen
festgestellte Tatsache verwiesen, dass Insassen selbst bei geringen
Geschwindigkeiten von 20-25 km/Std. einen tödlichen Schädelbruch
davontragen können, weil der Eintritt und die Art der Verletzungen
weitgehend von Zufälligkeiten abhängen, insbesondere von der Stellung,
die der Passagier einnimmt, und von der Entfernung und Beschaffenheit der
Stelle, auf der er aufprallt (BRÜDERLIN, Die Mechanik des Verkehrsunfalles
S. 88). Dass im vorliegenden Falle das Geleise feucht war und der mit 30
km/Std. fahrende Tramzug eine Anhaltestrecke von 29-31 m benötigte, beweist
noch keineswegs, dass die eingeleitete Schnellbremsung nicht wirksam
gewesen und die ihr normalerweise innewohnende erhebliche Gefährdung
der Zugsinsassen nicht eingetreten sei. Der ca. 21,67 m betragende
Bremsweg war nicht abnormal lang, und der daraus sich ergebende mittlere
Bremsverzögerungswert von rund 1,7 m/sec2 schliesst ein ruckartiges
Anhalten nicht aus. Dass die Schnellbremsung diese Wirkung tatsächlich
gehabt hat, kann daraus geschlossen werden, dass Billeteur Burkhalter das
Anhalten des Zuges als brüsk bezeichnet hat. Unter diesen Umständen muss
die Tatsache, dass trotz der Schnellbremsung und der dadurch entstandenen
erheblichen Gefährdung der Passagiere schwerere Folgen ausgeblieben sind,
dem Zufall zugeschrieben werden.

    Ist demnach der Tatbestand des Art. 238 Abs. 2 StGB objektiv erfüllt,
so kann dahingestellt bleiben, ob ausserdem wegen der Möglichkeit, dass
das Fahrrad unter die Räder des Zuges hätte geraten können, die Gefahr
einer Entgleisung des Zuges in die Nähe gerückt war.

Erwägung 3

    3.- Die Vorinstanz hat, indem sie den subjektiven Tatbestand bejahte,
an das Mass der gebotenen Vorsicht nicht zu hohe Anforderungen gestellt. Es
bedarf nicht besonderer Kenntnisse, um zu erkennen, dass es unvorsichtig
ist, mit dem Fahrrad auf dem Tramgeleise stehen zu bleiben, statt auf dem
daneben befindlichen Radfahrerstreifen eine Gelegenheit zum Überqueren
der Strasse abzuwarten. Der Beschwerdeführer hätte bedenken müssen,
dass er nachts bei sehr schlechter Sicht und bei starkem Motorenlärm das
Herannahen eines Tramzuges übersehen und überhören konnte und dass deswegen
der Zugführer bei den für diesen ebenfalls ungünstigen Sichtverhältnissen
in die Lage kommen könnte, brüsk bremsen zu müssen. Die Erfahrungstatsache
aber, dass die Passagiere eines Zuges bei einer Notbremsung regelmässig
erheblich gefährdet sind, ist so allgemein bekannt, dass auch der
Beschwerdeführer diese mögliche Folge hätte voraussehen können.

Entscheid:

Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.