Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 IV 157



87 IV 157

38. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 22. Dezember 1961
i.S. Schär gegen Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn. Regeste

    Art. 117, 237 StGB. Adäquater Kausalzusammenhang.  Vorübergehende
Reaktionsunfähigkeit, der ein Motorfahrzeugführer unmittelbar nach einer
Kollision unterliegt, ist kein Umstand, der ausserhalb normalen Geschehens
läge, auch dann nicht, wenn der Zustand nicht ausschliesslich auf die
Schreckwirkung des Zusammenstosses zurückzuführen ist.

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Schär spurte mit seinem Motorfahrzeug, das innerorts von links
kam, langsam gegen die Mitte der 5,9 m breiten Strasse zu, um den auf
der rechten Strassenhälfte mit einer Geschwindigkeit von 55-60 km/Std
sich nähernden Wagen Hilfikers durchzulassen. Dabei streiften sich die
beiden Fahrzeuge. Hilfiker verlor unter der Schockwirkung der Kollision
die Herrschaft über seinen Wagen, der zunächst ungebremst die Fahrt
fortsetzte, nach einer Strecke von 33 m zwei am rechten Strassenrand
stehende Fussgänger beinahe anfuhr und nach weitern 10-15 m einen in
der gleichen Richtung fahrenden Radfahrer von hinten zu Fall brachte und
tödlich verletzte.

    Schär und Hilfiker wurden vom Obergericht des Kantons Solothurn wegen
fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs
zu bedingt vollziehbaren Gefängnisstrafen verurteilt.

    Schär beantragt mit der Nichtigkeitsbeschwerde, er sei freizusprechen,
eventuell nur wegen Übertretung des MFG mit einer Busse zu bestrafen.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- (Ausführungen darüber, dass die Streifkollision von beiden
Motorfahrzeugführern verschuldet wurde, von Schär, weil er beim Einspuren
dem von rechts Kommenden zu wenig Beachtung schenkte und entgegen der
Vorschrift des Art. 27 Abs. 1 MFG sein Fahrzeug nicht rechtzeitig anhielt,
von Hilfiker, weil er unaufmerksam war und den Wagen Schärs erst im
letzten Augenblick sah.)

Erwägung 2

    2.- Die Streifkollision bewirkte bei Hilfiker eine Schockwirkung, die
zusammen mit der mangelnden geistigen Beweglichkeit Hilfikers zu einer
vorübergehend starken Beschränkung seiner Reaktionsfähigkeit führte,
was zur Folge hatte, dass sein Fahrzeug führerlos eine Strecke von rund
80 m zurücklegte, auf der es zwei Fussgänger ernsthaft gefährdete und
einen Radfahrer tödlich verletzte. Die pflichtwidrige Fahrweise des
Beschwerdeführers, ohne die die Streifkollision nicht eingetreten wäre,
war somit eine der natürlichen Ursachen der sich folgenden Ereignisse, für
die Schär einzustehen hat, sofern der Kausalverlauf rechtlich erheblich
war. Nach ständiger Rechtsprechung ist diese Voraussetzung immer dann
erfüllt, wenn das Verhalten des Täters nach dem gewöhnlichen Lauf der
Dinge geeignet war, einen Erfolg der eingetretenen Art herbeizuführen
(BGE 86 IV 155 mit weitern Zitaten).

    Dieser Zusammenhang besteht ohne weiteres zwischen dem Verhalten
des Beschwerdeführers und der eingetretenen Fahrzeugkollision; die von
Hilfiker zu vertretende Unaufmerksamkeit war nicht eine ausserhalb jeder
Erwartung liegende Ursache. Eine weniger alltägliche Erscheinung ist einzig
darin zu erblicken, dass der verhältnismässig leichte Zusammenstoss bei
Hilfiker einen Zustand stark beschränkter Reaktionsfähigkeit hervorrief,
der auf das Zusammentreffen der durch den unerwarteten Zusammenstoss
ausgelösten Schreckwirkung und der geistigen Unbeweglichkeit Hilfikers
zurückzuführen ist. Dass der letztere Mangel einen ungewöhnlich hohen Grad
erreicht habe, kann dem psychiatrischen Gutachten nicht entnommen werden
und ist angesichts des durch keine Vorstrafen getrübten automobilistischen
Leumundes Hilfikers auch nicht wahrscheinlich. Die Schreckwirkung aber,
der er unterstand, ist kein so aussergewöhnliches Ereignis, dass es
nach allgemeiner Lebenserfahrung schlechterdings nicht hätte erwartet
werden können. Selbst Motorfahrzeugführer mit normaler Reaktionsfähigkeit
können bei einem Zusammenstoss, insbesondere wenn er sich unversehens
ereignet, völlig den Kopf verlieren und vorübergehend ihrer Fähigkeit
zur Beherrschung des Fahrzeuges beraubt sein. Der Umstand, dass diese
Möglichkeit bei Hilfiker eintrat, lag daher nicht ausserhalb normalen
Geschehens. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer, wie er geltend
macht, die Streifkollision und die Reaktionsunfähigkeit Hilfikers mit
ihren Folgen nicht vorausgesehen hat; die rechtliche Erheblichkeit des
Kausalzusammenhanges beurteilt sich nicht nach den Vorstellungen des
Täters, sondern darnach, ob sein Verhalten nach dem gewöhnlichen Lauf
der Dinge, d.h. bei objektiver Betrachtung, den eingetretenen Erfolg
herbeizuführen geeignet war (BGE 86 IV 156/7).

    Die Verurteilung des Beschwerdeführers wegen fahrlässiger Tötung und
fahrlässiger Störung des öffentlichen Verkehrs kann infolgedessen nicht
beanstandet werden.

Entscheid:

               Demnach erkennt der Kassationshof:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen.