Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 IV 138



87 IV 138

33. Entscheid der Anklagekammer vom 1. Dezember 1961 i.S. Statthalteramt
des Bezirkes Zürich gegen Steuerverwaltung des Kantons Genf. Regeste

    Art. 352 und 357 StGB.

    1.  Bei Anständen in der Rechtshilfe bestimmen die Kantone die zu
ihrer Vertretung vor Bundesgericht zuständige Behörde (Erw. 1).

    2.  Begriff des Anstandes in der Rechtshilfe (Erw. 2 und 3).

    3.  Verweigerung der Rechtshilfe unter Berufung auf das Steuergeheimnis
(hier: Art. 347 des Genfer Steuergesetzes) (Erw. 4 und 5).

Sachverhalt

    A.- Am 3. August 1961 führte der in Genf wohnhafte Schiller in
angetrunkenem Zustand ein Motorfahrzeug durch die Stadt Zürich.
Im Verlaufe der gegen den fehlbaren Automobilisten eröffneten
Strafuntersuchung wandte sich das Statthalteramt des Bezirkes Zürich an die
Steuerverwaltung des Kantons Genf mit dem Ersuchen, ihm zur Bemessung der
Busse nach Art. 48 Ziff. 2 StGB die Einkommens- und Vermögensverhältnisse
des Beschuldigten gemäss der letzten Einschätzung mitzuteilen. Die ersuchte
Amtsstelle lehnte das Begehren unter Berufung auf ihre in Art. 347 des
Genfer Steuergesetzes (StG) statuierte Geheimhaltungspflicht ab. Im
Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich gelangte
das Statthalteramt nochmals an die genannte Steuerverwaltung, indem
es sich auf den Standpunkt stellte, die Pflicht zur Bekanntgabe der
verlangten Steuerdaten folge aus Art. 63 in Verbindung mit Art. 352 StGB
und gehe daher den Bestimmungen des kantonalen Rechtes vor. Die Genfer
Steuerverwaltung lehnte indessen das Gesuch erneut ab.

    B.- Mit Eingabe vom 6. Oktober 1961 ersucht das Statthalteramt
des Bezirkes Zürich gestützt auf Art. 357 StGB die Anklagekammer des
Bundesgerichtes, die zuständige Genfer Behörde zur Herausgabe des
angeforderten Steuerausweises anzuhalten.

    C.- Der Staatsrat des Kantons Genf beantragt Abweisung des Gesuches.

Auszug aus den Erwägungen:

              Die Anklagekammer zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Der Staatsrat des Kantons Genf bezweifelt in seiner Vernehmlassung,
dass das Statthalteramt des Bezirkes Zürich legitimiert sei, gemäss
Art. 357 StGB das Bundesgericht anzurufen.

    Bei Anständen zwischen Kantonen im Sinne dieser Bestimmung ist es
Sache der Kantone selber, die zu ihrer Vertretung vor Bundesgericht
zuständige Behörde zu bezeichnen. Die Anklagekammer hat sich damit nicht
zu befassen. Im allgemeinen werden Anstände der vorliegenden Art beim
Bundesgericht durch diejenige Behörde anhängig gemacht, deren Begehren
vom andern Kanton abgewiesen wurde (BGE 70 IV 191, 73 IV 139). Es besteht
daher kein Anlass, die Legitimation des Statthalteramtes zur Anrufung
der Anklagekammer zu verneinen, zumal die Staatsanwaltschaft des Kantons
Zürich seine Auffassung in der Sache selbst teilt.

Erwägung 2

    2.- In einem Anstand des Kantonsgerichtes von Graubünden mit der
Steuerverwaltung des Kantons Genf, der die Bekanntgabe der Einkommens- und
Steuerverhältnisse eines der Vernachlässigung von Unterstützungspflichten
beschuldigten Täters betraf, sprach sich die Anklagekammer dahin
aus, dass das Rechtshilfegesuch an den Generalprokurator oder an den
Untersuchungsrichter von Genf hätte gerichtet werden müssen und dass nur
bei Abweisung des Begehrens durch diese Straforgane und Bestätigung ihres
Entscheides durch die kantonale Rekursinstanz ein Anstand vorläge, der
vor Bundesgericht gebracht werden könne (Urteil vom 13. September 1946).

    Der Staatsrat des Kantons Genf beruft sich im vorliegenden Fall
nicht auf diese damals vom Generalprokurator vertretene und von der
Anklagekammer übernommene Auffassung und bestreitet nicht die Zuständigkeit
der kantonalen Steuerverwaltung zur unmittelbaren Entgegennahme von
Rechtshilfebegehren gemäss Art. 353 Abs. 1 StGB. Auch hat sich die genannte
Verwaltung nach Eingang des Gesuches des Statthalteramtes selber nicht
für unzuständig erklärt, sondern auf die Sache eingelassen. Im übrigen
liegt nach der Rechtsprechung eine staatsrechtliche Streitigkeit zwischen
Kantonen - und Anstände in der Rechtshilfe zählen zu den Konflikten
des Art. 83 lit. b OG (BIRCHMEIER, Bundesrechtspflege, S. 300) -
dann vor, wenn der eine der beiden Kantone ein bestimmtes Begehren des
andern Kantons abschlägig beschieden hat (BGE 35 I 664). Da die Genfer
Steuerverwaltung das Gesuch des Statthalteramtes kategorisch abgewiesen
hat und der Staatsrat des Kantons Genf in seiner Vernehmlassung vom
14. November 1961 die ihm untergeordnete Verwaltungsstelle in vollem
Umfang schützt, kommt im Endergebnis nichts darauf an, ob das Gesuch
an die Justizbehörden (Generalprokurator, Untersuchungsrichter) oder
unmittelbar an die Steuerverwaltung gerichtet wurde. Denn auch im
ersteren Falle wäre es zu einem abschlägigen Bescheid des Staatsrates
gekommen. Vorausgesetzt, dass es sich um einen Anstand in der Rechtshilfe
(Art. 357 StGB) handelt, besteht somit zwischen den beteiligten Kantonen
ein Streit, der vom Statthalteramt vor die Anklagekammer des Bundesgerichts
gebracht werden konnte.

Erwägung 3

    3.- In Strafsachen, auf die das StGB oder ein anderes Bundesgesetz
Anwendung findet, sind die Kantone unter sich zur Rechtshilfe verpflichtet
(Art. 352 StGB). Rechtshilfe im Sinne dieser Bestimmung ist jede
Massnahme, um die eine Behörde im Rahmen ihrer Zuständigkeit in einer
hängigen Strafverfolgung für die Zwecke dieser Verfolgung oder der
Vollstreckung des Urteils ersucht wird (BGE 79 IV 182, 86 IV 228). Da
Schiller in Zürich ein Verstoss gegen Art. 59 MFG zur Last gelegt wird,
ist er Beschuldigter in einer Strafsache eidgenössischen Rechtes. Das
Statthalteramt des Bezirkes Zürich glaubt überdies zur Bemessung der
Strafe nach Art. 48 Ziff. 2 StGB amtliche Auskünfte über die Einkommens-
und Vermögensverhältnisse des Täters zu benötigen, die ihm nur durch die
Genfer Steuerverwaltung vermittelt werden können (vgl. BGE 73 IV 140). Es
handelt sich somit bei der ersuchten Massnahme um einen Akt der Rechtshilfe
im Sinne von Art. 352 StGB.

Erwägung 4

    4.- Damit ist indessen nicht gesagt, dass die Genfer Behörden auch
verpflichtet waren, dem Gesuch des Statthalteramtes Folge zu geben. Das
Gebot des Art. 352 StGB ist kein absolutes im Sinne einer unbeschränkten
Offenbarungspflicht des ersuchten Kantons. Wie die Anklagekammer in BGE
71 IV 174 entschieden hat, bestimmt sich nach dem Prozessrecht des zur
Rechtshilfe verpflichteten Kantons, welche Handlungen der ersuchende
Kanton verlangen darf und in welcher Form sie vorzunehmen sind. Durch
die Anwendung dieses Prozessrechtes darf allerdings die Hilfe nicht
derart beschränkt werden, dass sie dem bundesrechtlichen Begriff der
Rechtshilfe, wie Art. 352 StGB sie auffasst, nicht mehr entspricht. Das
ist im vorliegenden Fall nicht geschehen.

    a) Zwar stellt Art. 347 des Genfer StG der bundesrechtlichen
Rechtshilfe eine Schranke entgegen; er verpflichtet die Beamten der
kantonalen Steuerverwaltung zur strikten Geheimhaltung (secret absolu)
aller ihnen in ihrer amtlichen Tätigkeit zur Kenntnis gelangten Tatsachen,
mit der unzweifelhaft verfahrensrechtlichen Folge, dass sie die Bekanntgabe
solcher Tatsachen insbesondere auch gegenüber Strafbehörden anderer Kantone
verweigern können, und zwar nicht nur dann, wenn sie als Zeugen vorgeladen
sind, sondern auch, wenn sie im Wege der Rechtshilfe darum angegangen
werden. Dass darin nicht an sich schon eine unzulässige Beschränkung
der Rechtshilfe gemäss Art. 352 StGB liegt, erhellt ohne weiteres aus
der Tatsache, dass der Bund selber seine Beamten und insbesondere seine
Steuerbeamten der Schweigepflicht unterwirft (Art. 27 Beamtengesetz,
Art. 71 WStB), die Verletzung des Amtsgeheimnisses allgemein unter
Strafe stellt (Art. 320 StGB) und überdies in Art. 78 BStP verbietet,
Beamte ohne Zustimmung ihrer vorgesetzten Behörde über Amtsgeheimnisse als
Zeugen einzuvernehmen. Der Umstand, dass die letztgenannte Bestimmung "im
übrigen" ausdrücklich auch das kantonale Verwaltungsrecht für massgebend
bezeichnet, macht deutlich, dass es der Bundesgesetzgeber - gegenteilige
Sondervorschriften vorbehalten (z.B. Art. 90 WStB) - grundsätzlich
den Kantonen anheimstellte, zu bestimmen, wann und in welchem Umfang
sie ihre eigenen Beamten zur Geheimhaltung verpflichten wollen. Macht
ein Kanton von dieser Befugnis Gebrauch, so gelten seine Vorschriften
auch für den Rechtshilfeverkehr, es sei denn die Hilfe werde dadurch,
wie bereits bemerkt, in einem mit den Zweckgedanken des Art. 352 StGB
unvereinbaren Masse eingeschränkt. Aus solchem Grunde mit Art. 352 StGB
unvereinbar wäre eine Vorschrift, die bloss für die Rechtshilfe, nicht
aber auch für das innerkantonale Strafverfahren Geltung hätte oder von
den kantonalen Behörden regelmässig anders angewendet würde, je nachdem
es sich um Handlungen der Rechtshilfe oder des eigenen Verfahrensrechtes
handelte (BGE 71 IV 174).

    Art. 347 des Genfer StG gilt, was auch das Statthalteramt nicht
bestreitet, gleicherweise für den Bereich der Rechtshilfe wie für das
innerkantonale Verfahren und wurde vom Staatsrat des Kantons Genf, wie in
der Vernehmlassung glaubhaft dargetan wird, gegenüber privaten Dritten als
auch gegenüber Verwaltungs- und Gerichtsbehörden des eigenen wie anderer
Kantone in der Regel im Sinne einer Verweigerung von Auskünften angewendet.

    b) Stellt demnach die Bestimmung von Art. 347 des Genfer StG nach
Inhalt, Geltungsbereich und bisheriger Handhabung durch die Genfer
Behörden keine unzulässige Beschränkung des bundesrechtlichen Begriffs
der Rechtshilfe dar, so kann sich bloss noch fragen, ob die Berufung
auf Art. 347 StG nicht doch im vorliegenden Falle gegen Art. 352 StGB
verstosse. Das träfe zu, wenn die Tatsachen, deren Bekanntgabe das
Statthalteramt des Bezirkes Zürich verlangt hatte, zu Unrecht als im
Sinne von Art. 347 StG geheim bezeichnet worden wären.

    Das Statthalteramt des Bezirkes Zürich ersuchte die Genfer
Steuerverwaltung um Mitteilung der Vermögens- und Einkommensverhältnisse
des Beschuldigten Schiller gemäss der letzten Einschätzung durch die Genfer
Steuerbehörden. Damit verlangte es Auskunft über Tatsachen, die nach
dem in Art. 347 StG umschriebenen Rahmen der amtlichen Schweigepflicht
(... renseignement porté à sa connaissance sur une déclaration, un
rôle de contribuable, une pièce annexe fournie par le contribuable ou
sur la situation de son compte d'impôts...) unzweifelhaft als geheim
zu betrachten sind und somit von den Genfer Behörden zu Recht dem
Steuergeheimnis unterstellt wurden.

Erwägung 5

    5.- Die Frage, ob der Staatsrat von Genf nach der Interessenlage des
vorliegenden Falles die ihm untergeordneten Steuerorgane zur Bekanntgabe
der nachgesuchten Tatsachen hätte ermächtigen sollen, stellt sich für
die Anklagekammer des Bundesgerichtes nicht. Der Entscheid darüber,
ob es nach den Umständen des Einzelfalles zweckmässig sei, den Beamten
von seiner Geheimhaltungspflicht zu entbinden, liegt einzig bei der
diesem vorgesetzten Behörde, die über die Gründe ihrer Zustimmung
oder Verweigerung nicht Rechenschaft abzulegen hat. Im Falle der
Zeugnisverweigerung durch einen Beamten kann der Richter zwar prüfen, ob
die Tatsache, zu deren Bekanntgabe der Beamte als Zeuge aufgefordert wird,
wirklich geheim sei. Er ist dagegen nicht befugt, auch zu untersuchen,
ob es von der dem Beamten vorgesetzten Behörde zweckmässig war, die
Ermächtigung zur Aussage zu verweigern. Vielmehr ist er an die Würdigung
der sich widerstreitenden Interessen durch jene Behörde gebunden,
was übrigens auch aus Art. 78 BStP hervorgeht. Weshalb es sich aber
diesbezüglich in Sachen der Rechtshilfe anders verhalten sollte, ist
nicht einzusehen.

Erwägung 6

    6.- Dem Begehren des Statthalteramtes, es sei die Genfer
Steuerverwaltung zu verpflichten, die Steuerveranlagung Schillers
bekanntzugeben, kann nach dem Gesagten nicht entsprochen werden. Es
ist indessen den Zürcher Behörden unbenommen, wenn nötig, an den
Generalprokurator oder den Untersuchungsrichter von Genf zu gelangen
mit dem Ersuchen, die finanziellen Verhältnisse des Beschuldigten auf
anderem Wege, etwa beim Arbeitgeber und anderen dazu geeigneten Stellen
noch näher abzuklären.

Entscheid:

Demnach erkennt die Anklagekammer:

    Das Gesuch wird abgewiesen.