Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 IV 1



87 IV 1

1. Auszug aus dem Urteil des Kassationshofes vom 3. Februar 1961
i.S. Generalprokurator des Kantons Bern gegen Schlumpf. Regeste

    Art. 42 StGB; Verwahrung, Anrechnung der verbüssten Strafe bzw.
der Untersuchungshaft auf die Mindestdauer.

    1.  Ist die Verwahrung ausgeschlossen, wenn die Freiheitsstrafe,
an deren Stelle sie treten würde, bereits verbüsst ist (Erw. 2)?

    2.  Kann die verbüsste Strafzeit bzw. die Untersuchungshaft auf
die dreijährige Mindestdauer gemäss Ziff. 5 Satz 1 angerechnet werden
(Erw. 3)?

Sachverhalt

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Das Obergericht nimmt an, die Verwahrung sei ausgeschlossen,
weil der Beschwerdegegner die Strafe bereits verbüsst hat; in einem
solchen Falle hätte die Anordnung der Massnahme des Art. 42 StGB eine
Kumulation von Verwahrung und Strafe zur Folge, was unzulässig sei,
da nach dem Gesetz die Verwahrung an die Stelle der Freiheitsstrafe trete.

    Diese Auffassung geht fehl. Nach dem Wortlaut des Gesetzes tritt die
Verwahrung an die Stelle der ausgesprochenen Freiheitsstrafe. Dass sie noch
vollziehbar, d.h. weder verbüsst noch durch Untersuchungshaft getilgt sei,
verlangt Art. 42 somit nicht. Die gegenteilige Annahme entspricht aber auch
nicht dem Zweck der Massnahme. Die Verwahrung wird nicht angeordnet, um dem
Verurteilten den Strafvollzug zu ersparen, sondern weil bei ihm, nachdem
er trotz der Verbüssung zahlreicher Freiheitsstrafen erneut rückfällig
geworden ist, offensichtlich die Strafe nichts nützt. Daher soll die
Gesellschaft vor ihm geschützt werden, und zwar nicht bloss für wenige
Tage, Wochen oder Monate, wie das bei Verbüssung einer Freiheitsstrafe
von dieser Dauer der Fall wäre, sondern auf mindestens drei Jahre. Dieses
Bedürfnis entfällt nicht dadurch, dass der Verurteilte, von dem nach
seinem Vorleben angenommen werden muss, es sei gegen seine Neigung
zu Verbrechen oder Vergehen nicht aufzukommen, eine Freiheitsstrafe
von einigen Tagen, Wochen oder Monaten verbüsst hat oder solange in
Untersuchungshaft war. Es fehlt daher ein sachlicher Grund, in einem
solchen Falle bloss wegen der durch die Strafverbüssung oder durch die
Untersuchungshaft geleisteten Sühne von der zum Schutze der Gesellschaft
nach wie vor gebotenen Sicherungsmassnahme abzusehen. Weil die Verwahrung
einem andern Zwecke dient als die Sühne, kann diese der Anordnung der
Massnahme nicht im Wege stehen.

    Wie in BGE 69 IV 53 ausgeführt wurde, kann die Wendung, die Verwahrung
trete an die Stelle der ausgesprochenen Strafe, daher nur bedeuten, dass
im Falle der Anordnung der Verwahrung lediglich diese, nicht - wie andere
Rechtsordnungen es vorgesehen haben - auch die Strafe vollzogen werde. In
diesem Sinne ersetzt sie den Vollzug der Strafe. Daraus ergibt sich aber
nicht, dass die Verwahrung unzulässig sei, wenn die Strafe bereits getilgt
ist. Das hiesse, um der geleisteten Sühne willen auf die im öffentlichen
Interesse gebotene Sicherung verzichten. Das will das Gesetz, weil mit
der Massnahme ein wesentlich anderer Zweck verfolgt wird als mit der
Strafe, nicht (BGE 69 IV 52 f. und für den Fall der Einweisung in eine
Arbeitserziehungsanstalt gemäss Art. 43 StGB: 73 IV 10 f.). Es kann sich
bei der Verwahrung nach Art. 42 StGB nicht anders verhalten als in Fällen
der Verwahrung, Versorgung oder Behandlung gemäss Art. 14 und 15 StGB,
wo auf der Hand liegt, dass die Tilgung der Strafe die Anordnung der
Massnahme nicht ausschliesst, ist diese doch sogar zulässig, wenn der
Täter wegen Unzurechnungsfähigkeit freigesprochen wird.

Erwägung 3

    3.- a) Hingegen stellt sich die Frage, ob im Falle der Verwahrung
nach Art. 42 StGB der Umstand, dass der Verurteilte die Freiheitsstrafe
bereits ganz oder teilweise verbüsst hat, nicht insofern zu berücksichtigen
sei, als die verbüsste Strafzeit von der dreijährigen Mindestdauer der
Massnahme (Art. 42 Ziff. 5 Satz 1) in Abzug gebracht wird. Das Gesetz
sagt hierüber nichts. Vor allem nimmt Art. 42 StGB im Zusammenhang
mit der Festsetzung der Mindestdauer der Verwahrung in keiner Weise
Bezug auf die Möglichkeit, dass die Strafe verbüsst wird, bevor der
Vollzug der Massnahme einsetzt. Art. 69 StGB sodann regelt einen andern
Sachverhalt, nämlich die Anrechnung von Untersuchungshaft. Das ergibt sich
nicht bloss aus dem Randtitel und dem klaren Wortlaut der Bestimmung,
sondern auch aus ihrem Inhalt, indem wohl die Untersuchungshaft, nicht
aber die Strafverbüssung durch das Verhalten nach der Tat herbeigeführt
werden kann. Dementsprechend wurde in der Beratung ausdrücklich darauf
hingewiesen, dass Art. 69 nur für die Anrechnung der Untersuchungshaft
auf die Strafe gelten solle (Sten. Bull. Sonderausgabe, NatR 212, 214),
was übrigens auch die Einreihung der Vorschrift im Gesetz, im Abschnitt
"Strafzumessung", zum Ausdruck gebracht hat.

    Angesichts des eindeutigen Willens des Gesetzgebers, der durch Art. 69
StGB lediglich die Anrechnung der Untersuchungshaft auf die Strafe regeln
wollte, ginge es auch über den Rahmen sinngemässer Auslegung des Gesetzes
hinaus, wenn man anhand der in dieser Bestimmung aufgestellten Grundsätze
auch die Frage der Anrechnung einer verbüssten Strafe auf die Massnahme
des Art. 42 StGB entscheiden wollte. Kann aber dem Gesetz nach Wortlaut
und Auslegung keine Vorschrift entnommen werden, die diesen Fall erfasst,
so liegt eine Lücke vor, die vom Richter durch eigene Rechtsfindung zu
überbrücken ist. Dieser stände Art. 1 StGB bloss dann im Wege, wenn sich
ihr Ergebnis für den Verurteilten belastend auswirken würde (vgl. BGE
70 IV 26; ferner GERMANN, Kommentar zum StGB, N. 123 zu Art. 1 und dort
angeführte Lehre und Rechtsprechung), was jedoch nicht der Fall ist,
wenn die aufzustellende Norm die Anrechnung der verbüssten Strafe auf
die dreijährige Mindestdauer der Verwahrung erlaubt.

    Eine dahingehende Regel drängt sich in der Tat auf. Die Verwahrung
bezweckt, wie bereits oben in Erw. 1 und 2 ausgeführt wurde, in erster
Linie die Sicherung der Öffentlichkeit vor unverbesserlichen und sozial
gefährlichen Rechtsbrechern. Darüber hinaus soll nebenbei mit der Massnahme
auch eine erzieherische Beeinflussung des Verwahrten angestrebt werden
(BGE 84 IV 148). Die Gesellschaft ist aber vor dem Verurteilten, während
er eine Freiheitsstrafe verbüsst, nicht minder gesichert als wenn er
im Sinne von Art. 42 StGB verwahrt ist. Ebenso ist die Möglichkeit der
Besserungseinwirkung während der Strafverbüssung mindestens so gross
wie während dem Vollzug der Massnahme. Werden demnach aber die mit der
Verwahrung verfolgten Zwecke auch durch die Strafverbüssung gewährleistet,
so wäre es unbillig, wenn die verbüsste Strafzeit von der dreijährigen
Mindestdauer der Verwahrung nicht in Abzug gebracht werden könnte. Diese
Anrechnung rechtfertigt sich umsomehr, als sich der Vollzug der Verwahrung
in verschiedener Hinsicht nicht stark von demjenigen einer Gefängnis-
oder Zuchthausstrafe unterscheidet (vgl. THORMANN/OVERBECK, N. 5 ff. zu
Art. 42). Die Verwahrung kann in einer Abteilung eines Zuchthauses
oder eines Gefängnisses vollzogen werden, der Verwahrte trägt - wie
das auch für den Strafgefangenen gilt - besondere Anstaltskleidung,
erhält Anstaltskost, wird zur Arbeit angehalten und bringt in der Regel
die Nachtzeit in Einzelhaft zu. Auch sein Recht, Besuche zu empfangen,
und der Briefverkehr sind in ähnlicher Weise eingeschränkt wie bei den
Strafgefangenen. Bestehen aber im Vollzug nicht erhebliche Unterschiede und
werden die mit der Verwahrung verfolgten Zwecke auch mit dem Vollzug einer
Freiheitsstrafe erreicht, so liefe es auf eine durch keine sachlichen
Gründe gerechtfertigte Härte hinaus, wenn der Verurteilte, der nach
Art. 42 StGB verwahrt wird, auch dann mindestens drei Jahre in der
Verwahrung bleiben müsste, wenn er vor dem Vollzug der Massnahme bereits
die Freiheitsstrafe verbüsst hat, an deren Stelle die Massnahme tritt.

    b) Ist die verbüsste Strafe auf die Mindestdauer der Verwahrung
anzurechnen, so kann auch die Anrechnung der Untersuchungshaft, soweit
der Täter sie nicht durch sein Verhalten nach der Tat herbeigeführt oder
verlängert hat, auf die dreijährige Frist des Art. 42 Ziff. 5 Satz 1 StGB
nicht versagt werden. Der Hauptgrund für die Anrechnung der verbüssten
Strafzeit auf die dreijährige Mindestdauer der Verwahrung, nämlich dass
die bei der Massnahme im Vordergrund stehende Sicherung der Gesellschaft
während der Strafverbüssung ebensogut gewährleistet ist wie während dem
Vollzug der Massnahme, trifft sinngemäss auch bei der Untersuchungshaft
zu; auch durch sie wird der Sicherungszweck erreicht. Anderseits
bietet die Untersuchungshaft freilich nicht die gleiche Möglichkeit zur
Besserungseinwirkung wie die Verwahrung und der Strafvollzug. Allein dieser
Zweck ist bei der Verwahrung von Gewohnheitsverbrechern, anders als bei
den Massnahmen der Art. 43 ff. StGB (vgl. hinsichtlich der Einweisung in
eine Arbeitserziehungsanstalt insbesondere BGE 73 IV 10 f.), von derart
untergeordneter Bedeutung (BGE 84 IV 148), dass es unbillig wäre, bloss
weil während der Untersuchungshaft die Möglichkeit der erzieherischen
Beeinflussung geringer ist als während des Strafvollzuges, die Anrechnung
auf die Mindestdauer der Verwahrung für die verbüsste Strafzeit zuzulassen,
für die Untersuchungshaft dagegen auszuschliessen. Wäre sie für diese
unzulässig, so würde das übrigens darauf hinauslaufen, jene Verwahrten,
die nach dem Recht des sie verfolgenden Kantons die Strafe nicht vorzeitig
antreten konnten und deshalb in Sicherheitshaft bleiben mussten, gegenüber
den andern, denen diese Möglichkeit offenstand und die vom vorzeitigen
Strafantritt Gebrauch machten, zu benachteiligen: sie hätten unbekümmert
um die erlittene Untersuchungshaft und deren Dauer mindestens drei Jahre
in der Verwahrung zu bleiben, während die letzteren durch den vorzeitigen
Strafantritt eine Verkürzung der Mindestdauer des Art. 42 Ziff. 5 Satz
1 StGB um die verbüsste Strafzeit und damit unter Umständen eine ganz
erhebliche Abkürzung der Freiheitsentziehung erwirken könnten.

    Gründe der Billigkeit, die übrigens auch der Regelung des
Art. 69 StGB zugrunde liegen, gebieten daher, die Untersuchungshaft,
soweit sie nach Art. 69 StGB auf die Strafe angerechnet werden kann,
gleichfalls von der dreijährigen Mindestdauer der Verwahrung in Abzug zu
bringen. Das entspricht nicht nur der Praxis des Bundesrates als oberster
Aufsichtsbehörde und Beschwerdeinstanz in Sachen des Strafvollzuges
(vgl. KURT, ZStR 1954, S. 80 ff.), der sich zahlreiche kantonale
Strafvollzugsbehörden angeschlossen haben, sondern auch der Regelung,
die Art. 42 Abs. 2 des Entwurfes zur Revision des StGB (in der Fassung
der Expertenkommission) vorsieht.