Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 87 II 85



87 II 85

13. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 4. April 1961
i.S. Guhl gegen Zehnder. Regeste

    Grunddienstbarkeit; Auslegung (Art. 738 ZGB).  "Ungehindertes
und unbeschränktes Fuss- und Fahrwegrecht"; Benützung des Weges mit
Motorfahrzeugen?

Sachverhalt

                       Aus dem Tatbestand:

    Zwischen den Gebäuden auf den Parzellen Nr. 314 und 604 in Steckborn
besteht ein von der Seestrasse (Südosten) aus durch ein Tor zugänglicher
Hofraum, der zum kleinern Teil zur Parzelle Nr. 314, zum grössern Teil zur
Parzelle Nr. 604 gehört und nordwestlich an die Parzelle Nr. 313 I grenzt.
Ein am 1. Juli 1929 abgeschlossener Grunddienstbarkeitsvertrag bestimmt,
dass die jeweiligen Eigentümer der Parzellen Nr. 314 und 604 dem jeweiligen
Eigentümer der Parzelle Nr. 313 I ein "ungehindertes und unbeschränktes
Fuss- und Fahrwegrecht" über den erwähnten Hofraum "von und zur Seestrasse"
gewähren. Dieses Wegrecht ist im Grundbuch eingetragen.

    Nachdem der Eigentümer der Parzelle Nr. 313 I, Heinrich Guhl, Ende
1957 einen ehemaligen Werkstattraum in zwei Garagen für je ein Automobil
umgewandelt hatte, verbot ihm der Eigentümer der Parzelle Nr. 604, Franz
Zehnder, über sein Grundstück zu den Garagen zu fahren. Im Prozess,
den Guhl hierauf gegen Zehnder einleitete, stellte das Obergericht des
Kantons Thurgau mit Urteil vom 13. September 1960 fest, das Wegrecht
gestatte ein Befahren des Hofraums mit Motorfahrzeugen nur für vereinzelte
Zubringerdienste und gelegentliche Fahrten zu Besuchszwecken, nicht
dagegen für die zur Benützung der Garagen erforderlichen Fahrten.

    Das Bundesgericht weist die Berufung des Klägers gegen dieses
Urteil ab.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- In der Sache selbst behauptet der Kläger, die Vorinstanz habe sich
über den klaren Sinn des nach Art. 738 ZGB in erster Linie massgebenden
Grundbucheintrags hinweggesetzt. Ferner habe sie bei der Auslegung des
Errichtungsvertrags die Umstände, unter denen er abgeschlossen wurde, nicht
gehörig berücksichtigt, aus der Art der Ausübung der Dienstbarkeit, die
nur subsidiär in Betracht komme, falsche Schlüsse gezogen und ausserdem zu
Unrecht angenommen, die beabsichtigte Wegbenützung verursache dem Beklagten
eine ihm nach Art. 739 ZGB nicht zuzumutende Mehrrbelastung. Diese Rügen
sind unbegründet.

    a) Im Grundbuch (Hauptbuch) ist die streitige Dienstbarkeit, wie
aus der Wiedergabe des Eintrags in dem vom Kläger selber vorgelegten
Kauf- bezw. Abtretungsvertrag von 1944 (Klagebeilage 24) hervorgeht,
entsprechend der Vorschrift von Art. 35 Abs. 2 GBV nur stichwortartig
als "Fuss- und Fahrwegrecht" zulasten der Parzellen Nr. 314 und 604
eingetragen. Diesem Eintrag lässt sich nicht entnehmen, wieweit das
Wegrecht mit Motorfahrzeugen ausgeübt werden darf.

    b) Die Antwort auf diese Frage ergibt sich entgegen der Ansicht
des Klägers auch nicht daraus, dass der Errichtungsvertrag von einem
"ungehinderten und unbeschränkten" Fuss- und Fahrwegrecht spricht. Diese
häufig verwendete Bezeichnung ist an und für sich nichtssagend (vgl. K.
NAEGELI, Die Auslegung der Grunddienstbarkeiten, 1935, S. 15/16;
R. ZÜRCHER, Die Wegrechte des schweiz. Privatrechts, 1947, S. 32/33); denn
praktisch wird kaum je ein Grundeigentümer einem Nachbarn ein wirklich
unbeschränktes und ungehindertes Wegrecht einräumen wollen. Würde diese
Bezeichnung wörtlich aufgefasst, so könnte der Kläger das Wegrecht z.B. für
den Betrieb eines auf seiner Liegenschaft errichteten Autosilos oder einer
Reparaturwerkstätte für schwere Baumaschinen in Anspruch nehmen. Eine
Auslegung, die zu einem derartigen, mit Treu und Glauben offensichtlich
unvereinbaren Ergebnis führt, kann nicht richtig sein.

    c) Bei dieser Sachlage blieb der Vorinstanz nichts anderes übrig,
als den nähern Inhalt des Wegrechts anhand der objektiven Verhältnisse
und namentlich der Art zu bestimmen, wie es während längerer Zeit
unangefochten und in gutem Glauben ausgeübt worden ist (Art. 738 Abs. 2
ZGB). Nach ihren tatsächlichen Feststellungen, die gemäss Art. 63
Abs. 2 OG für das Bundesgericht verbindlich sind, ist die Weganlage
(enge Ein- und Durchfahrt, Abschluss des Hofraums durch ein nur mühsam
zu öffnendes Tor, Fehlen eines Belags) für eine regelmässige Benützung
mit Motorfahrzeugen ungeeignet und bestand die Ausübung des Wegrechts,
soweit dazu Motorfahrzeuge verwendet wurden, von der Begründung der
Dienstbarkeit im Jahre 1929 bis zum Bau der Garagen im Jahre 1957, also
während 28 Jahren, nur in Zubringerdiensten wie Lieferung von Holz und
Kohlen und in vereinzelten Besuchen. Die Vorinstanz hat also mit Recht
angenommen, das Wegrecht sei nur zu solchen Zwecken errichtet worden.

    d) Im Vergleich zu einer Benützung des Wegs in diesem Rahmen erweist
sich die regelmässige, wohl täglich mehrmalige Befahrung des Hofraums, wie
sie im Zusammenhang mit der Verwendung der beiden Garagen unzweifelhaft
beabsichtigt ist, ohne weiteres als eine Mehrbelastung, zumal da die
in den Garagen eingestellten Wagen unmittelbar dem Hause des Beklagten
entlang fahren müssten, was bei täglichen Zufahrten nicht mehr eine bloss
untergeordnete Störung bedeuten würde, und da der nicht mit einem Belag
versehene Hofraum durch häufiges Befahren beschädigt würde, woraus dem
Beklagten vermehrte Unterhaltskosten entstünden.

    Der Kläger ist freilich der Meinung, eine Mehrrbelastung im Sinne des
Gesetzes liege deswegen nicht vor, weil der Eigentümer des belasteten
Grundstücks sich einer "voraussehbaren Ausdehnung der Servitut" nicht
entziehen dürfe. Im Jahre 1929, von dem aus die Frage der Voraussehbarkeit
zu beurteilen ist, war jedoch eine derart überbordende Entwicklung des
Motorfahrzeugverkehrs, wie sie in den letzten Jahren eingetreten ist,
nicht vorauszusehen. Der Kläger wagt denn auch selber nicht, die auf S. 23
der Berufungsschrift mit der Erwägung der Voraussehbarkeit begonnene
Argumentation zu Ende zu führen, sondern beruft sich auf S. 24 darauf,
dass in der "heutigen Zeit" die Erstellung zweier Garagen in einem für drei
Familien eingerichteten Hause nichts Aussergewöhnliches sei. Dies stimmt
zwar, ist aber für die Beurteilung des vorliegenden Falles belanglos. Auch
wenn die Änderung der Bedürfnisse des berechtigten Grundstücks allgemeinen
neuen Lebensgewohnheiten entspricht, so dürfen die neuen Bedürfnisse nach
Art. 739 ZGB gleichwohl nicht auf Kosten des Eigentümers des belasteten
Grundstücks befriedigt werden, wenn nicht angenommen werden kann, bei
Errichtung der Dienstbarkeit sei bereits mit einer solchen Änderung
gerechnet worden.

    Die Vorinstanz hat also zu Recht entschieden, der Beklagte brauche
sich die vom Kläger beabsichtigte künftige Benützung seines Grundstücks
nicht gefallen zu lassen.